Vom formalen Standpunkt aus konnte man sagen, dass auch die arme Partei das Recht auf Zugang zu den Gerichten in gleicher Weise hat wie die vermögende. Niemand hindert die arme Partei, den Weg zu den Gerichten zu beschreiten, wenn sie sich auf irgendeine Weise Geld verschaffen kann, sei es durch ein Darlehen oder sei es durch irgend eine öffentliche Spendenaktion. Man spricht daher auch vom Inhalt des Gleichheitssatzes als dem Gebot der Rechtsgleichheit. Dieses Gebot der Rechtsgleichheit besagte nur, dass arm und reich gleiche Rechte haben und dass die Unfähigkeit der armen Partei, Gerichts- und Anwaltskosten zu bezahlen, nur eine Ungleichheit tatsächlicher Art sei. Die Rechtsgleichheit würde aber niemals verlangen, dass auch gleiche Tatsachen geschaffen würden. Dennoch entwickelte sich die Forderung nach einer égalité en fait, also nach der Gleichheit der sozialen Tatsachen besonders im Hinblick auf die ungleichen Vermögensverhältnisse innerhalb der Gesellschaft. Wenn das Grundgesetz in Art. 6 Abs. 5 davon spricht, dass die Bedingungen der nicht ehelichen Kinder denen der ehelichen gleichgestellt werden müssen, so wird hier nicht nur eine Gleichheit der Rechte, sondern wohl darüber hinaus auch eine Gleichheit der tatsächlichen Verhältnisse gefordert. Dies ergibt sich aus dem Wort: "Gleichheit der Bedingungen". Diese gleiche Wendung zur Tatsachengleichheit hat sich auch auf dem Gebiet der Gleichheit von Mann und Frau vollzogen. Der Grundsatz der Gleichheit der Geschlechter war ursprünglich in Art. 3 Abs. 2 GG nur als Rechtsgleichheit enthalten. Durch eine Novellierung der Verfassung ist aber nunmehr auch die tatsächliche Gleichheit mit den Worten
"Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin," hinzugefügt worden.
Auch ein weiterer Gesichtspunkt hat den Gleichheitssatz ausgedehnt auf die faktische Gleichheit. Aus den arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen und den arbeitsgerichtlichen Verfahren entwickelte sich das Postulat der "Waffengleichheit". Es besagt, dass die Sozialpartner insbesondere Arbeitgeber und Arbeitnehmervereinigungen im Arbeitskampf außerhalb des Gerichtes wie in der gerichtlichen und Arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzung mit gleich starken Waffen kämpfen sollen. Ihnen soll die Möglichkeit vom Recht eingeräumt werden, mit gleichen gerichtlichen rechtlichen und politischen Waffen zu kämpfen. Damit wurde auch die Gleichheit des Zugangs zu den Gerichten besonders hervorgehoben. In Deutschland gibt es darüber hinaus für arbeitsrechtliche Streitigkeiten eine besondere arbeitsgerichtliche Gerichtsbarkeit, die über drei Instanzen - Arbeitsgericht, Landesarbeitsgericht und Bundesarbeitsgericht - organisiert ist. Schon die Herausnahme der Arbeitsgerichtsbarkeit aus der ordentlichen und Zivilgerichtsbarkeit war eine Betonung der Waffengleichheit und der Versuch, gleichen Zugang zu den Gerichten den Sozialpartnern, den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern zu garantieren.
In der Gestalt der Waffengleichheit tritt uns die Chancengleichheit ausschließlich in ihrem funktionalen Teilinhalt entgegen. Denn die Waffen, deren Anwendung chancengleich zugesichert wird, sind nicht Bedingungen, Interessen oder Reflexe, sondern ausgeprägte abgegrenzte Rechte. Gerade das Prozessrecht ist der Sitz dieser funktional verstandenen Chancengleichheit, wie am Beispiel der Rechtsmitte-leinlegung dargetan werden soll. Der Prozessgang als Umformung des Waffenganges hat die Idee der Waffen- und Chancengleichheit am klarsten beibehalten. Zudem steht die prozessuale Chancengleichheit unter dem Gesetz der kleinen Zahl, da vor dem neutralen Richter nur zwei Gruppen handelnd auftreten. Dennoch finden wir auch im geltenden Prozessrecht unvollkommene Einrichtungen, die den Gedanken der Prozessgleichheit oder prozessualen Chancengleichheit nicht voll verwirklichen.[1]
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Im deutschen Verfassungsrecht ist jedermann, also jeder Staatsbürger und jeder Ausländer und somit auch der Staatenlose, gegenüber der öffentlichen Gewalt geschützt. Ihm ist der Zugang zu den Gerichten garantiert und zwar in der Regel zu den Verwaltungsgerichten und zum Verfassungsgericht. Zum Verfassungsgericht ist nach Art. 93 Abs. 1, 4 a GG die Verfassungsbeschwerde eingeräumt, die sich gegen Gesetze, aber auch Verordnungen, Satzungen und Verwaltungsakte richten kann. Sie setzt natürlich voraus, dass der Beschwerdeführer in Rechten oder rechtlichen Interessen betroffen ist, sie ist aber grundsätzlich gebührenfrei. Nur im Falle eines Missbrauches dieses Rechtsbehelfes kann vom Verfassungsgericht eine Missbrauchsgebühr festgesetzt werden. Zwar ist die Verfassungsbeschwerde in der Regel erst zulässig, wenn die übrigen Rechtsbehelfe vor den ordentlichen Gerichten oder den Verwaltungsgerichten erfolglos durchlaufen sind, doch kann in besonderen Fällen der betroffene Jedermann sich auch unmittelbar an das Bundesverfassungsgericht wenden. Er muss den Rechtsweg nicht erfolglos durchlaufen, wenn es sich um eine Grundsatzfrage handelt oder wenn ihm Gefahr droht.
Der erwähnte Art. 19 Abs. 4 GG garantiert aber auch den Rechtsweg gegen die öffentliche Gewalt (vor allem Verwaltungsakte und sonstige Maßnahmen der Verwaltung) vor den Verwaltungsgerichten. Hier besteht grundsätzlich kein Anwaltszwang, so dass auch keine Anwaltsgebühren entstehen. Auch sind die Gerichtsgebühren vor den Verwaltungsgerichten wesentlich niedriger. Armenrecht oder Gerichtskostenhilfe kann aber auch hier gewährt werden. Allerdings muss hier noch erwähnt werden, dass vor dem Berufungsgericht, den Oberverwaltungsgerichten und vor dem Bundesverwaltungsgericht Anwaltszwang besteht.
Der Kreis der Staaten, die von diesem Recht auf den fairen Prozess erfasst werden, geht über die 25 Mitgliedstaaten der EU hinaus und ergreift die 41 Staaten, die der europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten sind. Nicht nur das nationale Recht, sondern Völkerrecht und Europarecht bestimmen zunehmend die Stellung des Einzelnen gegenüber der Staatsgewalt. Es hat sich eine europäische Teilverfassung auf dem Gebiet der Grundrechtsgewährleistung herausgebildet, wenn auch die Gesamtverfassung noch nicht abgeschlossen ist. Das Recht auf fairen Prozess gehört zur gemeineuropäischen Verfassung und bildet ein Kernelement des europäischen Verständnisses von Rechtsstaatlichkeit. Es gibt hierfür drei Rechtsgrundlagen. Einmal die europäische Menschenrechtskonvention, zum anderen das gemeinsame europäische gewohnheitsrechtliche Grundrechtsverständnis und schließlich die europäische Grundrechtecharta.
1. Es liegt ein völkerrechtlicher Vertrag aufgrund der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vor, der seit 1953 in Kraft getreten ist. Hier sind elementare Menschenrechte, Tötungsverbot, Folterverbot und Garantie liberaler Rechte wie Meinungs- und Pressefreiheit garantiert. Daneben bestehen aber auch verfahrensrechtliche Grundrechtsgarantien, die ein gemeinschaftliches System in den Mitgliedsstaaten herbeiführen sollen.
2. Art. 6 EMRK beschränkt den Anspruch auf ein faires Verfahren, also den Zugang zu den Gerichten, nach der Rechtsprechung nicht auf das strafrechtliche Verfahren. Darüber hinaus gewährleistet er auch den Anspruch auf die sog. Prozesskostenhilfe worunter man heute den Anspruch versteht, der früher die Bezeichnung Armenrecht vor Gericht getragen hat. Daneben garantiert ausdrücklich Art. 47 der Grundrechtecharta, dass jedes Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht verhandelt wird, das zuvor durch Gesetz bestimmt wurde. Dazu kommt noch, dass dieser Art. 47 das öffentliche Verfahren innerhalb angemessener Frist einem jeden garantiert. Die Grundrechtscharta hat aber zur Zeit noch keine unmittelbare Wirkung innerhalb der Organe der EU, allenfalls ist es ein Ausdruck für die Selbstbindung dieser Einrichtungen. Mittelbar allerdings kann die Bestimmung dennoch in der Rechtsprechung des EuGH Bedeutung haben, als sie als Ausdruck einer allg. Rechtsauffassung
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angesehen wird (allg. Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts). Dem steht nicht entgegen, dass Art. 6 der EMRK noch nicht geändert oder ergänzt worden ist. Als Voraussetzungen bestehen nach Art. 6 EMRK folgende Forderungen: a/ as Vorhandensein eines unabhängigen Gerichtes (materieller Gerichtsbegriff), b/ Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des entscheidenden Gerichtes. Diese Frage könnte sich hinsichtlich des Problems der Besetzung ohne gerichtliche Bestimmung besonders für den französischen Staatsrat ergeben. Das gleiche gilt für den italienischen Staatsrat aber nicht für das deutsche Bundesverwaltungsgericht. Das gilt vor allem deswegen, weil die Mitglieder dieser Gerichtsbarkeiten sowohl an der gesetzlichen Beratung und Abstimmung als auch an der gerichtlichen Entscheidung mitwirken können.
3. Der Anspruch auf ein faires Verfahren umfasst auch gerade den Anspruch auf den Zugang zu einem Gericht. Dies bedeutet allerdings, dass nur ein Anspruch auf eine Instanz besteht, so dass es kein Recht auf eine Beschwerde, Berufung oder Revision nach der Bestimmung des Art. 6 EMRK gibt. Allgemeine Zugangs- und Fristbestimmungen sind mit Art. 6 ebenfalls vereinbart. Das Recht auf gleichen Zugang zu den Gerichten als Teil des Anspruches auf ein faires Verfahren verlangt auch, dass dem Einzelnen der Zugang nicht aus wirtschaftlichen Gründen unmöglich ist. Die sogenannte Prozesskostenhilfe ist nur eine Form, den Zugang zu ermöglichen. Daneben bestehen andere Formen wie die wirtschaftlich günstige Vertretungsregelung oder die Beratung durch eigene Beratungsstellen. Dies bedeutet eben, dass hier der gleiche Zugang die gleiche tatsächliche Möglichkeit ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers eingeräumt wird. Der Grundsatz der Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens bedeutet, dass die Verfahren genügende Transparenz also Durchschaubarkeit für die Partei haben. Daneben wird auch gefordert, dass sie kontradiktorisch ausgestaltet sind, worunter man vor allem die Waffengleichheit versteht. Dieser Grundsatz der Waffengleichheit bedeutet, dass im Verfahren jedem ausreichende Möglichkeiten der Stellungnahme zu allen entscheidungsrelevanten rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten dieses Verfahrens gewährt wird. Dazu gehört auch, dass der Partei Gelegenheit zur Beantwortung des Vortrages der anderen Seite gegeben sein muss. Auch müssen alle amtlichen Vorgänge allen Gerichtsparteien rechtzeitig übermittelt werden, so dass sie dazu Stellung nehmen können. Der Betroffene muss Fragen stellen dürfen, insbesondere an alle Zeugen und er muss sich während des Verfahrens mit Fragen auch an das Gericht wenden dürfen. Auf diesen Grundsätzen der Waffengleichheit hat in letzter Zeit der Schwerpunkt der Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des EuGH gelegen. Verletzungen dieses Grundsatzes der Waffengleichheit wurden z. B. darin gesehen, dass in Belgien den Betroffenen keine Stellungnahme eingeräumt wurde zum Vortrag des Staatsanwaltes oder dass in Frankreich die Stellungnahme des Staatsanwaltes nur dem Anwalt, nicht aber dem Betroffenen unmittelbar, zugeleitet wurde.
4. Weitere Teilinhalte des Grundsatzes eines fairen Verfahrens sind folgende Ansprüche: das Recht auf rechtliches Gehör, das Recht auf persönliche Teilnahme am Verfahren, anspruch auf Begründung der Entscheidung, keine überlange Verfahrensdauer.
Hier sind auch gerade vom Gerichtshof gegenüber deutschen Gerichten Verfahrensverletzungen festgestellt worden. Dem ist auch der EuGH gefolgt und hat eine Verfahrensdauer von fünf Jahren und sechs Monaten als Verletzung angesehen. Allerdings gilt das nicht absolut, denn maßgebend sind immer die Umstände des einzelnen Falles, so dass auch längere Verfahrensabläufe dem Grundsatz des fairen Prozesses noch entsprechen können. Ein wichtiges Problem hat die Frage dargestellt, ob Auskunftspflichten betroffener Unternehmen hinsichtlich der Kartellsituation gegenüber den Behörden als Selbstbelastungen durch Art. 6 ausgeschlossen seien.
5. Allerdings ist Art. 6 im Gemeinschaftsrecht nur Erkenntnisquelle, nicht Rechtsquelle für das Gemeinschaftsrecht und den europäischen Gerichtshof. Auch unterscheiden sich beide Rechtskreise hinsichtlich der Durchsetzung. Art. 6 der EMRK kann nur zu einem Schadenersatzanspruch führen, während die Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofes in Luxemburg berechtigt ist, die verletzende nationale Rechtsnorm für unwirksam zu erklären. Der Anspruch auf einen fairen Prozess, der auch den Anspruch auf gleichen Zugang zu den Gerichten zentral mit umfasst ist somit ein Anspruch, der sich im Kern auf Rechtsvorschriften in Europa, aber auch auf solche des nationalen Rechtes zurückführen lässt.
Art. 6 der Konvention ist die Vorschrift, die bisher am meisten als verletzt gerügt wurde. Sie enthält eine Reihe von Detailvorschriften die sich aber zunächst hauptsächlich auf das Strafverfahren beziehen. Nach der Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sind diese Vorschriftteile aber auch außerhalb des Strafverfahrens anwendbar, so insbesondere im Verwaltungsgerichtsprozess. Diese einzelnen Normierungen in Art. 6 sind nur Ausdruck eines allgemein umfassenden Rechtsanspruches auf
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effizienten und fairen Prozess, der allen gleichmäßig zugänglich sein muss. Also kann man von einem Anspruch auf allgemeinen effizienten Zugang zu den Gerichten als durch Art. 6 garantiert sprechen. Dieser Anspruch zusammen mit anderen Ansprüchen, die sich auf Art. 6 beziehen und auf ihm beruhen können als gemeineuropäisches Recht auf einen fairen und effizienten Prozess angesehen werden. Sie sollen den Zugang zu einem neutralen und objektiv entscheidenden Gericht sichern. Auch das europäische Gemeinschaftsrecht, das sich ja unabhängig von der Menschenrechtskonvention entwickelt hat, basiert ebenfalls auf dem Grundsatz der Garantie eines allg. umfassenden Rechtes auf ein effizientes und faires Verfahren. Es beruht auf den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten und der entsprechenden Gewährleistung der europäischen Menschenrechtskonvention also Art. 6. Sie ist also ein allgemeines Gemeinschaftsrecht mit Gemein-schaftsverfassungsrang. Die Unterschiede dieses gemeineuropäischen Gemeinschaftsgrundrechtes zum Art. 6 bestehen aber in zwei Hinsichten.
Einmal ist das europäische Grundrecht auf ein faires Verfahren von Haus aus nicht auf strafrechtliche Verfahren beschränkt und zum zweiten kommt diesem gemeinschaftlichen Grundrecht auf ein faires Verfahren Vorrang vor allen Rechten der Mitgliedstaaten der Union zu. Demgegenüber ist der Rang der europäischen Grundrechte in der Konventionsurkunde in den einzelnen Staaten verschieden. In Österreich gelten sie als Verfassungsnormen, in Frankreich kommt ihnen ein höherer Rang als den einfachen Gesetzen zu. In Deutschland und Italien gelten Art. 6 und die anderen Bestimmungen der europäischen Menschenrechtskonvention nur mit dem Rang eines einfachen Gesetzes. Demgegenüber hat die europäische Grundrechtscharta den Rang von europäischem Gemeinschaftsrecht auf der Ebene der Verfassung und damit Vorrang vor den nationalen Rechtsordnungen. Die Charta geht zurück auf die Arbeit der europäischen Verfassungskonvention unter der Leitung des deutschen Ex-Bundespräsidenten Roman Herzog.
Von den acht erwähnten Rechts- oder Erkenntnisquellen für die europäische Grundrechtecharta sind für uns vier von Bedeutung. Die gemeinsame europäische Tradition, die EMRK, die Entscheidungspraxis der beiden europäischen Gerichtshöfe in Straßburg und Luxemburg. Auf sie wird auch in der Präambel zur europäischen Grundrechtecharta ausdrücklich hingewiesen. Von besonderer Bedeutung ist die europäische Verfassungstradition, die sich vor allem auch in der Spruchpraxis der beiden europäischen Gerichtshöfe niederschlägt. Vor allem hat der europäische Gerichtshof in Luxemburg sich wiederholt auf diese Tradition berufen, wenn er die Grundprinzipien der europäischen Union entwickelt. Zwar findet sich das hier diskutierte Rechtsgut, der freie und gleiche Zugang zu den Gerichten in Art. 6 EMRK garantiert, doch kann diese Bestimmung vom europäischen Gerichtshof in Luxemburg nicht unmittelbar angewandt werden, da die EU nicht zu den 45 Unterzeichnerstaaten der Konvention gehört. Deshalb ist es für die Rechtsprechungs- und Spruchpraxis von Bedeutung, ob hier auf die europäische Verfassungstradition zurückgegriffen werden kann. Weiterhin muss die Frage aufgeworfen werden, ob auch Art. 47 der europäischen Grundrechtecharta nicht ein Niederschlag der europäischen Verfassungstradition ist, so dass er als Interpretationshilfe auch bei der Rechtsprechung in Straßburg herangezogen werden kann.
Eine europäische Verfassungstradition würde eine rechtsvergleichende Studie der Entwicklung der einzelnen Verfassungsinstitute vor allem der Grundrechte voraussetzen, was hier nicht geleistet werden kann. Ich beschränke mich daher auch beim Thema meines Beitrages entsprechend auf die deutsche Rechtsentwicklung, wie bereits oben ausgeführt, die aber für unser Problem nicht uninteressant ist. Dabei ist vorauszuschicken, dass neben der belgischen Verfassung von 1831 die Grundrechtserklärung der Frankfurter Paulskirchenverfassung von 1849 den größten grundrechtlichen Einfluss auf die Diskussion des Jahrhunderts gehabt haben. Hinzu kamen die großen Prozessgesetze der Zivilprozessordnung und der Strafprozessordnung. Die deutsche Doktrin sprach daher von der Einräumung der "Justizgewährgarantie", worunter man das allg. anerkannte Recht nicht nur auf den Zugang zu den Gerichten sondern auch auf die gerichtliche Entscheidung ansah. Interessant ist nun, dass der Begriff der Garantie des Zugangs zu den Gerichten mehr auf den Beginn des Prozesses, der Begriff der Justizgewährleistung mehr auf den Abschluss des Prozesses abzielt. Ein dritter Gedanke stammt aus dem englischen Recht und zwar aus der Garantie des "fair trial", der den Lauf des Prozesses im Auge hat. "Fair trial" wird von der Grundrechtscharta als "effektiver Prozess" übersetzt, was den Begriff der Fairness nicht ganz oder nur zum Teil abdeckt. Denn "fair trial" bedeutet vor allem Waffengleichheit während des Verfahrens, so dass beide Parteien die gleichen Chancen vor Gericht haben. Art. 47 enthält auch bedeutende Elemente dieses Gedankens "fair trial", denn nicht nur der Begriff der Effektivität weist darauf hin, sondern das Recht sich zu beraten, zu verteidigen und vertreten zu lassen sowie vor allem
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die Notwendigkeit der Einräumung des Prozesskostenhilferechtes. Dem letzteren Begriff ist sehr früh im deutschen Recht Rechnung getragen worden, wenn auch dieses Institut unter dem Namen "Ar-menrecht"[2] lief. Heute ist dieses Prozesskostenhilfe-recht in der ZPO § 114 ff reformiert worden und den modernen sozialstaatlichen Ansprüchen angepasst. Es bildet ein wichtiges Element der Chancen- und Waffengleichheit. Im deutschen Recht hat sich aber auch noch der Gedanke der kostenfreien Klage und der Popularklage erhalten, zwei Gedanken die den Zugang zu den Gerichten wesentlich erleichtern. Die aus dem römischen Recht stammende Popular-klage - jeder Bürger (quivis ex populo) kann klagen ohne verletzt sein zu müssen - besteht heute noch im bayerischen. Verfassungsrecht als Popularklage gegen Landesgesetze (Art. 98 S. 4 BV) fort.
Ähnlich wie die Popularklage nach dem bayerischen Recht - sie besteht auch im ungarischen Verfassungsrecht - ist auch die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a und b kostenfrei. Die europäische Grundrechtecharta hat allerdings die Verbandsklage, die mit der Popularklage vergleichbar erscheint, nicht übernommen. Im Sinne der Waffen- und Chancengleichheit sind somit kostenfreie Verfassungsbeschwerde, Popularklage oder Verbandsklage wichtige Instrumente geworden. Wenn auch die Grundrechtecharta keine Verbandsklage kennt, so ist doch Art. 47 der Charta ein wesentlicher Fortschritt gegenüber der Regelung des Art. 6 EMRK. Der Grundrechtsschutz, der sowohl von Art. 6 EMRK als auch von Art. 47 der Charta angesprochen wird, gehört zu den wichtigsten freiheitlichen Bereichen, die von den Urkunden geschützt werden. Eine deutsche Kommentierung umfasst 160 Seiten in Bezug auf Art. 6 EMRK[3]. Zum entsprechenden Art. 47 der Charta liegen noch keine ausführlichen Kommentierungen vor, doch ist zu erwarten, dass auch hier die Kommentierung einen großen Umfang einnehmen wird. Die Erweiterung der Regelungs-sachverhalte, die in Art. 47 gegenüber Art. 6 EMRK aufgenommen wurden, ist beachtlich. Wie aktuell eine solche Erweiterung ist zeigt sich am Merkmal der Gesetzmäßigkeit der Einrichtung unabhängiger und neutraler Gerichte. Selbst hier ist die Charta noch nicht eindeutig genug, denn sie sagt nicht, dass die Gerichte bereits vor der Begehung der Handlung errichtet sein müssen, welche sie aburteilen sollen. Dies würde genau dem Grundsatz entsprechen, den der deutsche Jurist Feuerbach mit dem Satz nulla poena sine lege[4] ausgedrückt hat und der nunmehr in Art. 49 seine Verankerung gefunden hat. Dieser Grundsatz gilt nicht im Common Law, worauf bereits die Nürnberger Prozesse deutlich hingewiesen haben. Es ist evident, dass hier ein großer Unterschied zwischen der angelsächsischen und der kontinentaleuropäischen Rechtsauffassung klafft. Um ad hoc-Prozesse politischer Art zu vermeiden, muss größter Wert darauf gelegt werden, dass die Bestimmung des Art. 47 der Charta so ausgelegt wird, dass Verhandlungen, die vor der Errichtung der entsprechenden Gerichtsbarkeit vorgenommen wurden, nicht unter die Kompetenz des Gerichtes fallen können. Hier zeigt sich, dass der so positiv aufgenommene Begriff des "fair trial" durchaus zu Problemen führen kann, weil er in Kontinentaleuropa in dieser weiten Bedeutung auf größte Bedenken stößt, da hier das Gesetz und nicht der Richterspruch ausschlaggebend ist für das Prozedere. Man darf hier auch nicht mit dem Begriff der "Natur der Sache" argumentieren und behaupten, dass im Sachverhalt selbst gleichsam naturrechtlich auch die Strafgerechtigkeit und die Strafbarkeit einer Handlung als "Rule of the Case" beschlossen liegt. Die Idee der Waffen- und Chancengleichheit wäre damit auch aufgegeben, weil immer nur die eine Seite, die siegreiche, in der Lage wäre ein Gericht zur Aburteilung des unterlegenen Teiles durch ein eigenes aufgezwungenes Gesetz zu errichten. Allerdings bringt Art. 49 Abs. 2 einen Gedanken ein, der vom Common Law angeregt den Grundsatz nulla poena relativieren könnte. Denn nach dieser Bestimmung soll eine Strafbarkeit auch dann ohne das Vorliegen einer lex möglich sein, wenn die Handlung oder Unterlassung zur Zeit ihrer Begehung nach den allgemeinen, von der Gesamtheit der Nationen anerkannten Grundsätzen strafbar war. Dabei bleibt nämlich offen, welche Rechtsnatur diese allgemeinen Grundsätze haben sollen.
Abschließend soll bemerkt werden, dass die Regelung des Art 47 der europäischen Grundrechtecharta auch heute schon von rechtlicher Relevanz ist, auch wenn die Charta selbst noch nicht als bindendes europäisches Verfassungsgesetz angesehen werden kann. Denn einmal stellt sich diese Regelung wie die ganze Charta als Selbstbindung der europäischen Organe dar und bewirkt die sog. Beweisumkehr in jedem Prozess, in dem sich der Kläger auf die Grundrechte der Charta berufen kann. Sieht man aber im Art. 47 schon heute den Ausdruck eines gemeinschaftlich-europäischen Verfassungsrechtes, dann ist er jetzt schon als verbindliches europäisches Recht anzusehen.
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NOTEN
[1] Vgl. hierzu auch H. Scholler: Die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot oder als Gebot der Chancengleichheit. Berlin 1969
[2] Siehe dazu auch Scholler H.: Die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot oder als Gebot der Chancengleichheit. Berlin 1969. S. 30 ff.
[3] Frowein, Jochen - Peukert, Wolfgang: Europäische Menschenrechtskonvention. 2. Aufl., Kehl u.a. 1997
[4] Siehe dazu Gustav Radbruch: Gesamtausgabe. Band 6. Feuerbach, hrsg. von Gerhard Haney.
Lábjegyzetek:
[1] Der Autor kommt aus München.
Visszaugrás