Die Beteiligung mehrerer an einer Straftat wirkt nicht selten strafausweitend und straferhöhend für jeden einzelnen Beteiligten. Über die Figur der Mittäterschaft etwa kann man Personen auch dann zur Verantwortung ziehen, wenn sie gar nicht mit eigenen Händen einen gesamten Straftatbestand erfüllt, sondern nur arbeitsteilig zu ihm beigetragen haben. Über die Bestrafung der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung lassen sich Personen im Vorfeld von Straftaten mit zur Verantwortung ziehen, weil sie allein durch einen organisatorischen Beitrag ein Gefährdungspotential erhöhen. Und über die Einordnung als Mitglied einer "Bande" in bestimmten Straftatbeständen erhöht man für alle Beteiligten das Strafmass, einfach weil sie mehrere Beteiligt sind und dadurch ebenfalls gefährlicher erscheinen als sie es als Einzeltäter wären.
Aber nicht um solche Strafausweitungen und Strafschärfungen bei Beteiligung mehrerer soll es im Folgenden gehen, sondern, im Gegenteil, um die - ebenfalls bestehende - Limitierung von Strafe im Falle der Verantwortung mehrerer, also um Verantwortungsstreuung gerade als Strafbegrenzung.
Sind mehrere, vielleicht sogar sehr viele, für eine Straftat verantwortlich, so bezeichnet schon unsere Sprache dies als Verantwortungsteilu/jg. Gleichwohl ist bereits im Prinzip umstritten, ob die Beteiligung mehrerer überhaupt je für die einzelnen Beteiligten entlastend wirken kann. "Niemand soll sich hinter der Gruppe verstecken dürfen", und "Entschuldigungen vom Typus, andere haben es auch getan' oder ,Ich war nicht allein' sollten grundsätzlich nicht akzeptiert werden" schreibt der Ethiker Jean-Claude Wolf, aber nicht ohne gleich hinzuzufügen: "...obwohl es eine starke, vielleicht instinktive Neigung gibt, sich der Last der Verantwortung zu entledigen, indem man andere einbezieht".[1] Gegenüber dieser Haltung eines "Anti-Dilutionismus"[2] wird gerade unter Hinweis auf Grundgedanken des geltenden Rechts die Gegenposition vertreten. Weyma Lübbe zeigt, dass allein schon die strafrechtliche Differenzierung zwischen
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Täterschaft und Teilnahme den Teilnehmenden, wenn es noch einen anderen als Täter gibt, als Gehilfen entlasten kann, was nicht der Fall wäre, wenn dieselbe Person bei gleichfalls bestehender Kausalität und mit demselben Erfolg und derselben erfolgsbezogenen Intention auf einen lediglich naturkausalen Prozess einwirken würde.[3]
Die entlastende Funktion einer Verantwortungsstreuung soll hier näher untersucht werden. Es scheint nämlich, dass das Recht selbst an jener von Wolf so genannten "instinktiven Neigung" teilhat, die Last der Verantwortung beim Handeln mehrerer auf die eine oder andere Weise zu verteilen und dadurch die individuelle Verantwortungslast zu verringern. Die Verantwortungsstreuung vermag offenbar in dreierlei Gestalt aufzutreten: als Verantwortung mehrerer auf der Täterseite (I.), als Mitverantwortung mindestens einer Person auf der Opferseite (II) und schließlich als Mitverantwortung der Zurechnungsinstanz selbst, also des strafenden Staates und seiner Organe (III).
Dass unser geltendes Recht, aber auch allgemeine Rechtsgedanken eher zugunsten einer dilutionistischen Position Stellung beziehen, zeigt sich im Folgenden zunächst bei verschiedenen Typen von Beteiligung mehrerer auf Täterseite. Zu unterscheiden sind hierbei beispielsweise folgende Gründe für eine Verantwortungsstreuung: Der einzelne Beteiligte kann zunächst durch die Beteiligung anderer in eine nötigungsnotstandsähnliche Situation geraten (1). Der einzelne Beitrag kann aber auch von der Rechtsordnung in seinem objektiven Gewicht geringer veranschlagt werden (2). Die einzelne Straftat gerät sodann möglicher Weise durch ihre Ubiquität in die Nähe der Sozialadäquanz (3). Und schließlich vermag die Ubiquität der jeweiligen Straftat dazu zu führen, dass dem einzelnen Bestraften ein - zu kompensierendes - Sonderopfer abverlangt wird (4).
Wer durch einen anderen genötigt wird eine Straftat zu begehen, wird unter den Voraussetzungen eines rechtfertigenden oder entschuldigenden Notstands vor Strafe bewahrt. Aber schon vor den Grenzen einer solchen Notstandssituation kann es Einschränkungen der Freiheit des Einzelnen geben, die zumindest eine Strafmilderung als nicht illegitim erscheinen lassen. Zu denken ist an folgende Konstellationen: Der Einzelne ist in ein "Unrechtssystem" eingebunden (a) oder, unterhalb der Schwelle eines Schuldausschlusses, durch einen beinahe
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ausweglosen milieutypischen Habitus in die Begehung von Straftaten "verstrickt" (b).
a) Die insbesondere berufliche Einbindung in Unrechtssysteme kann zu einer deutlichen Minderung der Entscheidungsfreiheit führen. Dieser Umstand ist deshalb nach der deutschen Rechtsprechung[4] strafmildernd zu berücksichtigen. Das Rechtsbewusstsein der Beteiligten kann geschwächt sein, "wenn der Einsatz verbrecherischer Mittel zur 'politischen' Zweckverfolgung im Schein rechtlicher Allgemeingültigkeit auftritt und unverfolgt bleibt".[5] Auch wenn ein Befehlsnotstand im engeren Sinn nicht besteht, kann das Individuum so sehr in eine Abhängigkeit von zwingenden gesellschaftlichen Strukturen geraten, dass die Einzeltatschuld geringer veranschlagt werden muss als im Fall der Deliktsbegehung im Rechtsstaat.
b) Auch ein milieutypischer Habitus als Grundlage eines von der näheren Umgebung des Delinquenten geteilten Wertemusters kann strafmildernd wirken. Zwar ist dieser Gedanke in verschiedenen Straftheorien unterschiedlich stark ausgeprägt. Gerade in stark präventionsorientierten Straftheorien mag habituelle Delinquenz vor allem angesichts der Gefährlichkeit solcher von der Zustimmung anderer mitgetragener Straftaten auch einen umgekehrten Effekt zeitigen: Solche Straftheorien neigen in bestimmten Fällen von Habitualität, etwa beim Gewohnheitstäter, zu Strafschärfungen. Ein Schuldstrafrecht wird demgegenüber habituell milieubedingte Straftaten im Masse ihres Schuldgehalts geringer einschätzen müssen.
Auch beim geringeren objektiven Gewicht der Tat sind verschiedene Konstellationen zu unterscheiden. Beispielsweise gehören hierzu: die traditionelle Problematik des Regressverbotes (a), das teilweise Abstandnehmen von der Orientierung an der Voraussehbarkeit des Handelns anderer im sog. Vertrauensprinzip (b), der Fall der Handlungspflicht mehrerer Garanten (c) und schließlich die Erscheinung der sog. organisierten Nichtverantwortlichkeit (d).
Beim Regressverbot geht es um das Problem der fahrlässigen Deliktsbeteiligung an einem Vorsatzdelikt. Nach einer älteren Lehre unterbricht das vorsätzliche Eingreifen einer Person in einen von einer anderen Person fahrlässig verursachten Geschehensablauf den Kausalzusammenhang zwischen der Fahrlässigkeitstat und dem Erfolg, während in solchen Fällen heute mitunter eher von
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einem Entfallen der objektiven Zurechnung ausgegangen wird.[6] Offenbar hält man unter den genannten Voraussetzungen das Gewicht einer fahrlässigen Beteiligung an einer vorsätzlichen Tat im Verhältnis zu eben dieser vorsätzlichen Tat für so gering, dass die fahrlässige Tat in der öffentlichen Wahrnehmung sogar gänzlich hinter die Vorsatztat zurücktritt. Der "eigentlich" verantwortliche Vorsatztäter lässt sich in dieser Konstellation so deutlich herausstilisieren, dass sich für die Aufarbeitung der Tat ein Regress auf den weit minder verantwortlichen Fahrlässigkeitstäter erübrigt. Die bloße Mitwirkung des Vorsatztäters entlastet so den Fahrlässigkeitstäter.
Das ursprünglich aus dem Straßenverkehrsrecht stammende Vertrauensprinzip besagt, dass derjenige, der sich selbst verkehrsgemäß verhält, ein solches verkehrsgemäßes Verhalten auch bei allen andern Verkehrsteilnehmern voraussetzen darf, sich also nicht von vornherein auf deren fehlerhaftes Verhalten einrichten muss.[7] Anders als beim Regressverbot sind hier also, zumindest in erster Linie, diejenigen Fälle gemeint, in denen sich ein Taterfolg aus dem Zusammenwirken mehrerer ergibt. Obwohl bei der Begründung der Bestrafung wegen Fahrlässigkeit normalerweise auf die Vorhersehbarkeit eines Taterfolgs abgestellt wird, ja im Mangel an Voraussicht sogar eine Sorgfaltspflichtverletzung bestehen kann, werden in solchen Fällen des Zusammenwirkens die Anforderungen an die Vorhersehbarkeit restriktiver gehandhabt - das allgemeine Vorhersehenkönnen, dass ein anderer sich falsch verhalten könnte, begründet für den im übrigen korrekt Handelnden noch keine Sorgfaltspflichtverletzung und damit auch keine Verantwortung aus Fahrlässigkeit. Jede der hier zusammenwirkenden Taten, soweit sie die jeweils andere Tat nicht in Rechnung stellt und aufgrund der besonderen Umstände auch nicht in Rechnung stellen muss, hat in solchen Situationen ein verschwindend geringes Gewicht, und der Beteiligte wird trotz des fahrlässigen Handelns anderer und seiner eigenen mangelnden Voraussicht entlastet.
Bleiben mehrere Garanten untätig, weil sie sich jeweils darauf verlassen, ein anderer werde schon die erfolgsabwendende Handlung vornehmen, so könnte auch dies die Verantwortung der einzelnen Beteiligten mindern. Jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass auch beim Unterlassungsdelikt je nach Intensität der Pflicht zwischen täterschaftlichem und gehilfenschaftlichem Unterlassen (etwa im Verhältnis der Eltern zum Babysitter, wenn dem Kind etwas zustößt)
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differenziert werden muss[8], dann kann gerade die täterschaftliche Verantwortung des einen Pflichtigen den anderen Pflichtigen in die Rolle des Gehilfen verweisen und ihn dadurch entlasten.
Schließlich wird die Verantwortung einzelner auch dann gemindert, wenn sie in einem großen, oft unternehmerischen Organisationszusammenhang mit ihrer Aufgabe in einer Weise integriert sind, dass sie gar keinen wirklichen Überblick mehr über das Gesamtgeschehen haben. Man spricht in solchen Fällen dann von einer organisierten NichtVerantwortlichkeit. Die Verteilung der organisationsinternen Zuständigkeit für die Verhinderung schädlicher Nebeneffekte ist in einer solchen Situation unzureichend organisiert. Dafür kann es, muss es aber nicht notwendig einen Verantwortlichen geben. Unabhängig davon wird man aber jedenfalls nicht allen, die lediglich für ein Detail des Ablaufs verantwortlich sind, die Verantwortung für das Gesamtgeschehen auflasten können, und zwar nicht einmal dann, wenn sie einen notwendigen Beitrag dafür geleistet haben.[9] Auch hier wird somit durch die breite Streuung der Verantwortlichkeit der Einzelne entlastet.
Mit Ubiquität und Nähe zur Sozialadäquanz sind im vorliegenden Zusammenhang Fälle gemeint, in denen eine Straftat von so vielen Personen ("ubiquitär") begangen wird, dass sie beinahe "sozialadäquat" erscheint. Zwar geht es dabei um Fälle, in denen die Mehrheit keinen ausdrücklichen Entkriminalisierungsentscheid gefällt hat. Sie verhält sich aber so, als ob das jeweilige Verhalten nicht verboten und strafbar wäre. Ein Fall dieser Art war etwa zu beobachten, als in der Schweiz für den Schwangerschaftsabbruch noch die medizinische Indikation galt, die Praxis aber schon durch ein Fristenlösungsmodell bestimmt war und die Gerichte in vielen Kantonen sich auch über Jahrzehnte entsprechend verhielten. Zwar gab es gegenüber dieser Praxis durchaus Widerspruch, so dass von einem gewohnheitsrechtlichen Ausserkrafttreten der Indikationenregelung nicht wirklich die Rede sein konnte. Dennoch dürfte das nahe an der Sozialadäquanz liegende Verhalten geradezu der Mehrheit aller Beteiligten ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Verantwortungsstreuung relevant gewesen sein.
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Sind Straftaten in dieser Weise ubiquitär, so bietet sich noch ein weiterer Grund für die Verantwortungsminderung an: Sofern einzelne Personen dennoch bestraft werden, so mutet deren Herausgreifen aus der Fülle der Personen, welche dieselbe Tat begehen, wenn nicht willkürlich, so doch als ein besonderes Opfer an. Bei einem solchen Sonderopfer muss das Gerechtigkeitsdefizit beachtet werden, das darin liegt, dass trotz Gleichheit im Verhalten eine extreme Ungleichheit in der Sanktionierung stattfindet. Dieses Defizit an Strafgerechtigkeit muss sich bei demjenigen, den man um des Normschutzes willen dennoch bestrafen will, zumindest strafmindernd auswirken.
In der Debatte über die viktimodogmatischen Strafbegrenzungen wird schon seit längerer Zeit erörtert, unter welchen Voraussetzungen die Mitverantwortung des Opfers das materielle Unrecht der Tat ausschließen oder doch vermindern kann. Man nimmt solche Begrenzungen der Strafe beispielsweise an in Fällen der bewussten Selbstgefährdung (1), der geringeren Schutzbedürftigkeit wegen der Möglichkeit zum Selbstschutz (2) und schließlich der Verwirkung wegen entsprechendem Vorverhaltens des Opfers (3).
Den Ausschluss des materiellen Unrechts bei einem Täter, wenn sein Opfer sich bewusst selbst gefährdet, sucht man zumeist über die dogmatische Figur des Fehlens der objektiven Zurechnung zu begründen. Es sei nicht der Schutzzweck der Norm, Menschen vor Verletzungen zu schützen, deren Risiko sie selbst bewusst und gewollt eingingen. Während die eigentlichen Fälle der Einwilligung in die Rechtsgutsverletzung schon viel länger dogmatisch - richtigerweise wohl bereits als Ausschluss des objektiven Tatbestands - erfasst sind, handelt es sich bei der Selbstgefährdung um Fälle, die bei den Betroffenen durchaus mit der Hoffnung verbunden sein können, es "werde schon gut gehen". So gesehen könnte man von Fällen eines "fahrlässigen Einverständnisses" sprechen, die nicht schon die Voraussetzungen einer tatbestandsausschließenden Einwilligung erfüllen. Dennoch wird man, jedenfalls in Extremfällen, die objektive Zurechnung des Taterfolgs verneinen müssen, z.B. wenn jemand sich vom erkennbar betrunkenen Autofahrer nach Hause bringen lässt oder sich beim Bungyjumping an ein Sprungseil festbinden lässt, das, wie die Beteiligten wissen, den Sprung nicht mehr ganz sicher halten kann. Es lässt sich wohl sagen, dass in solchen Fällen die Handlungsfreiheit des selbstverantwortlich das Risiko eingehenden Rechtsgutsträgers nicht wirklich verletzt wird, dass also
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die Mitverantwortung des Opfers die Verantwortung des Täters u.U. gänzlich ausschließt.[10]
Von Viktimodogmatikern wird auch die Auffassung vertreten, dass jemand keinen Schutz des Strafrechts genießen solle, der diesen nicht benötige, weil er sich selbst leicht schützen könne.[11] Die Auffassung, dass in solchen Fällen eine teleologische Reduktion von Tatbeständen zur Straflosigkeit des Täters wegen der Mitverantwortung des Opfers führen könne, dass also z.B. der Betrugstatbestand entfällt, wenn das Opfer der Täuschung besonders leichtgläubig sich selbst schädigt,[12] ist nicht überall auf Zustimmung gestoßen.[13] Dennoch darf inzwischen als weitgehend unbestritten gelten, dass in derlei Fällen der geringere Unrechtsgehalt jedenfalls bei der Strafzumessung berücksichtigt werden darf.[14]
Insbesondere in der Notwehrdogmatik wird eine Rechtsfigur erörtert, die dem mitagierenden Opfer unter Berufung auf den Verwirkungsgedanken eine Mitverantwortung aufbürdet und so den Täter entlastet. Unter dem Stichwort der "Notwehrprovokation" erörtert man dort den Fall, dass das Opfer durch sein Vorverhalten sich selbst die Berufung auf den Rechtfertigungsgrund der Notwehr entzieht. Zwar hat das Opfer den Täter nicht rechtswidrig angegriffen, sonst wäre dieser seinerseits notwehrberechtigt, dennoch ist dem Opfer des Angriffs aber unter dem Gesichtspunkt des "venire contra factum proprium" eine Rechtfertigung aus Notwehr versagt. Die in der vorausgehenden Provokation liegende Mitverantwortung des Opfers schafft eine verwirkungsähnliche Situation. Anders als in den bisherigen Fallgruppen wird hier durch die Mitverantwortung nicht die Strafe begrenzt, sondern ein Rechtfertigungsgrund beschränkt. Dennoch haben wir es auch hier mit einem Beispiel für die Wirksamkeit des Gedankens der Verantwortungsstreuung im geltenden Strafrecht zu tun.
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Auch die Mitverantwortung der Zurechnungsinstanz kann in mehrerlei Hinsichten eine Verantwortungsstreuung bewirken. Zugrunde liegen kann eine allgemeine staatliche Fehlorganisation (1), ein widersprüchliches staatliches Verhalten (2) und schließlich eine notstandsähnliche Situation der Strafverfolgungsbehörden, die im Einzelfall auf Kosten des Täters aufgehoben wird (3).
Ein Staat kann in der Weise fehlorganisiert sein, dass es ganzen Teilen der Bevölkerung von vornherein unmöglich gemacht wird, auf legale Weise einen auch nur durchschnittlichen Lebensstandard zu erreichen. Die Fehlorganisation kann aber auch darin liegen, dass ein "Unrechtsstaat" ein allgemeines Milieu der Verrohung im Umgang der Menschen miteinander hervorbringt. In solchen Situationen wird man zwar nicht davon ausgehen können, dass das einem anderen Individuum angetane Unrecht der Tat geringer ist. Wohl aber kann man sich fragen, ob ein solcher Staat noch ein moralisches Recht zur strafrechtlichen Zurechnung von Straftaten hat, die durch sein Fehlverhalten bedingt sind. Hinsichtlich der Minderung der Verantwortlichkeit von Einzeltätern kann wohl auch unter diesen Umständen all das gelten, was bereits unter I. zum milieubedingten Habitus und zur Verstrickung angemerkt worden ist.
Ein Entfallen des materiellen Unrechts wurde, teilweise sogar in der Rechtsprechung des BGH[15], für Fälle angenommen, in denen der Staat im Interesse der Strafverfolgung zunächst einmal selbst Straftaten provoziert. Um an die Hintermänner krimineller Organisationen etwa im Betäubungsmittelbereich zu gelangen, wurden von staatlichen V-Leuten oder Undercover-Agents zunächst einmal Einzelpersonen zu Straftaten angestiftet. Wenn einzelne Senate des BGH in solchen Fällen zu einer Straflosigkeit der Angestifteten gelangt sind, so mit der Begründung, dass ein selbst Straftaten verursachender Staat das Recht zur Verfolgung von Straftaten verwirkt habe[16]. Die neuere Rechtsprechung sieht in solchen Provokationsfällen nur noch - aber immerhin - eine das Strafmass mindernde Unrechtsverringerung[17].
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Eine gewisse Ähnlichkeit mit den Verwirkungsfällen haben andere Fälle, in denen der Staat zwar nicht die jeweilige Straftat selbst verursacht, sich aus notstandsähnlichen Gründen aber im Rahmen der Strafverfolgung rechtswidriger Taten schuldig macht. Zu denken wäre etwa an einen völkerrechtswidrigen Zugriff auf einen im Ausland lebenden Tatverdächtigen. Hier kann der Beschuldigte dem Staat den aus dem Völkerrecht bekannten tu-quoque-Einwand entgegenhalten. Als praktische Konsequenz bietet sich, ebenso wie in Fällen überlanger Verfahrensdauer, prozessrechtlich ein Verfahrenshindernis an.
Das geltende Recht kennt, so lassen sich die angestellten Beobachtungen zusammenfassen, durchaus eine dilutionistische Position, also eine Verantwortungsminderung durch Verantwortungsstreuung. Die Gründe hierfür sind allerdings in den verschiedenen Fallgruppen, zum Teil auch innerhalb der Fallgruppen, durchaus unterschiedlich. Zum Teil sind es Gründe, die sich problemlos vom herkömmlichen System der strafrechtlichen Zurechnung, also auf den Ebenen von Unrecht oder Schuld, erfassen lassen, zum Teil aber ist es sinnvoll, sie auf einer anderen normativen Ebene von Strafbegrenzungskriterien zu verorten. Im letzteren Fall könnte es sich um spezielle Prinzipien handeln, die aus Erwägungen des Freiheitsschutzes oder der Verteilungsgerechtigkeit heraus trotz Vorliegens von Unrecht und Schuld noch dafür sprechen, einen Täter nicht zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen.
Bei der Mitverantwortung des Opfers (oben II) dürfte unmittelbar das Unrecht der Tat betroffen sein. Wer bei disponiblen Rechtsgütern in die Tatbegehung durch Dritte einwilligt, vereitelt dadurch die Begehung von Unrecht - wer als Opfer einwilligungsähnliche Situationen schafft, verringert demgemäß das Unrecht beim Täter. Insoweit also ist die Kategorie eines die Kriminalisierung begrenzenden normativen Metaprinzips zu einer sinnvollen Strafbegrenzung in derlei Fällen gar nicht notwendig, es reichen vielmehr die gängigen Grenzen der strafrechtlichen Zurechnung hierfür aus. Wir befinden uns deshalb in den Fällen der Mitverantwortung des Opfers nicht jenseits, sondern innerhalb des durch die Kategorien von Unrecht und Schuld umschriebenen Rahmens der strafrechtlichen Debatte. Bei der Mitwirkung der Zurechnungsinstanz (oben III) oder anderer Personen auf Täterseite (oben I) stellt sich jedoch die Situation anders dar.
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Mitwirkung von Staatsorganen an Straftaten mindert offenbar nicht das dem Opfer seitens des Täters angetane Unrecht. Wir empfinden nur den Akt des Zurechnens der Tat durch denselben Gesamt-Akteur, dem auch die Tat zugleich mit zuzurechnen ist, als unfair. Aber auch dort, wo der Staat selbst sich nicht an Straftaten beteiligt, staatliche Rahmenbedingungen jedoch Anreize zum rechtstreuen Verhalten verringern oder gar Anreize zu Verstößen gegen das geltende Recht schaffen, könnte es, so empfinden wir intuitiv, gute Gründe für eine Zurückhaltung bei der Kriminalisierung geben. Es ist gar nicht so einfach, derlei Intuitionen begrifflich angemessen zu erfassen. Am nächsten liegt wohl, im Mitgefühl mit der Situation des Täters den Grund für eine Zurückhaltung bei der Zurechnung von Verantwortung und damit für eine Strafmilderung zu sehen[18].
Zweifel an der Fairness des Verantwortlicherklärens einerseits und Mitgefühl mit der Situation des Täters andererseits sind es also, die uns in Fällen einer Mitverantwortung der Zurechnungsinstanz ein Absehen von der Kriminalisierung angemessen erscheinen lassen. Das aber bedeutet: Nicht die zuzurechnende Tat erscheint durch diese Art von Verantwortungsstreuung in einem anderen Licht, sondern die Zurechnung der Tat - wir befinden uns mit solchen Erwägungen zur Verantwortungsstreuung, wenn wir sie theoretisch einzuordnen suchen, zur zuzurechnenden Tat in einer Metaposition: Die Frage ist also nicht, ob die Tat als solche Nachsicht verdient - das tut sie gerade nicht - sondern ob die Instanz, die mit der Zurechnung betraut ist, dazu noch die Legitimation hat. Daran entzünden sich aus Gründen der Fairness und des Mitgefühls unsere Zweifel. Da aber, wenn die staatliche Zurechnungsinstanz entfällt, im Rechtsstaat auch keine andere Instanz (rächende oder Selbstschutz betreibende Privatleute oder Gruppen) zur strafrechtlichen Zurechnung legitimiert ist, kann die - betrachtet man allein die Tat - an sich verdiente Strafe nicht oder jedenfalls nicht im normalen Ausmaß verhängt werden.
Ähnlich scheint die Situation bei mehreren Verantwortlichen auf Täterseite zu sein. Das Opfer erleidet, so möchte man meinen, auch durch eine solche Verantwortungsstreuung nicht weniger Unrecht - und das ist dann in den Fällen, in denen wir auch nicht eine Schuldminderung feststellen können, der Grund dafür, warum die Verantwortung mehrerer auf Täterseite ebenso wenig wie die Mitverantwortung der Zurechnungsinstanz in unserer üblichen dreigliedrigen
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Zurechnungslehre einen Platz findet. Soweit es solche das normale Ausmaß von Unrecht und Schuld nicht tangierende Fälle der Mitverantwortung mehrerer auf Täterseite gibt, befinden wir uns wie bei der Mitverantwortung des Staates als Zurechnungsinstanz ebenfalls in einer Metaposition zum Gegenstand der Zurechnungslehre. Das Unrecht gegenüber dem Opfer steht dann so wenig in Zweifel wie die Schuld des Täters, wohl aber könnte die Angemessenheit der Zurechnung aus anderen Gründen, die wieder den Akt der Zurechnung als solchen betreffen, zweifelhaft erscheinen.
Gleichwohl trifft dies für die Verantwortungsstreuung auf der Täterseite nur teilweise zu. Es ist hier nämlich bei der Begründung für die Nichtvornahme oder die Reduktion der Kriminalisierung im Einzelnen näher zu unterscheiden: Wenn mehrere für einen Taterfolg verantwortlich sind und die anderen Mitverantwortlichen auch zur Verantwortung gezogen werden, lässt sich die Verantwortungsminderung durch Verantwortungsstreuung jedenfalls nicht mit einem Gerechtigkeitsargument von der Art "es wird hier ungleich zugerechnet" begründen. Gibt es dennoch einen guten Grund, diesen Fall der Zurechnung zu mehreren Verantwortlichen für die Einzelnen verantwortungsmindernd zu berücksichtigen? Ein solcher Grund könnte, wenn überhaupt, in manchen dieser Fälle sein, dass es den Tätern weit schwerer fällt, das Unrecht einer Tat einzusehen, wenn das soziale Umfeld den Beteiligten den Eindruck vermittelt, die vorgenommene Rechtsgutsverletzung sei eigentlich ein akzeptables Verhalten. Letztlich ist dann das durch die Mitwirkung anderer bedingte geringere Unrechtsbewusstsein der Grund für die Verantwortungsminderung. Diese Fallgruppe der Verantwortung mehrerer auf Täterseite, bei der alle Beteiligten wirklich zur Verantwortung gezogen werden, ist also in jenen Grenzfällen, in denen sich wirklich ein Entkriminalisierungsbedürfnis ergibt, im klassischen System der Zurechnung hinreichend zu erfassen. Ein spezielles Metaprinzip braucht insofern nicht erörtert zu werden.
Davon zu unterscheiden ist allerdings eine andere Fallgruppe der Verantwortung mehrerer auf Täterseite: wenn andere, die Gleiches oder Ähnliches tun, überhaupt nicht zur Rechenschaft gezogen werden. In solchen Fällen entsteht ein Gerechtigkeitsproblem bei der Verteilung von Lasten: die einen, die zur Verantwortung gezogen werden, tragen eine Last, die den anderen, deren man nicht habhaft wird oder die aus anderen Gründen nicht strafrechtlich verfolgt werden, gerade nicht auferlegt wird. Dann trägt der, den man verurteilt, an dem dann gewissermaßen ein Exempel statuiert wird, ein zu berücksichtigendes Sonderopfer. Hierfür muss ein Ausgleich erfolgen, und er erfolgt richtiger Weise durch teilweisen, in Grenzfällen wohl sogar vollständigen Sanktionsverzicht.
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Die Verantwortungsminderung ist dann auch hier nicht durch eine Unrechtsoder Schuldminderung bedingt, sondern, wie bei der Verantwortungsminderung wegen Beteiligung der Zurechnungsinstanz, durch Schwierigkeiten mit dem Zurechnungsakt selbst. Die ungeschmälerte Zurechnung erscheint als ungerecht angesichts der ungleichen Verteilung dieser Zurechnung.
Verantwortungsstreuung ist ein die Kriminalisierung begrenzendes normatives Metaprinzip zur Zurechnungslehre in zwei Konstellationen: bei einer Mitverantwortung der Zurechnungsinstanz, aber auch in jenem Fall einer Mitverantwortung mehrerer auf der Täterseite, in dem nicht alle Mitverantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden können. In den anderen Fällen der Mitverantwortung auf der Täterseite ebenso wie in Fällen einer Mitverantwortung auf der Opferseite kann die Verantwortungsstreuung schon mit den Kriterien der klassischen Zurechnungslehre des dreigliedrigen Straftataufbaus hinreichend verantwortungsmindernd erfasst werden. ■
ANMERKUNGEN
[1] Wolf, Utilitarismus, Pragmatismus und kollektive Verantwortung, 1993, S. 135.
[2] Dazu Mellema, Shared Responsibility and Ethical Dilutionism, in: Australian Journal of Philosophy vol. 63 (1985), S. 177ff.
[3] Weyma Lübbe, Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen, 1998, S. 139ff.
[4] BGH NJW 96, 863; vgl. auch Schönke/Schröder/Stree, § 46 Rn. 16.
[5] Köhler, Strafrecht, Allg. Teil, 1997, S. 571.
[6] Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht, Allg. Teil I: Die Straftat, 5. Aufl., 2004, S. 388.
[7] A.a.O., S. 387.
[8] Arzt, Zur Garantenstellung beim unechten Unterlassungsdelikt, JA 1980, 553ff (557f)
[9] Weyma Lübbe (o. Anm. 3), S. 158.
[10] Dazu Roxin, Strafrecht, Allg. Teil, Band 1, 3. Aufl., 1997, S. 510.
[11] Schünemann, Der strafrechtliche Schutz von Privatgeheimnissen, Festschrift für Paul Bockelmann, 1979, S. 130.
[12] Amelung, Irrtum und Zweifel des Getäuschten beim Betrug, GA 1977, 1 ff.
[13] Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten, 1981; ders., Der Einfluss des Opferverhaltens auf die dogmatische Beurteilung der Tat, 1983.
[14] Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten (o. Anm. 13), S. 211 ff.
[15] Übersicht bei Beulke, Strafprozessrecht, 6. Aufl., 2002, Rn. 288
[16] Zum Argument der "unclean hands" bei der Zurechnungsinstanz vgl. A. Duff, Punishment, Communication and Community, 2001, S. 181ff
[17] BGHSt 32, 345; 45, 321.
[18] Von Hirsch, Proportionate Punishment and Social Deprivation, in: ders./Ashworth, Proportionate Sentencing - Exploring the Principles, 2005, S. 62ff. (bes. 65ff.)
Lábjegyzetek:
[1] Universität Basel, Juristische Fakultät
Visszaugrás