Megrendelés

Gábor Máthé: Souveränität - Rechtsstaat* (Annales, 2013., 95-113. o.)

I. Europäische Gleichgewichtspolitik

Die Fachliteratur der Volkswirtschaft, des Rechts und der Verwaltung sind sich über die Formel von Nietzsche einig, gemäß der die Zeit für Europa reif sei, aber Europa für die Zeit nicht.

Die grundlegenden Kategorien unserer heutigen Zeit, unter anderen auch die im Titel genannten Souveränität und Rechtsstaat, erfuhren in den vergangenen zwei Jahrhunderten einen erheblichen inhaltlichen Wandel. Glauben wir am Meisterwerk des konstruktiven Geistes auf dem Gebiet des Völkerrechts, so müssen wir die These akzeptieren, dass Europa im 19. Jh. ein System von gleichgewichtigen Staaten war. Dieser Zustand wurde durch die Friedensverhandlungen vorbereitet, deren Hauptperson Charles-Maurice de Talleyrand war. Er bestätigte schon in seinen 1891 veröffentlichten Memoiren durch die Definition des Machtmissbrauchs und der Legitimität sowie durch die Legitimationsprinzipien bezüglich der Zusprechung und der Übergabe der Macht - abgeleitet im Abendland entweder von der Vererbung oder vom Wahlprinzip - eindeutig die nachstehende, heute bereits triviale These: "Eine Regierung ist legitim, wenn sie die Macht gemäß einem Legitimationsprinzip bekommt und auf eine Art und Weise ausübt, die von den Unterworfenen - aber wenigstens von ihrer Mehrheit - akzeptiert wird, und diejenigen, die zu befehlen haben, sie in Ehren halten".[1] Die essayartigen Darlegungen der Memoiren zeigen für die Zukunft alles, was den Schlüssel des Abendlandes von der französischen Revolution bis zu unseren heutigen Tagen darstellt. Die Art der Machtausübung dient nämlich dem Schutz der Nationen. Sei aber die Macht noch so legitim, haben sich die Machthaber ihrer Zeit anzupas-

- 95/96 -

sen. Und die Zeit verlangt, dass die Ausübung der obersten Macht in den Spitzenländern der Zivilisation durch Vermittlung von aus der Mitte der Regierten gewählten Gremien erfolgen soll. Dazu bedarf es aber Sicherheiten, wie die Unverletzlichkeit der persönlichen Freiheit, Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Rechtsprechung, Rechtsprechung in gewissen Fällen bei der Verwaltung, Verantwortung der Minister, in Beratungsgremien sollen nur verantwortliche Personen tätig sein, etc.

Das war das Kernstück der Theorie von Talleyrand, also das Unterpfand für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Rechts, des Friedens und der Ordnung, das heißt, die Legitimität der Macht.

Deshalb konnte der Professor der Universität zu Gent in seiner zitierten Monographie zum Thema schreiben, dass alles, was sich seit 1789 ereignete, nichts anderes war, als ein großes, erfolgreiches Abenteuer, das schließlich in die große Angst, in die Kriege des 20. Jahrhunderts mündete. Der deutsche Zeitschriftenverleger, Theo Sommer stellte bei Bewertung dieses Abenteuers fest, dass der Zweite Weltkrieg einen 500 Jahre langen Zeitabschnitt abgeschlossen habe, in dem das Schicksal der ganzen Welt in Europa entschieden wurde. Seitdem sei Europa kein Akteur der Weltgeschichte mehr, sondern lediglich ein regionaler Faktor.

Mit der amerikanischen Grand Strategy gegen Ende des 20. Jh. hörte die zweipolige Welt auf zu existieren - das Unterpfand für den Wohlstand ist der Westen. Das wirkliche Dilemma des Europa auf dem Weg zur Einheit besteht in der Garantie der persönlichen Freiheit, in der Souveränität der aus dem Ostblock ausgetretenen Staaten. Wie soll es weitergehen mit Gewährleistung der Legitimation der Macht, des Rechtes auf Gegenmeinung, mit der Gewährleistung von freien Wahlen ohne Einschränkungen? Ist die europäische Gleichgewichtspolitik, das klassische europäische Modell wirklich zu Ende? Kann der heute nur mehr als regionaler Faktor existierende Kontinent den erfolgreichen Weg zum föderalistischen Europa wirklich einschlagen?

- 96/97 -

II. Inhaltliche Änderungen der Souveränität

Die Hypothese eines hervorragenden Vertreters der europäischen Integration, dass es nämlich unmöglich sei, die Probleme Europas unter Staaten zu lösen, die hartnäckig auf ihrer umfassenden Souveränität bestehen, hat sich noch nicht bewahrheitet, obwohl sie zugleich auch auf die Negation ihrer Behauptung hinweist. Blenden wir aber die maßgeblichen Jahreszahlen des europäischen Integrationsprozesses ein, können wir die Probleme sofort sehen. Die erste Station war der Vertrag von Maastricht (1992), der die wirtschaftliche und die monetäre Union hervorhob, während 2001 die Entstehung der gemeinsamen Währung, des Euro, die monetäre Union von 11 Ländern repräsentierte. Wie unsere führenden Ökonomen unter Bezugnahme auf Professor Ch. Goodhart (London School of Economics) es formulierten, war der Euro ein Ergebnis des Zusammenbruchs des Kursmechanismus, der letztendlich durch den Tod der Währungsschlange entstand. Dabei spielten jedoch auch politische Ursachen eine Rolle. Die gemeinsame Währung, die übrigens eine Grundvoraussetzung des französisch-deutschen Übereinkommens war, war der Preis nicht nur für die deutsche Einheit, sondern laut einiger Analysten kann die gemeinsame Währung als auch ein Verteidigungsvorspiel angesehen werden, und zwar mit der Bedingung, dass die durch die spätere Erweiterung beitretenden Oststaaten eine von den westlichen Mitgliedsstaaten auch qualitativ getrennte Gruppe darstellen sollen.

Schließlich wurde die Reihe der Ereignisse nach der Osterweiterung durch die Finanzkrise 2008 abgeschlossen. Sie schuf verursachte durch die inneren Krise der Union eine Krisensituation. Die Lösung entstand durch eine verspätete Reaktion, durch den Fiskalpakt zwischen der Union und den Regierungen im Jahre 2011. Laut einer analytischen Bewertung unseres Wirtschaftsprofessors András Inotai bieten sich in dieser Situation (derivativa crimen) drei Lösungsalternativen an:

- Schaffung der gemeinschaftlichen Steuerung der Haushaltspolitik (dies wurde seitdem durch die supranationale Aufsicht 2012 umgesetzt!);

- Auflösung der Unterschiede zwischen der Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten der EU mit Hilfe von Transferme-

- 97/98 -

chanismen, und zwar in Richtung der schwächeren Peripherie (zurzeit verwendet die EU 1% aller GDP zu diesem Zweck); - In dieser historischen Situation kann durch weitere Beschneidung der nationalstaatlichen Funktionen die Hoffnung auf die United States of Europe (USE) aufscheinen.[2]

Es ist jedoch anzumerken, dass neben den wissenschaftlichen Argumenten auch durch politische Interessen diktierte Theorien auf der Oberfläche sind. Besonders auffällig ist unter ihnen die vom britischen Präsidenten Nigel Frage seitens der Partei "Europa der Freiheit und der Demokratie" im Europäischen Parlament abgegebene Erklärung, laut der den Mitgliedstaaten der Peripherie geholfen werden sollte, die Zone zu verlassen. Oder sehen wir uns von anderen, stärkeren Formulierungen eine andere interessante an, laut der die Engländer nicht gewillt seien, in einem von den Deutschen dominierten Europa zu leben: " ... Wir haben weder wirtschaftliche noch politische Interessen an der Mitgliedschaft im europäischen Staatenbund".[3]

Die Sachlage macht eindeutig, dass eine inhaltliche Bewertung der Souveränität zur Grundfrage geworden ist. Wir sehen hier selbst vom kürzesten Einblenden der außerordentlich reichen staats- und politikwissenschaftlichen Literatur des Themas ab, und nehmen lediglich das Skizzieren einiger Begriffselemente vor, sowie halten das Ergebnis des heutigen Auslegungszwanges der ursprünglichen Bedeutung fest. Die Unsicherheit bezüglich des Begriffs ist schon an der Ursprungsfrage zu sehen. Gemäß einigen Standpunkten in der Staatswissenschaft kann die Kategorie "im heutigen Sinne" auf das 16. Jh. datiert werden. Ein anderes, für uns "zweckdienliche Zeichen" stammt vom Genter Professor R. C. von Caenegem, gemäß dem der juristische Begriff der Souveränität im 12. Jh. entstand, als die Juristen festhielten, dass "rex est imperator in regno suo". Das heißt auch, jede königliche Regierung ist nur innerhalb der National-

- 98/99 -

grenzen souverän, da keine Autorität über der Autorität des Imperators stehen kann.[4]

Im Weiteren werden wir von den neuesten Ergebnissen der staatswissenschaftlichen Literatur die Staatslehre von Professor Péter Takács in den Vordergrund stellen. Das Werk beleuchtet interdisziplinär und imposant lapidar die Wissenschaftsgeschichte des Gewalt- und Rechtscharakters eines Staates. Daraus greifen wir hier eine dominante Theorie des 19. Jh. heraus, gemäß der das Subjekt der Souveränität nicht eine Organisation ist, sondern der Staat als Ganzes. Außerdem habe die Gedankenwelt des Konstitutionalismus die Souveränität unter verschiedenen Organisationen ausgeteilt.

Die Auffassung von John Austin nähert sich der Frage aus einer anderen Richtung, und verkündet die Unbegrenztheit und Unbegrenzbarkeit der Macht des Souveräns. Dicey vervollkommnet diesen Gedanken, und apostrophiert die Macht des Souveräns - in rechtlicher Beziehung - als eine rechtlich unbegrenzte gesetzgebende Gewalt. Péter Takács hebt in der Zusammenfassung hervor, dass "im politischen Sinne im Staat dasjenige Gremium der Souverän ist, dessen Wille von den Staatsbürgern als Letzter befolgt wird."[5]

Als Summierung soll hier das Werturteil von F. A von Hayek stehen, der sogar die Vernachlässigung des Begriffs verkündet. Seiner Meinung nach stehe der Irrtum bezüglich des Begriffs mit der Volkssouveränität im Zusammenhang. Er behauptet, dass es nicht darauf ankomme, ob die Souveränität dem Volk zusteht, sondern darauf, ob die Macht unbeschränkt ist. Die Grundlage der Souveränität sei die Voraussetzung, dass sie eine Vereinbarung über die freiwillige Unterwerfung ist, ohne die es nämlich keine Macht gebe.

Es kann also festgestellt werden, dass die grundsätzliche Verbindung der Souveränität mit dem Staat im 20. Jh. der Lehre über die Staatssouveränität entsprang. Diese Lehre legte nahe, dass der Staat notwendigerweise

- 99/100 -

souverän sei, und was nicht souverän sei, sei kein Staat. Daraus folgt die Auffassung der neuesten Zeit, gemäß der das Wesensmerkmal des Staates nicht die Souveränität sei, sondern die Macht. Und dieses potestas bedeutet die Fähigkeit, Staatsaufgaben zu erfüllen, also die zielgebundene und auf eine besondere Weise begrenzbare allgemeine Ermächtigung. Und diese Ermächtigung richtet sich auf die Förderung des Gemeinwohls, auf die Durchsetzung der öffentlichen Interessen, außerdem - im Interesse der Staatsbürger - auf die Sicherung der Allgemeingüter; wie es die klassische Formel so lapidar ausdrückt: salus populi suprema lex esto.

III. Dilemmata der Souveränität in unseren Tagen

Die deutsche Staatswissenschaft widmete unserem Thema nicht nur in den 19-20. Jahrhunderten, sondern auch in den letzten Jahren besondere Aufmerksamkeit. Eines der neuesten Ergebnissen dieser Entwicklung ist die Monografie "Was bedeutet Souveränität?" von Professor Ulrich Haltern, dem Direktor des Instituts für nationale und transnationale Integrationsforschung /Leibniz Universität, Hannover/.[6]

Um ein Zukunftsbild für Europa aufzureißen, schien uns die Kenntnis dieses Opus unerlässlich. Im Weiteren möchten wir uns kurz mit zwei "Thesen" des Verfassers, mit den Gedankenkreisen "Liquidierung des Souveräns" und "sein Geist" befassen.

Es ist allgemein bekannt, dass nach 1918 aus dem Misserfolg der antagonistischen Friedensordnung des Versailler Vertrages und dann aus der fast völligen Verwüstung durch den zweiten Weltkrieg die Integrationsformen EWG und Europäische Union langsam zur Welt kamen. Es ist eine interessante Zweiheit, dass auf Intention der Anführer des Weltmarktes anfänglich die nationalen Marktwirtschaften begünstigt waren. In diesen Nationalstaaten wurde unter Betonung der Symbiose der Interessen mit der Vernunft eine postpolitische Ordnung festgelegt, in der die Beziehung zur Volkssouveränität nicht notwendig ist.

- 100/101 -

Andererseits erkannte der Europäische Gerichtshof schon 1961, zur Zeit der ersten Integrationen, dass das Legitimationsdefizit der neuen Machtorganisation - die Ausschaltung der Volkssouveränität - durch eine elegante Lösung kompensiert werden kann. Subjekte des Gemeinschaftsrechts seien nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen, die nicht lediglich Pflichten haben, sondern auch über Rechte verfügen. Zwischen der neuen Rechtsordnung und der nationalstaatlichen Rechtsordnung entstand allmählich eine Diskrepanz, in Folge deren die traditionelle Rechtsetzung und Rechtsanwendung in den Hintergrund trat. Nach Einführung der Vorabentscheidung kann Gemeinschaftsrecht sogar schon vor den Nationalgerichten geltend gemacht werden. Es ist also eine richtige Feststellung, wenn Professor Haltern schreibt: "Gesetzgebungskompetenzen wandern fast ungehindert nach Brüssel ... Die gesamte Imagination überstaatlichen Rechts, in dem die staatliche Freiheit so wenig wie möglich eingeschränkt werden darf, wird dadurch umgekehrt, dass die Mitgliedstaaten nun zu Treuhändern des Gemeinschaftsrechts werden. ... Ist es vor diesem Hintergrund verwunderlich, dass ein bis heute anhaltender Streit darüber entbrennt, ob mit der Doktrin des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts nicht zugleich gesagt ist, dass Souveränität in der Gemeinschaft <geteilt>, <gepoolt>, <fragmentiert>, erodiert oder ganz abgeschafft ist?" Nicht zufällig bedeuten Reaktionen nationaler Verfassungsgerichte heute die einzige Möglichkeit, der verfassungsfeindlichen Praxis Einhalt zu gebieten. Es gibt übrigens nur eine geringe Anzahl von Verfassungsgerichten, die den Vorrang des Gemeinschaftsrechts bedingungslos akzeptieren. Die Mehrheit im dazwischen liegenden Spektrum akzeptiert zwar eine beschränkte Übertragung der Souveränität, unterwirft sie jedoch einer rechtlichen Kontrolle. (Deutschland, Belgien, Großbritannien, Ungarn)

Und schließlich verdient auch die Rolle der Institution der so genannten Identitätskontrolle unsere besondere Aufmerksamkeit. Sie ist insbesondere beim deutschen Verfassungsgericht sehr wichtig, denn es kann die Durchsetzung von EU-Vorschriften unterbinden, wenn diese gegen nationale Verfassungen verstoßen würden. Auf doppelfunktionale Variante der Identitätskontrolle verweist unter anderen auch Professor von Bogdandy, Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg, indem er betont, dass die staatszentrische Demokratieauffassung eine Demokratie außerhalb der Rahmen eines Staates ausschließt. Im Klartext

- 101/102 -

heißt es, der deutsche Standpunkt hält es für verfassungswidrig, wenn Europa sich zu einer Art Bundesstaat vereinigen würde. Dabei hält die individualistische Auffassung - bei Akzeptanz einiger Vertragsänderungen - die Verwirklichung der Demokratie auf europäischer Ebene für möglich, also sie fördert ihre Durchsetzung, weil es ein Zeitgebot ist. Die gleiche Beurteilung herrscht auch in der französischen Praxis. Oliver Dutheillet de Lamothe, Mitglied des französischen Verfassungsrates wies darauf hin, dass zum Beispiel der Verfassungsrat 2006 die verfassungsmäßigen Grenzen festsetzte, innerhalb deren eine Rechtsnorm zur Umsetzung des Gemeinschaftsrechts für verfassungswidrig erklärt werden kann. Die dogmatische Grundlage dafür ist der Leitsatz, laut dessen die Union die Identität der Mitgliedsstaaten achtet. Und so stellen die in der nationalen Identität verborgenen verfassungsmäßigen Werte die Schranken einer europäischen Integration dar.[7]

Es ist kein Zufall, dass sich die Verfassungsgerichte an die Trias Nationalgericht, Gerichtshof der Europäischen Union und Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte mit jeweils eigenen Aufgabenkreisen - mittelbar - auf eine besondere Art und Weise anschließen. Ihre Vermittlerrolle könnte jedoch inhaltsreicher sein, wenn zum Beispiel die Empfehlungen des 5. Europäischen Juristentages zur Umsetzung gelangen würden. 2011 wurden außer den Themen Europäische Staatsanwaltschaft, grenzüberschreitende Kriminalität, Verbraucherschutz und Handelsrecht auch die Fragen der neuzeitlichen Souveränität diskutiert. Eine der Empfehlungen beinhaltete die Aufstellung des Kollegiums der Delegierten Nationaler Verfassungsgerichte. Das Gremium könnte sich mit Fragen befassen, die zwischen Mitgliedsstaaten und den zentralen Institutionen der Union bei Problemen der Jurisprudenz entstehen. Die rechtlichen Lösungsvorschläge würden in Form von Stellungnahmen erscheinen. Eine schwerwiegende Frage ist zum Beispiel das Kriteriensystem des Primats und der Anwendung von Gemeinschaftsrecht. Dieses Forum könnte zu einer wertvollen fachlichen Hilfe bei Schaffung des gemeinsamen europäischen Rechtsraumes darstellen; die eigentlichen Anführer der EU legten jedoch noch kein Interesse dafür an den Tag.[8]

- 102/103 -

IV. Desubstantialisierung statt Souveränität

Ulrich Haltern fasste "mit unersetzlicher Logik" und Eleganz alles zusammen, was als das EU-Projekt anzusehen ist. Aus dem Reichtum seiner Gedanken versuche ich hier nur vier Merkmale und vier Folgen herauszugreifen.[9]

Die wichtigsten Prämissen:

- Der Versuch einer Bewegung vom Europa der Souveränität in Richtung Europa des Marktes kann als eine anfängliche Erfolgsgeschichte definiert werden. Der Übergang vom Existenzialismus zum Konsumismus schuf die Möglichkeit der Umstellung auf das Geld als ausschließliches Vermittlungsmedium (siehe z. B. den Erfolg der Derivativen!).

- Quelle der Zivilität unserer Kultur war die Geldwirtschaft. Aus dieser Parallelität ergab sich, dass die Welt auf die Strategien der Bewältigung von Knappheit reduziert werden kann.

- Das Geld als Abstraktion löscht die Geschichte aus, ignoriert Identität und historische Narrationen.

- Das Modell der Verflüssigung und der Beweglichkeit (alles bewegt sich: Waren, Kapital, Arbeitskraft) kann durchgesetzt werden; das Wegräumen von Hindernissen obliegt dem EuGH, der höchsten Instanz der europäischen Rechtsprechung.

Die tatsächliche Lage mit den Folgen:

- In der Europäischen Union fehlt spürbar die gesellschaftliche Legitimation, und das demokratische Defizit ist augenscheinlich.

- Der heutige Staat wurde vom Volkssouverän in die "diesseitige" Welt versetzt, die Kommunikation (Gerechtigkeit, Interesse, Vernunft) gehört im als Dienstleister debütierten Staat den Interpretationsgemeinschaften, wobei der Inhalt von Gemeinschaft durch die Form von Gemeinschaft ersetzt wird.

- Europa ist verunsichert in seinen eigenen Fundamenten und Basisbegriffen. Gescheiterte institutionelle Reformen und unüberlegte

- 103/104 -

Integrationsschritte belegen, dass das Modell Europas nicht das Modell der Welt ist.

- Von der Erzählung zum rechtlichen Rahmen der Integration hat es sich herausgestellt, dass sie eine unhistorische Fiktion ist. Es ist nicht zu übersehen, dass mehr Recht mehr Reform bedeutet, und mehr Reform bedeutet mehr Vernunft. Experten haben die jetzigen institutionellen Rahmen inne, sie managen die Gemeinschaftsgüter und schaffen dadurch den Alptraum, dass statt Souveränität auch Funktion die Identität definieren kann. So entsteht der Schein, dass es einen Raum für Gewalt außerhalb des Rechts nirgendwo mehr gebe.

Die Realität der internationalen Beziehungen belehrt uns aber eines Anderen. Gewalt besitzt einen Raum, der sich durch Recht nicht beeinflussen lässt.

Angesichts seines entscheidenden Argumentensystems von bestimmendem Charakter und der geschichtlichen Wahrheit der Lehre, wird die Beziehung zwischen Souverän, Recht und Gewalt im folgenden Zitat festgehalten: "Damit stehen wir wieder vor der Frage nach der Souveränität und dem Staat. Dort stehen zwei Institutionen paradigmatisch für den Souverän: der Richter und der Soldat. Souveränität bildet zwei Seiten des modernen Verfassungsstaates aus: Recht und Gewalt. Es ist gerade kein Zufall, dass die Welt des modernen Verfassungsstaates zugleich die Welt umfassender Verrechtlichung und die Welt nie gekannter Gewalt ist. Der aufgeklärte Fortschrittsdiskurs sieht im Recht den Weg zur Überwindung der Gewalt, doch proliferieren Recht und Gewalt stattdessen gleichzeitig und zu gleichen Teilen. Sie arbeiten nicht gegeneinander, Recht überwindet (...) nicht die Gewalt, sondern beide werden allgegenwärtig. Der Grund liegt darin, dass der moderne Staat sowohl die katholische als auch die jüdische Tradition übernimmt. Die katholische Imagination produziert die Imagination mystischer Einheit, die über Mysterien, Wunder und Rituale von Opfer und Gewalt hergestellt wird. Die jüdische Tradition produziert die Imagination des Rechts, also des vom souveränen Willen Gottes offenbarten heiligen Textes, der an die Stelle der Prophezeiung tritt und einen Heiligen Bund Gottes mit einem auserwählten Volk bezeichnet. Beides - mystische Einheit und Recht - repliziert der moderne Staat kontinuierlich. Man kann auch so formulieren, dass hier die Doppelung des

- 104/105 -

geteilten Monarchenkörpers widerhallt. Einerseits spricht der Souverän das Recht in seine Existenz: Recht ist immer die Folge einer politischen Handlung des Souveräns; es ist und bleibt die Stimme des Souveräns. Hier hat sich ein Wandel vollzogen: Der Souverän ist nicht im Recht verkörpert. Der Richter ist nicht die transsubstantiierte Verkörperung des Souveräns. Stirbt der Richter, leben das Recht, und erst recht der souveräne Staat weiter. Die Körperhaftigkeit des Souveräns findet sich vielmehr im Soldaten. Dieser trägt das Souveräne nicht als Rechtsvorschrift weiter, sondern als Sterbe- und Tötungsbereitschaft. Eingezogen werden kann jeder; jeder kann (...) den Staat repräsentieren."[10]

Zum essentiellen Abschluss des Themas "Souveränität" halten wir eindeutig fest, dass es der Volkssouveränität im Ergebnis gelang, die Form einer demokratischen Rechtsstaatlichkeit anzunehmen. Die Souveränität ist somit nicht nur ein von der Aufklärung und von ihrem Glauben an die Vernunft durchdrungener Ausdruck, sondern ein Konzept, das den Staat, das Recht, die Identität und das Politikum mit einander zu einem funktionierenden Ganzen verbindet. Lässt man sich den demokratischen Rechtsund Eingriffsstaat sowie den Militärstaat durch den Kopf gehen, wird es einem eindeutig, dass wir uns immer zwischen dem Recht und dem Krieg bewegen. Auch die Erfahrungen der jetzigen Welt bekräftigen in uns die These, auf die Kategorien Heilig und Opfer nicht verzichten zu können. Auch das erste kurze Jahrzehnt unseres neuen Jahrhunderts bestätigt die obigen Ausführungen, das heißt, die Welt der Souveränität ist trotz des Versuchs eines neuen Machtprojektes nicht im Begriff zu verschwinden.

V. Rechtsstaat - Rechtsstaatlichkeit - Rule of Law

Die Rechtswissenschaft behandelt die These als ein Axiom, gemäß dem ein Staat rechtmäßig ist, wenn seine Substanz im Recht verankert ist. Im Idealsystem des Rechtsstaates können alle Handlungen rechtlich erfasst werden. Rechtsstaatlichkeit versucht, ihr Ziel durch eine allumfassende Regelung zu erreichen. Sie baut alle Garantien der Einhaltung ihrer Regeln aus, die ihre Werte schützen. Es lohnt sich, hic et nunc die Übersee-

- 105/106 -

Variante des Rechtsstaates, das Richterrecht (Rule of Law) zu erwähnen. Produkt und zentraler Gedanke des anglo-amerikanischen Idealsystems ist die Einklagbarkeit (justiciability). Mit Hilfe dieser Institution kann in allen rechtsrelevanten Sachen ein Gericht angerufen werden, damit es eine abschließende Antwort des Rechts ausspricht.

Die beiden Systeme vermitteln zwei Rechtskulturen. Das Recht des auf Historizität, deutscher Dogmatik, Kodifikation und rabulistischem Prozessrecht beruhenden Rechtsstaates ist zugleich Verkörperung der klassischen Lehre über die Gewaltenteilung. Die Rule of Law hebt im Gegensatz zur kontinentalen Auffassung das Fallrecht (precedens) hervor, und zwar durch Neudenken der Prinzipien, um den gegebenen Streitfall gerecht zu lösen. "Hier beherrscht also nicht das Allgemeine das Einzelne, aber das Einzelne ist trotzdem nicht chaotisch. Das Einzelne gewinnt seine allgemeine Formulierung angesichts der verschiedenen Verallgemeinerungen, in dem Verhältnis zu ihnen."[11]

Die Unterschiede zwischen den beiden Systemen bestehen auch in der Gewaltenteilung. Der Rechtsstaat realisiert die traditionelle Gewaltenteilung, er begünstigt das auf dem Vorrang des Parlaments aufgebaute Modell, während die Gründungsväter von Amerika unter Wirkung des Orakels von Montesquieu aus seinem genialen Werk "Vom Geist der Gesetze" über Theorie der Gewalt, einem anderen Element die Priorität einräumten. Dass nämlich die Exekutive über Mittel verfügen muss, mit Hilfe deren sie der Legislative Einhalt gebieten, sie also einschränken kann. Erwünscht ist also die Sicherstellung des von der Gesellschaft erwarteten Gleichgewichts. Ergo: das Grundprinzip besteht hier in der organisatorischen und persönlichen Trennung der Regierungsorgane. Hier muss auf Professor Sári, den hervorragenden Experten des Themas hingewiesen werden, der mit kristallklarer Argumentation die Unterschiede zwischen den beiden Systemen darstellt. Es lohnt sich, den Distinktionen Aufmerksamkeit zu schenken, denn in der Praxis und in der Kommunikation der EU hört man immer häufiger den Aufruf zur Befolgung des Beispiels. Zwar stimmt es, dass die amerikanische Verfassung eine Trennung der Staatsorgane vor-

- 106/107 -

schreibt, bezüglich der Staatsfunktionen verfügt sie jedoch anders. Die Gründer bauten - entgegen der allgemeinen Auffassung - nicht das Regierungssystem auf der Basis der Gewaltentrennung aus, sondern sie stellten getrennte Institutionen auf, die gegenseitig an der Macht der anderen beteiligt sind. Denn ohne eine gegenseitige organisatorische Beteiligung an den Funktionen kann die Gewaltenteilung ihre Ziele nicht erreichen. Die Zusammenfassung dieser grundlegenden Monografie des Professors lautet: " ... Die amerikanische Verfassung schuf kein Regierungssystem der Gewaltenteilung, sondern das der Bremsen und der Gleichgewichte. ... <cheks and balances> als verfassungsmäßige Einrichtung unterscheidet sich von der Gewaltenteilung, denn sie enthält das Element, gemäß dem die politische Macht durch politische Macht kontrolliert werden muss und kann."[12]

In Europa apostrophierte C. Th. Welcker im Jahre 1813 den Rechtsstaat als den "Vernunftsstaat, der zur höchsten Entwicklungsstufe der fortschrittlichen Aufklärung führt." Die Nationalstaaten des 19. Jh. werden auf diese Weise zum Ausdruck des Rechtsstaates, in dem freie und demokratische Rechtsordnung und Staatsverfassung grundsätzliche Anforderungen sind. Und die entstehenden konstitutionellen Verfassungen wollen die Rechtssicherheit durch Sicherstellung der Freiheit, des Eigentums und der Menschen- und Bürgerrechte gewährleisten. Es wurde klar, dass diese Verfassungen so viel Wert sind, " ... wie die Verwaltung, deren Kraft und Ehrlichkeit sie garantieren", lautet die zeitgenössische Ermahnung. Es ist kein Zufall, dass die Schaffung einer richterlichen Kontrolle über der Verwaltung contra legem das Nonpusultra des Rechtsstaates geworden ist. Wie O. Mayer es formulierte: "Der Rechtsstaat ist der Staat eines gut organisierten Verwaltungsrechts." Eine historische Darstellung des Rechtsstaatsbegriffs bis zu unseren Tagen wäre zwar äußerst lehrreich, aber auch die auf das Heute bezogene Summierung kann sehr gut als Ausgangspunkt und Vergleich dienen, wenn man die oft erwähnte Rechtsstaatlichkeit bewertet.

Unser Rechtsstaat ist ein Staat, dessen Leitgedanke die Rechtssicherheit

- 107/108 -

(certainty of law) ist, und in dem gerade deshalb das Funktionieren des Staates am Recht gemessen wird. Dieser Rechtsstaat ist also

- ein verfassungsmäßiger Staat, der den Gang der Gesetzgebung regelt;

- ein Gesetzesstaat, der das Verhalten des Einzelnen regelt, Staatsorgane aufstellt, deren Verfassung und Kompetenzen er vorschreibt;

- ein Rechtsschutzstaat, der die Einhaltung der Verfassung und der Gesetze mit Hilfe von geeigneten Institutionen garantiert.

Wie dies von Professor Werner Ogris geistreich und umsichtig formuliert wurde:

"Die in diesem Zusammenhang zu nennenden Elemente bilden keinen abgeschlossenen Kanon, stellen keinen numerus clausus dar." Fehlen sie aber, ist der Rechtsstaat ausgehöhlt. Die maßgeblichen Elemente sind: "Gewaltentrennung; Verfassungsbindung des Gesetzgebers; Bindung von Exekutive und Judikative an das Gesetz; Grundrechte; Garantie des Rechtsschutzes durch unabhängige Gerichte (des öffentlichen Rechts); Verantwortlichkeit der Staatsorgane für die Einhaltung der Rechtsnormen; möglicherweise auch Rückwirkungsverbot, Übermaßverbot, Vertrauensschutz, Mindestmaß an faktischer Effizienz von Rechtsschutzeinrichtungen, Klarheit der Formulierung und Kundmachung von Rechtsverordnungen u. Ä."[13]

Es ist Tatsache, dass durch Integration der Nationalstaaten ein eklektisches und sehr umfangreiches Gemeinschaftsrecht entstanden ist. Es ist auf dem Rechtssystem der Mitgliedsstaaten aufgebaut, ergänzt und ändert diese erheblich. Seine Theorie ist jedoch bis heute nicht ausgearbeitet. Das Recht des aus dem sui generis, das die Mitgliedsstaaten integriert, zu einer Rechtspersönlichkeit gewordenen Gebildes wird im Vergleich zum Nationalrecht definiert. Es ist also eine wichtige These, dass die Bezugnahme auf den Rechtsstaat immer nur einen Mitgliedsstaat betreffen kann.

Allgemein bekannt ist auch, dass die Europäische Union ein System von verbündeten Mitgliedsstaaten ist, das gemäß dem Völkerrecht entstanden ist, und in dem die festgelegten Kompetenzen von den einzelnen überlassenen Elementen der Souveränität der Mitgliedsstaaten entstehen. Sie be-

- 108/109 -

sitzt also keine eigene Kompetenz und kann mit der Formel "Kompetenz ohne Kompetenz" beschrieben werden. Es entstand also ein Rechtssystem, das sich ins Rechtssystem der Mitgliedsstaaten fügt und sich verhält, als ob es um einen Bundesstaat ginge, in dem sich zum Demokratiedefizit auch ein Verfassungsdefizit gesellt. Dazu kommt der bereits erwähnte Fiskalpakt, der durch Einschaltung einer supranationalen Kontrolle ein Attribut des Rechtsstaates in Frage stellt, nämlich die Appropriation, also die Haushaltszuständigkeit des Nationalparlaments.

Diese Erscheinungen stellen für alle betroffene Fachleute unter Beweis, dass die Europäische Union eines neuen Systems der Rechtsdogmatik bedarf. Es ist unbedingt notwendig, die neuen Verfassungsbegriffe zu definieren, und unter anderem auch die parallelen Kompetenzen von einander im neuen Geiste abzugrenzen. Deshalb ist es besonders erfreulich, dass Professor A. von Bogdandy einen Aufruf zum Thema "Nationale Rechtswissenschaft im europäischen Rechtsraum" an die Juristen der Staaten richtete. Damit setzt er sich für den Ausbau eines neuen rechtsdogmatischen Systems ein.

Den europäischen Rechtsraum definierte er - schon in seinem jetzigen Zustand - als ein von den nationalen Rechtssystemen bestimmtes Gebiet, wobei er betonte, dass die supranationalen Normen bereits erheblichen Einfluss auf die nationalen Rechtssysteme ausüben. "Dementsprechend wird die Mitgliedschaft zum wesentlichen Kennzeichen der Staatlichkeit der beteiligten Staaten, und die bis dahin geschlossenen Rechtssysteme werden zum Teil eines weiteren rechtlichen Rahmens."[14] Die Initiative ist auf jeden Fall zu begrüßen, weil das rechtliche Gedankensystem - im Fall von Störungen bei den Institutionen der EU - auf den neuen Kontext anders anzuwenden ist, und das frühere nationale und rechtsstaatliche Modell ist mit neuen Begriffen und Bedeutungsinhalten zu überholen.

Der Aufruf des Wissenschaftlers zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Rechtsraums enthält auch ein elegantes Motto: "Ein anderes Mitgliedsstaat ist zwar Teil des europäischen Rechtsraums, jedoch ein ab-

- 109/110 -

weichender Teil davon, und weist die Ergebnisse einer andersartigen Entwicklung auf. ... Die Vielfalt innerhalb des europäischen Rechtsraumes verlangt, das ausländische Rechtssystem als ausländisch anzuerkennen, und nicht zu versuchen, es ausschließlich nach den Regeln des eigenen Rechtssystems auszulegen.[15] Die grundlegende Struktur anderer europäischer Rechtsordnungen müssen wir aus Sicht des sich in Ausgestaltung begriffenen europäischen Rechtsraums untersuchen. Zugleich haben wir ihre historischen Erfahrungen, Entwicklungsstationen sowie ihren rechtlichen und wissenschaftlichen Stil zu ehren, und erst in dieser Belichtung können wir auch unsere eigene Tradition fortentwickeln", betonte der Professor, der in der Ausgestaltung dieses Rechtsraumes eine maßgebliche Rolle übernahm.[16]

Diese Methodik entspricht der Tatsache, dass Europa eine multikulturelle Entität ist. Es ist ein Gemeinplatz, wenn man sagt, das Unterpfand für ein blühendes Europa das Nebeneinander von kulturellen Identitäten ist. Wenn die Wirtschaft, die sich die absolute Priorität erkämpft hat, das nicht gewährleisten kann, dann sind diese Kultur und Zivilisation zum Verfall verurteilt. Auch deshalb verdient die Schlussfolgerung der an Gedanken außerordentlich reichen Monografie von Francis Fukuyama über den Staatsbau im 21. Jh. unsere besondere Aufmerksamkeit.

"Was die Staaten und nur die Staaten tun können, das ist die Konzentration und zweckgerichtete Verwendung der legitimen Macht. Wer für den Untergang der Souveränität argumentiert - seien es die rechten Befürworter des freien Marktes oder aber die engagierten linken Multilateralen -, muss angeben, was in unserer zeitgenössischen Welt die Macht des Nationalstaates ersetzen werde. In Wirklichkeit wurde diese Leere von der buntgemischten Ansammlung multinationaler Gesellschaften, NGOs, internationaler Organisationen, Kriminalbanden und Terrorgruppen gefüllt." (Diese Liste kann noch durch die internationalen Ratingagenturen

- 110/111 -

ergänzt werden, welche bei der Entstehung der Finanzkrise und in der Nachfolgezeit im Stande waren, die Wirtschaft zu hibernieren!)

"In Ermangelung einer eindeutigen Antwort haben wir keine andere Möglichkeit, als zum souveränen Nationalstaat zurückzukehren, und erneut zu verstehen versuchen, wie er stark und effizient gemacht werden kann. ... Ob jetzt die Europäer oder die Amerikaner die Quadratur des Kreises besser bewerkstelligen können, wird sich noch herausstellen. Komme aber wie es will, wird die Kunst des Staatsbaus ein Schlüsselelement der nationalen Macht, genau so wie die Fähigkeit, militärische Gewalt zur Aufrechterhaltung der Weltordnung anzuwenden."[17]

*

Als Abschlussgedanke soll nachdrücklich festgehalten werden, dass Souveränität und Rechtsstaat sich ergänzende Begriffe sind. Zur Erfüllung der Träume der Kernstaaten, welche sich den Herausforderungen des Weltmarktes stellen können und wollen, das heißt zur Entstehung eines föderativen Europas bedarf es aber eines Jahrzehnte lang andauernden konsequenten rechtlichen und wirtschaftlichen Aufholprogramms, dessen zwei Säulen, die europäische Gleichgewichtspolitik und die Legitimation der Macht neu zu schaffen sind.[18]

- 111/112 -

Summary - Sovereignty - Rule of Law

The study examines the changes to the content of the individual basic categories of literature on state theory. The period of two-hundred years which have passed since the French revolution has been the period of development of the rule of law; the European politics of balance was upset and arrived to crossroads.

European integration as one of the realistic alternatives of the survival of nation states encourages the solution of the current dilemmas concerning sovereignty. It analyses the deficient legitimation of the EU as the new power organisation, the eroding of the popular sovereignty and the disintegration of legislative powers. It touches upon the rule of law realizing the classic theory of division of power, comparing it to the Anglo-American theory system of the rule of law.

The work favours the establishing of the common European legal area, which is promoted by the German jurisprudence as well, with a view to eliminating the anomalies of the law of nation states and community law. It emphasizes that sovereignty and the rule of law are complementary terms. The creation of a federal Europe requires the implementation of a persistent legal and economic convergence program the two pillars of which, i.e. the European balance politics and power legitimation, must be re-established.

- 112/113 -

Resümee - Souveränität - Rechtsstaat

Die Studie untersucht inhaltliche Veränderungen bestimmter Grundkategorien der Literatur über die Staatslehre. Die seit der Französischen Revolution vergangenen zweihundert Jahre sind die Zeit der Entfaltung des Rechtsstaates; die europäische Gleichgewichtspolitik ist mit ihrer allmählichen Auflösung an einem Scheideweg angekommen. Die europäische Integration drängt - als eine reale Alternative des Weiterlebens der Nationalstaaten - auf die Lösung der Dilemmata der Souveränität der Gegenwart. Sie analysiert das Legitimationsdefizit der Europäischen Union, der neuen Machtorganisation, die Erodierung der Volkssouveränität und die Auflösung der gesetzgebenden Befugnisse. Sie kommt auf den Rechtsstaat zu sprechen, der die klassische Lehre von der Gewaltenteilung realisiert, und zieht Parallelen zum englisch-amerikanischen Ideensystem der Rechtsherrschaft.

Die Studie hält die Behebung der Anomalien des volksstaatlichen und gemeinschaftlichen Rechts vor Augen und plädiert für die Herausbildung des gemeinsamen europäischen Rechtsraums, den die deutsche Rechtswissenschaft propagiert. Sie betont, dass Souveränität und Rechtsstaat komplementäre Begriffe sind. Zur Schaffung des föderalen Europas ist noch die Durchführung eines ausdauernden rechtlichen, wirtschaftlichen Programms zum Aufschließen notwendig, wobei die beiden Säulen dieses Programms, die europäische Gleichgewichtspolitik und die Machtlegitimation, neu geschaffen werden müssen. ■

ANMERKUNGEN

* Überarbeitete Version des am 20. April 2012 auf dem Campus der Universität Sapientia - EMTE Csíkszereda in Siebenbürgen gehaltenen Vortrags.

[1] Guglielmo Ferrero: Újjáépítés, Talleyrand Bécsben (1814-1815) (Wiederaufbau, Talleyrand in Wien.) Osiris Kiadó, Budapest 2002, S. 56-57.

[2] Inotai András: Európa és az idő. (Europa und die Zeit.) In: Népszabadság, 12. November 2011.

[3] Bizonyítottan megbukott a rendszer (Das System ist nachweislich gestürzt.) In: Magyar Hírlap, 12. November 2011.

[4] R. C. von Caenegem: Bevezetés a nyugati alkotmányjogba. (Einführung ins westliche Verfassungsrecht.) Budapest 2008, S. 32-33.

[5] Takács Péter: Államtan - Az állam általános sajátosságai. (Staatslehre - Allgemeine Besonderheiten des Staates.) Budapest 2011, S. 144-172.

[6] Ulrich Haltern: Was bedeutet Souveränität? Mohr Siebeck. Tübingen, 2007. Im Weiteren nur: Ulrich Haltern.

[7] Vgl.: Somssich Réka: Konferencia kötet az 5. Európai Jogász Fórum előadásaiból. (Konferenzband des 5. Europäischen Juristentages.) Magyar Jog, Nr. 12/2011, S. 761-768.

[8] Tagung des 5. Europäischen Juristentages, Themen der Sektionen: Grenzüberschreitende Kriminalität - Praxis der Rechtspflegeorgane - Grenzen der Souveränität. Editorial Board: Präsident: Prof. Dr. Gábor Máthé; in: Prof. Dr. Péter Paczolay: The new limits of sovereignty General report of the public law session 333 - 340 pp. Budapest 5[th] European Jurists Forum 2009. 349 p.

[9] Ulrich Haltern: a.a.O. S. 101-109.

[10] Ulrich Haltern: a.a.O. S. 111-112.

[11] Das Thema wird von Varga Csaba in seiner Studie: A jogállamiság és joga. (Rechtsstaatlichkeit und ihr Recht.) eingehend analysiert. Magyar Tudomány, Nr. 8/1993, S. 941-950.

[12] Sári János: A hatalommegosztás történelmi dimenziói és mai értelme, avagy az alkotmányos rendszerek belső logikája. (Historische Dimensionen und heutiger Sinn der Gewaltenteilung, oder die innere Logik der Verfassungssysteme.) Budapest 1995, S. 44-48.

[13] Werner Ogris: Der Rechtsstaat. In: Die Habsburgermonarchie auf dem Wege zum Rechtsstaat. Budapest - Wien 2010, S. 28-29.

[14] Vgl.: Tamás András: A jogállam közigazgatásának "fejlődése": közigazgatásból magánüzlet. ("Entwicklung" der Verwaltung des Rechtsstaates: Privatgeschäft aus Verwaltung.) Justum Aequum Salutare Nr. 3/2009, S. 57-74.

[15] Vgl.: Lőrincz Lajos: Külföldi hatások a magyar közigazgatásban. (Ausländische Wirkungen in der ungarischen Verwaltung.) In: Államiság - alkotmányosság - jogállamiság. Budapest 2001, S. 8-17.

[16] Armin von Bogdandy: A nemzeti jogtudomány az európai jogi térségben - Kiáltvány (Nationale Rechtswissenschaft im europäischen Rechtsraum - Ein Manifest) Magyar Jog, Nr. 4/2012.

[17] Francis Fukuyama: Államépítés - Kormányzás és világrend a 21. században. (Staatsbau - Regierung und Weltordnung im 21. Jh.) Budapest 2005, S. 154-155.

[18] Máthé Gábor: Gondolatok a nemzeti és az európai uniós jogról (Gedanken über das nationale und das europäische Gemeinschaftsrecht) Magyar Közigazgatás, Budapest, Nr. 2012/1 S. 136142.

Tartalomjegyzék

Visszaugrás

Ugrás az oldal tetejére