Megrendelés

Jörg-Martin Jehle: Menschenrechtliche und grundrechtliche Schranken im Umgang mit gefährlichen Straftätern (Annales, 2014., 165-176. o.)

I. Vorbemerkung

Mitte der 1990er Jahre hatten ehemalige Strafgefangene brutale Sexualmorde an Kindern verübt. Die daraufhin einsetzende öffentliche Empörung veranlasste den deutschen Gesetzgeber, Strafverschärfungen für Sexual- und Gewaltstraftaten vorzunehmen und das Maßregelrecht Zug um Zug zu verschärfen. Erst die Judikate des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) setzten diesem ausufernden Sicherungsdenken ein Ende, indem sie klare menschen- und grundrechtliche Schranken aufzeigten. Bevor darauf näher eingegangen wird, sei kurz der Rahmen skizziert, in dem menschen- und grundrechtliche Prinzipien im Strafrecht Platz greifen.

II. Verfassungsrechtliche Grundsätze im Strafverfahrens- und Strafvollstreckungsrecht

Ein bekannter Satz von Claus Roxin lautet: Das Strafverfahrensrecht ist der Seismograph der Staatsverfassung.[1] Er zeigt an, inwiefern der Staat den Beschuldigten als Person achtet und sich in der Strafverfolgung Grenzen auferlegt. In einem demokratischen Rechtsstaat steht das legitime Kollektivinteresse an einer funktionsfähigen Strafrechtspflege in einem Spannungsverhältnis zu dem Individualinteresse an der Wahrung der verfassungsmäßig verbürgten Rechte. Das bedeutet, dass der staatliche Strafverfolgungsanspruch nicht ohne Rücksicht auf die Grundrechte der Beschuldigten durchgesetzt werden darf.[2] Das deutsche Strafverfahren ist

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deshalb von vielfältigen grund- und menschenrechtlichen Garantien für den Beschuldigten geprägt. Dabei treten den im Grundgesetz verankerten Grundsätzen und Rechten menschenrechtliche Gewährleistungen der europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK), die in Deutschland im Range eines einfachen Gesetzes gilt, zur Seite.[3]

Zu nennen sind hier insbesondere die Unabhängigkeit des Gerichts und der Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 97,101 Grundgesetz (GG); Art. 6 EMRK); der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 6 EMRK); die Gewährleistung eines fairen Verfahrens (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 EMRK); das Recht auf Verteidigung (Art. 6 EMRK), die Unschuldsvermutung, die im Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 GG verankert und explizit in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausformuliert ist [4] Auch gegenüber Strafverfolgungsmaßnahmen, zum Beispiel der Überwachung von Wohnraum und Telekommunikation, gibt es klare rechtsstaatliche Grenzen (Art. 13 Abs. 3 GG; § 100 a bis g Strafprozessordnung).

Auch die Ebene der Strafzumessung und -vollstreckung ist verfassungsrechtlich durchwoben. Der alte Grundsatz nulla poena sine culpa findet seine gesetzliche Ausformung in § 46 Abs. 1 des Strafgesetzbuches (StGB) und seine verfassungsrechtliche Begründung darin, dass nur einer selbstverantwortlich handelnden Person die Straftat vorgeworfen und sie infolgedessen bestraft werden kann.[5] Diese im Menschenbild des Grundgesetzes gründende Schuld ist aber nicht nur Voraussetzung der Strafe, sie begrenzt die Strafe zugleich; eine die schuldüberschreitende Strafe wäre verfassungswidrig.[6]

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Die Wichtigkeit der Menschenrechte zeigt sich erst recht bei der Vollstreckung der freiheitsentziehenden Strafen. Nelson Mandela hat den Satz geprägt: Eine Nation kennt man erst dann wirklich, wenn man in ihren Gefängnissen gewesen ist. Ein entscheidendes Indiz für den Zustand einer Gesellschaft ist mithin, wie sie mit ihren Strafgefangenen umgeht und was von deren Menschenwürde und Grundrechten im Strafvollzug übrig bleibt.

Die bahnbrechende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1972[7] hat festgestellt: Auch Gefangene sind Träger von Grundrechten. Damit wurde zugleich die bis dahin vorherrschende Figur des besonderen Gewaltverhältnisses verworfen, welche den Gefangenen den Anstaltsverhältnissen unterworfen hatte. In einer genauso bedeutsamen Entscheidung hat das BVerfG festgehalten, dass ein zukunftsgerichteter Entfaltungsschutz zur Grundbedingung menschlicher Persönlichkeit gehöre. [8] Deshalb sieht das Bundesverfassungsgericht die Resozialisierung von Straftätern verfassungsrechtlich verankert in der Grundrechtsgewährleistung aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG). Wie das BVerfG später entschieden hat, gilt dies auch für Straftäter, die zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt sind.[9] Es träfe den Kern der Menschenwürde, wenn der Verurteilte ungeachtet der Entwicklung seiner Persönlichkeit jegliche Hoffnung auf Freiheit aufgeben müsste und damit von vornherein zum Versterben in der Haft verurteilt wäre.

Dieser Gesichtspunkt der Chance, eines Tages das Licht der Freiheit zu sehen, ist, wie später darzulegen ist, auch für die Gestaltung des Maßregelvollzugs verfassungsrechtlich von entscheidender Bedeutung.

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III. Grundrechte und Maßregelvollzug

1. Die stationären Maßregeln der Besserung und Sicherung

Neben der Strafe gibt es eine zweite Spur der strafrechtlichen Sanktionen, die so genannten Maßregeln der Besserung und Sicherung. Die Zweispurigkeit, das Nebeneinander von schuldabhängiger Vergeltungsstrafe und spezialpräventiven Maßregeln, lässt sich als Kompromiss begreifen - hervorgegangen aus dem so genannten Schulenstreit des 19. Jahrhunderts.[10] Auf der einen Seite war unter der Herrschaft der absoluten Theorie, die sich auf Kant und Hegel berief, das Bewusstsein von der - jedenfalls auch - spezialpräventiven Funktion der Strafe fast völlig verloren gegangen. Bekanntlich verschafften Franz von Liszt und die so genannte moderne Schule dieser Sichtweise wieder Geltung, und von Franz von Liszt stammen auch die beiden Formen der Spezialprävention, die dem rückfallgefährdeten Straftäter gelten, nämlich Besserung und Sicherung.[11]

Um den Schulenstreit aufzulösen, gab es bald vermittelnde Bemühungen, die neben den vergeltenden Strafen ein System von Maßnahmen zur Rückfallverhinderung zu etablieren suchten;[12] sie mündeten in der gesetzlichen Einführung der Maßregel gegenüber den - wie es damals hieß - gefährlichen Gewohnheitsverbrechern. Diese Einführung im Jahr 1934 fiel in die Anfangszeit der nationalsozialistischen Herrschaft, war aber - wie die lange Vorgeschichte zeigt - nicht genuin nationalsozialistischer Ideologie entsprungen. Und so wurden die Maßregeln auch ins bundesrepublikanische Recht übernommen. Mit der großen Strafrechtsreform Anfang der 1970er Jahre hat der Gesetzgeber der Spezialprävention noch mehr Geltung verschafft, nicht nur im Bereich der Maßregeln, sondern gerade auch bei der Strafzumessung und der

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Wahl der Strafart.[13] So sind nach § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB die Wirkungen der Strafe auf das künftige Leben des Straftäters zu berücksichtigen und die Wahl zwischen Geld- und Freiheitsstrafe, insbesondere aber die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung, hängt maßgeblich von spezialpräventiven Aspekten ab.[14] Insofern ist die alte scharfe Trennung aufgehoben: hier vergeltende Strafen, dort präventive Maßregeln; vielmehr gilt Spezialprävention in weiten Bereichen.

Soweit aber über den Strafvollzug hinaus eine Gefährlichkeit fortbesteht, kann dem überschießenden Sicherheitsinteresse nur mit Maßregeln entsprochen werden. Erst recht gilt dies bei Tätern, die wegen Schuldunfähigkeit nicht bestraft und inhaftiert werden können. Die drei freiheitsentziehenden Maßregeln gemäß §§ 63, 64, 66 StGB dienen dem Schutz der Allgemeinheit zunächst dadurch, dass der gefährlich erscheinende Täter sicher untergebracht wird. Im Vollzug der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) oder einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) steht allerdings der Besserungsgedanke im Vordergrund: die psychische Störung im Sinne von § 20 StGB oder die Suchtabhängigkeit soll geheilt oder so weit gebessert werden, dass der Täter nicht mehr gefährlich ist und infolgedessen entlassen werden kann (vgl. § 136 StVollzG).[15] Diesem Ziel dient auch der Vorwegvollzug der Maßregeln gemäß § 67 Abs. 1 StGB. Hingegen wird die Freiheitsstrafe stets vorwegvollzogen, wenn zugleich Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist. Die Bezeichnung dieser Maßregel stand Pate für den damit verbundenen Zweck: der Sicherung des gefährlichen Gewohnheitsverbrechers. Spätestens aber mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4.5.2011[16]

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muss allerdings auch die Sicherungsverwahrung therapiegerichtet und freiheitsorientiert sein (siehe näher unten).

Mit dem Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten von 1998 wurden die Anwendungsvoraussetzungen und die Fortdauerentscheidungen erleichtert und insbesondere die 10-Jahres-Höchstfrist bei erstmaliger Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß §67d Abs. 3 Satz 1 StGB beseitigt, und zwar rückwirkend auch für Altfälle, die bereits in der Sicherungsverwahrung untergebracht waren oder denen gegenüber Sicherungsverwahrung bereits angeordnet worden war. Trotz der weit verbreiteten Kritik[17] hatte das BVerfG die Rückwirkung zunächst verfassungsrechtlich nicht beanstandet.[18] Weiterer Druck auf den Bundesgesetzgeber entstand durch die Schaffung landesrechtlicher Straftäteru nterbringungsgesetze, die freilich wegen fehlender Gesetzgebungskompetenz für verfassungswidrig erklärt wurden[19], weil die Maßregeln als Teil des zweispurigen Systems zum materiellen Strafrecht gehören. Dementsprechend hat der Bundesgesetzgeber zunächst die vorbehaltene Sicherungsverwahrung nach § 66a StGB eingeführt, später nach 106 Abs. 3 und 4 JGG auf Heranwachsende erstreckt (2003) sowie bald darauf die nachträgliche Sicherungsverwahrung nach § 66b StGB (2004) eingeführt und gemäß § 106 Abs. 5 und 6 JGG auf Heranwachsende erstreckt. Als Schlusspunkt dieses ausufernden Sicherungsdenkens wurde schließlich gemäß § 7 Abs. 2 JGG auch für Jugendliche die nachträgliche Sicherungsverwahrung geschaffen, wenngleich unter restriktiven Voraussetzungen (2008).[20]

2. Judikate des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Eine erneute kriminalpolitische Wende hat erst die Verurteilung Deutschlands durch den EGMR (vom 17.12.2009 Nr. 19359/04) herbeigeführt, welche die Konventionswidrigkeit der rückwirkenden Beseitigung der 10-Jahres-Befristung festgestellt hat. Folgender Fall lag

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der Entscheidung zu Grunde: 1986 wurde A wegen Raubes und versuchten Mordes zu 5 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Seit August 1991 befand er sich in Sicherungsverwahrung. 2001 hätte er nach dem bis 1998 geltenden Recht aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden müssen, da er die Unterbringungshöchstfrist von 10 Jahren erreicht hatte. Er galt aber weiterhin als gefährlich. Wegen des rückwirkenden Wegfalls der Zehnjahres-Höchstfrist von 1998 erklärte das Vollstreckungsgericht daher, dass seine Unterbringung auch nach 2001 weiterhin vollstreckt wird. Weiter entschied aufgrund einer Verfassungsbeschwerde von A das BVerfG im Jahr 2004, dass diese Art der Rückwirkung nicht gegen das Rückwirkungsverbot gemäß Artikel 103 Absatz 2 GG verstoße, weil es sich um eine Maßregel, nicht aber um eine Strafe handle.[21] Der weiterhin im Maßregelvollzug verbleibende A wandte sich dann an den EGMR, der entschied, dass eine Verletzung des Rückwirkungsverbots vorliege, weil die Sicherungsverwahrung als Strafe im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der EMRK anzusehen sei; das Verfahren und die Vollstreckung von Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung ähnelten sich, insbesondere ihr Vollzug sei wenig unterschiedlich. Darüber hinaus fehle es an einer Rechtfertigung des Freiheitsentzugs nach Art. 5 Absatz 1 Satz 2 lit a) der EMRK, weil die Fortdauer über 10 Jahre hinaus bzw. die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht auf der ursprünglichen Verurteilung beruhe.[22]

In einer späteren Entscheidung hat der EGMR auch die Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung als konventionswidrig festgestellt. Soweit vor der gesetzlichen Verankerung der nachträglichen Sicherungsverwahrung die Tat begangen worden ist, handle es sich um einen Verstoß gegen Art. 5 Absatz 1 Satz 2 lit. a) EMRK, da die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht mit einer Schuldfeststellung verbunden sei und damit kein hinreichender Kausalzusammenhang zwischen dem Freiheitsentzug und der Verurteilung bestehe. Ferner handle es sich um einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot gemäß Art. 7 Abs. 1 EMRK, weil die Sicherungsverwahrung Strafcharakter habe.

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Bei Straftaten nach Erlass der gesetzlichen Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung ist demgemäß jedenfalls ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. a) EMRK anzunehmen.[23]

3. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4.5.2011

Einen vorläufigen Schlusspunkt unter die wendungsreiche jüngere Geschichte der Sicherungsverwahrung setzte das BVerfG mit seiner Entscheidung vom 4.5.2011[24] und dem von ihm geforderten erneuten Tätigwerden des Gesetzgebers bis zum 31.5.2013. Zwar hält es an der Zweispurigkeit strafrechtlicher Sanktionen fest, löst aber die Rückwirkungsproblematik, indem es aus dem Vertrauensschutzgebot nach Art. 20 Abs. 3 GG herleitet, dass eine nachträgliche präventive Freiheitsentziehung nur noch bei einer psychischen Störung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e) EMRK und einer darauf beruhenden hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- und Sexualstraftaten zulässig sei. Diese Gefahr müsse aus konkreten Umständen in der Person oder im Verhalten des Untergebrachten abzuleiten sein. Darüber hinaus rügte das BVerfG die gesamten Regelungen der Sicherungsverwahrung als verfassungswidrig, weil der Vollzug der Sicherungsverwahrung sich kaum vom Strafvollzug unterscheide, mithin das Abstandsgebot verletzt sei. Soweit Sicherungsverwahrung nur wegen Verletzung des Abstandsgebots verfassungswidrig ist, ließ das BVerfG die Vorschriften weiter gelten mit der Maßgabe, dass eine Gefahr schwerer Gewalt-oder Sexualdelikte aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist. Sowohl für die Fälle der Verletzung des Vertrauensschutzes als auch des Abstandsgebot ordnete das BVerfG eine Weitergeltung nur bis zum 31.5.2013 an, so dass der Bundesgesetzgeber gezwungen war, bis dahin ein Gesetz zur bundeseinheitlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung (vom 5.12.2012) zu erlassen. Zugleich hat das BVerfG konkrete Vorgaben für den Gesetzgeber gemacht, die es in der Formel eines "freiheitsorientierten und therapiegerichteten Vollzugs der Sicherungsverwahrung" zusammengefasst hat.[25]

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4. Neue gesetzliche Bestimmungen zum Vollzug der Sicherungsverwahrung

Das BVerfG hat explizit den Bundesgesetzgeber in die Pflicht genommen, die wesentlichen Leitlinien zur Gestaltung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung selbst vorzugeben. Aufgrund der durch die Föderalismusreform auf die Länder übertragenen Kompetenz zur Regelung des Strafvollzugs und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung ist das freilich nicht selbstverständlich, allerdings gut begründbar: Denn wenn dem Bundesgesetzgeber die Entscheidung für oder gegen ein zweispuriges Strafrechtssystem obliegt, kann er auch sicherstellen, dass die unterschiedlichen Zwecke innerhalb dieses Systems nicht faktisch durch eine undifferenzierte Vollzugsgestaltungen in den Landesgesetzen unterlaufen werden können. Deshalb hat der Bundesgesetzgeber in § 66c StGB Mindestanforderungen für die Ausgestaltung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung aufgestellt, während der Vollzug im Einzelnen der Regelung durch die Länder überlassen bleibt.

Unterbringungsziel ist eine so weitgehende Minderung der Gefährlichkeit, dass die weitere Vollstreckung der Sicherungsverwahrung zur Bewährung ausgesetzt oder vollständig für erledigt werden kann. Diesem Ziel dient die Verpflichtung der Vollzugsbehörde, den Untergebrachten eine individuelle und intensive Betreuung anzubieten, wobei alle geeigneten therapeutischen Möglichkeiten zur Minimierung der Gefährlichkeit ausgeschöpft werden sollen. Das Vollstreckungsgericht ist verpflichtet, im Rahmen seiner regelmäßigen Überprüfung, für die nunmehr eine Frist von einem und nach zehnjährigen Vollzug von 9 Monaten gilt, auch das Betreuungsangebot zu überprüfen und gegebenenfalls, wenn dieses nicht ausreicht, eine Frist zu setzen, bis zu der bestimmte Maßnahmen angeboten sein müssen. Werden diese immer noch nicht umgesetzt, muss das Gericht die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung aussetzen (§ 67d Abs.2 Satz 2 StGB).

Über die Gestaltung der Sicherungsverwahrung hinausgehend hat der Bundesgesetzgeber zugleich Vorkehrungen zur Vermeidung der Vollstreckung der Sicherungsverwahrung vorgesehen. Er hat eine an

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die Einrichtungen des Strafvollzugs gerichtete Verpflichtung etabliert, während des Strafvollzugs eine besondere Betreuung zu gewährleisten, um so möglichst früh der Erforderlichkeit einer Vollstreckung der Sicherungsverwahrung entgegen zu wirken. Geschieht dies nicht in ausreichendem Maße, so kann eine Sicherungsverwahrung im Anschluss an die Strafhaft unverhältnismäßig und folglich zwingend auszusetzen sein (§ 67c Abs. 1 Satz 1 Ziff. 2 StGB).[26]

IV. Ausblick

Das deutsche System der Zweispurigkeit und insbesondere das Institut der Sicherungsverwahrung ist keineswegs das einzige Modell des Umgangs mit gefährlichen Straftätern. Zwar kennen die meisten europäischen Länder besondere Maßnahmen gegenüber kranken Straftätern; jedoch gibt es in zahlreichen Staaten keine Sicherungsverwahrungssysteme.[27] Vielmehr wird die Gefährlichkeit der Straftäter sowohl bei der Bemessung der Strafe als auch deren Vollstreckung berücksichtigt. In England wird sogar innerhalb der lebenslangen Freiheitsstrafe differenziert: Die Richter setzen eine durch die Vergeltung bestimmte Zeitspanne fest; ist diese verbüßt, beginnt der präventive Abschnitt, der beendet werden kann, wenn der Gefangene keine Bedrohung für die Gesellschaft mehr darstellt. Hier übernimmt ersichtlich die Freiheitsstrafe die sichernde Funktion über die schuldangemessene Bestrafung hinaus. Dies wäre aber nach unserer verfassungsrechtlich bestimmten Schuldangemessenheit der Strafe nicht zu rechtfertigen.

Infrage käme eine andere radikale Lösung: Herausnahme der Maßregeln aus dem Strafrecht und Verlagerung ins Polizeirecht. Das war der Ansatz einiger Bundesländer Anfang der 2000er Jahre; sie wollten jenseits des Strafrechts Unterbringungsgesetze für gefährliche Straftäter schaffen. Zu Recht hat das Bundesverfassungsgericht dies unterbunden, hat die Zweispurigkeit als festen Bestandteil unserer bundesgesetzlichen Strafrechtsordnung angesehen und für landesrechtliche Polizeigesetze

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keinen Raum erblickt. Was wäre auch gewonnen mit einer solchen Verlagerungen ins Polizeirecht? Man müsste befürchten, dass die scharfen Konturen des Strafrechts, was Bestimmtheit und strikte Verhältnismäßigkeit angeht, die dem überschießenden Sicherheitsdenken Grenzen setzen, verloren gehen. Auch die EMRK bietet insoweit keine Legitimation; denn Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. c) lässt eine Freiheitsentziehung zwar zu, wenn sie notwendig erscheint, um eine Person an der Begehung einer Straftat zu hindern, jedoch setzt er eine konkrete unmittelbar bevorstehende Gefahr voraus[28], die bei zu entlassenden Straftätern nicht hinreichend konkretisiert werden kann.

Nach alldem erscheint der vom BVerfG vorgezeichnete Weg richtig, nämlich die stationären Maßregeln klar von den Strafen abzusetzen und sie therapeutisch auszurichten. Das ist bei der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus bzw. in der Entziehungsanstalt ohnehin der Fall. Das Abstandsgebot ist dort bereits dadurch verwirklicht, dass der Vollzug nicht in den Händen der Strafjustiz, sondern der Gesundheitsverwaltung liegt. Bei der Sicherungsverwahrung ist nun ein Weg in die gleiche Richtung eingeschlagen, nämlich in Richtung auf einen therapieorientierten Vollzug mit der Chance für die Betroffenen, eines Tages wieder entlassen zu werden. Damit ist notwendigerweise verbunden, den Gefangenen Schritt für Schritt mehr Freiheit einzuräumen und im Sinne eines Stufenvollzugs Vollzugslockerungen zu gewähren. Ebenso notwendig bringt dies gewisse Risiken mit sich, die sich auch gelegentlich in einer erneuten Straftat verwirklichen werden. Deshalb richtet sich an die Kriminalpolitik die Forderung, auch gegenüber einer gelegentlich hysterisch reagierenden Öffentlichkeit klar und offen zu sagen: Wir können nicht jeden Rückfall vorhersehen und verhindern; Rückfälle gehören dazu und sind kein Systemversagen. Es gibt keine absolute Sicherheit, die gäbe es nur, wenn wir niemanden mehr entließen. Das würde einerseits die Zahl der so genannten "false positives", die fälschlicherweise für gefährl ich gehaltenen und deshalb zu Unrecht Untergebrachten steigern, andererseits würde das Vollzugssystem überlaufen und die Kosten würden explodieren. Es ist also an der Zeit, dass die Strafrechtspolitik und die Strafrechtspraxis die rationalen Grundlagen

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des Maßregelrechts betonen und die nicht auszuschließenden Risiken in der Öffentlichkeit klar kommunizieren. ■

ANMERKUNGEN

[1] Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27.AufL, München 2012, §2 Rn. 1.

[2] Pfeiffer/Hannich, in: Hannich, Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 6. Aufl., München 2008, Einleitung Rn. 86; Roxin/Schünemann, siehe Fn. 1, § 2 Rn. 4; Beulke, Strafprozessrecht, 12. Aufl., Heidelberg 2012, § 1 Rn. 5.

[3] Kühne, in: Löwe/Rosenberg, StPO Großkommentar, 26. Aufl., Berlin 2006, Einleitung Abschnitt D Rn. 85.

[4] Kühne, Strafprozessrecht, 8. Aufl., Heidelberg 2010, § 17 Rn. 301.

[5] BGHSt 2, S. 194, 202 = Neue juristische Wochenschrift 1952 , S. 593, 594; BVerfGE 20, S. 323, 331 = Neue juristische Wochenschrift 1967, S. 195, 196; Theune, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann, Leipziger Kommentar StGB, Band II, 12. Aufl., Berlin 2006, § 46 Rn. 3; Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 60. Aufl., München 2013, § 46 Rn. 2; Radtke, in: Joecks/Miebach, Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl., München 2012, Vorbemerkung zu den §§ 38 ff., Rn. 14. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 5.Aufl., München 2012, Rn. 574.

[6] Miebach, in: Joecks/Miebach, Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl., München 2012, § 46, Rn. 22. Vgl. auch exemplarisch die Entscheidung des BVerfG zur Verhältnismäßigkeit der obligatorischen lebenslangen Freiheitstrafe bei Mord, BVerfGE 45, S. 187, 228 ff.

[7] BVerfGE 33, S. 1 ff. = Juristenzeitung 1972, S. 359 ff. mit Anm. Starck.

[8] BVerfGE 35, S. 202 ff. (Lebach-Fall); Vgl. ausführlich zur Bedeutung des Lebach-Urteils Scholderer, "Mörder, die man nie vergißt" - Ein Lehrstück über die Rechtswirklichkeit des Lebach-Urteils, Zeitschrift für Rechtspolitik 1991, S. 298 ff. sowie Arloth, Die Entwicklung des Strafvollzugsrechts in der höchstrichterlichen Rspr: Grundlagen und Grundsätze, Juristische Arbeitsblätter 2004, S. 845, 846.

[9] BVerfGE 45, S. 187, 239.

[10] Eser, Zur Entwicklung von Maßregeln der Besserung und Sicherung als zweite Spur im Strafrecht, in: Britz/Jung/Koriath/Müller, Grundfragen staatlichen Strafens: Festschrift für Heinz Müller-Dietz zum 70. Geburtstag, München 2001, S. 213, 220 ff.; Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 2. Aufl., München 1991, S. 87 ff.

[11] So betonte Liszt in seinem "Marburger Programm" nicht nur die Erforderlichkeit einer "Einsperrung auf Lebenszeit (bezw. Auf unbestimmte Zeit)" zum Umgang mit den "Unverbesserlichen" (Liszt, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 1882, S. 1, 39) sondern auch, dass es eine gesellschaftliche Pflicht darstelle, die "Anfänger auf der Verbrecherlaufbahn" durch "ernste und anhaltende Zucht" zu retten (ebd. S. 40 f).

[12] Eser, siehe Fn. 10, S. 224.

[13] Vgl. Frommel, 40 Jahre Strafrechtsreform, Neue Kriminalpolitik 2008, S. 133, 134.

[14] Zur Bedeutung spezialpräventiver Aspekte bei der Wahl zwischen Freiheits- und Geldstrafen vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 5. Aufl. München 2012, Rn. 157; Zur vorrangigen Bedeutung spezialpräventiver Aspekte bei der Strafaussetzung vgl. Streng, Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl., Stuttgart 2012, Rn. 172 ff.; Groß, in: Joecks/Miebach, Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl., München 2012, Vorbemerkung zu den §§ 56 ff., Rn. 1.

[15] Vgl. Jehle, in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetz Bund und Länder, 6.Aufl., Berlin 2013, § 136 Rn. 6 f.

[16] BVerfGE 128, S. 326 ff. = Neue juristische Wochenschrift 2011, S. 1931 ff.

[17] Vgl. Kinzig, Schrankenlose Sicherheit?, Strafverteidiger 2000, S. 330 ff.; Ullenbruch,Verschärfung der Sicherungsverwahrung auch rückwirkend-populär, aber verfassungswidrig, Neue Zeitschrift für Strafrecht 1998, S. 326 ff.

[18] BVerfGE 109, S. 190 ff.

[19] BVerfGE 109, S. 133 ff. = Neue juristische Wochenschrift 2004, S. 739 ff.

[20] Ausführlich zur Geschichte der Sicherungsverwahrung Jehle, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, Strafgesetzbuch Kommentar, 2. Aufl., Köln 2014, Vor § 66 Rn. 2 ff.

[21] BVerfGE 109, S. 133 ff. = Neue juristische Wochenschrift 2004, S. 739 ff.

[22] Vgl. näher Laue, Sicherungsverwahrung auf dem europäischen Prüfstand, Juristische Rundschau 2010, S. 198 ff.; Radtke, Konventionswidrigkeit des Vollzugs erstmaliger Sicherungsverwahrung nach Ablauf der früheren Höchstfrist, Neue Zeitschrift für Strafrecht 2010, S. 537 ff.

[23] EGMR, Neue juristische Wochenschrift 2011, S. 3423, 3427.

[24] BVerfGE 128, S. 326 ff. = Neue juristische Wochenschrift 2011, S. 1931 ff.

[25] Vgl. BVefG, Neue juristische Wochenschrift 2011, S. 1931 ff.; Jehle, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, Strafgesetzbuch Kommentar, 2. Aufl., Köln 2014, § 66 c Rn. 1 ff.; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 5.Aufl., Stuttgart 2012, Rn. 485.

[26] Vgl. Jehle, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, Strafgesetzbuch Kommentar, 2. Aufl., Köln 2014, § 66c Rn. 19.

[27] EGMR, Urteil vom 17.12.2009, Nr. 19359/04, Abs. 69 ff.

[28] Vgl. Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl., München 2011; Karpenstein/Mayer, EMRK Kommentar, München 2012, Art. 5 Rn. 54.

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