Ist man auf die theoretischen Reflexionen neugierig, befindet man sich auf einem ziemlich weiten Feld. Auf einem Feld, das angefangen von den fachlichen Reflexionen des Rechts im engeren Sinne (z.B. Finanzlehre, privatrechtliche und strafrechtliche Dogmatik) auch viele andere, allgemeine, theoretische Sichtweisen (Jurisprudenz, Rechtsphilosophie, Rechtslehre, Rechtsdogmatik, rechtliche Methodenlehre, Rechtstheorie, Rechtssoziologie) umfasst.[2] Man darf jedoch nicht vergessen, dass es "Mitdisziplinen" gibt (Ethik, Politikphilosophie, Soziologie, Sozialphilosophie und Sozialtheorie), in deren Namen zwar kein Hinweis darauf enthalten ist, die aber häufig auf die Problematik des Rechts ausblicken. Von diesem ziemlich weiten Horizont werden hier folgende Teilgebiete kurz behandelt:
a) Erscheinen der Disziplinen der Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie
b) der Versuch Niklas Luhmanns, der die soziologische Theorie des Rechts -die Disziplinen der Rechtstheorie und der Rechtssoziologie etwa quer durchgeschnitten - in einem bestimmten gesellschaftstheoretischen Rahmen erörterte.
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Obwohl in der Verbreitung des Begriffs 'Rechtsphilosophie' das Lehrbuch des Göttinger Privatrechtlers Gustav Hugo (Lehrbuch des Naturrechts als einer Philosophie des positiven Rechts, besonders des Privatrechts, 1798) die Schlüsselrolle gespielt hat, erschien der Begriff als Buchtitel in lateinischsprachigen Studien bereits früher.[3]
Zuerst tauchte er 1650 im Titel einer Leipziger Arbeit auf, die eine Sammlung von juristischen Dissertationen rechtstheoretisch-rechtsphilosophischen Charakters veröffentlichte (Philosophia juris, vera ad duo haec de potestate ac obligatione, ut summa ac prima, quae definire intendit omnis jurisprudentia, capita, universum hujus systhema referens). Der Herausgeber des Bandes, Franciscus-Julius Chopius setzte sich zum Ziel, im Band Schriften zu veröffentlichen, die näher zum positiven Recht stehen als die gewöhnlichen naturrechtlichen Studien. Die nächste ist eine frühe Arbeit von Christian Thomasius (Philosophia juris, ostensa in doctrina de obligationibus et actionibus, 1682), die sich unter dem Stichwort Rechtsphilosophie die Schaffung des Gleichgewichts zwischen praktischer Philosophie und Römischem Recht zum Ziel setzte. Beide Autoren waren Juristen, und mit dem neu eingeführten Begriff der Rechtsphilosophie machten sie den Versuch, eine Brücke zwischen dem positiven Recht und der abstrakten philosophischen Position zu schlagen. Thomasius benutzte übrigens den Ausdruck später nicht mehr. Als die nächste wichtige Arbeit ist die Dissertation von Johannes Godofredus Hartungius (Philosophiam iuris seu iurisprudentiae prolegomena ex fonte philosophiae moralis deducta, 1711) zu erwähnen, die ausgesprochen als Alternative zum Naturrecht abgefasst wurde, und gerade deshalb vom Verfasser mit 'philosophia juris' betitelt wurde.
Das Zeichen der Wende in der Begriffsbenutzung kann in den Werken von Gottfried Achenwall beobachtet werden (Elementa juris naturae, 1750; Prolegomena juris naturalis, 1758), in denen der Verfasser das Naturrecht als praktische Philosophie bzw. 'jus philosophicum' bestimmte. Und da verlor schon der Begriff der Rechtsphilosophie die Verbindung mit dem positiven Recht.
In deutscher Sprache verwendete Gottlib Hufeland als erster den Ausdruck "Philosophie des Rechts", und hier erschien erneut die Verbindung mit dem positiven Recht. In seinem Werk Versuch über den Grundsatz des Naturrechts (1785) grenzte Hufeland das Naturrecht klar von der Rechtsphilosophie ab, und den letzteren Begriff wendete er ausdrücklich im systematischen bzw. historischen Zusammenhang an. Im System platzierte er die Rechtsphilosophie zwischen dem Naturrecht und der Rechtsdogmatik (positives Recht). Die Rechts-
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philosophie, diese neue Wissenschaft, untersucht den Übergang vom natürlichen Zustand, in dem das Naturrecht gilt, in den gesellschaftlichen Zustand /in Hufelands Begriffsbenutzung: staatlicher Zustand/, in dem das positive Recht gilt, und sie befasst sich mit der Erfassung dessen, was der Staat ändern oder nicht ändern darf. Im historischen Zusammenhang verstand er unter Rechtsphilosophie die Behandlung des Römischen Rechts vor Grotius, bzw. in seiner 1790 erschienenen Arbeit (Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften) die bis Mitte des 16. Jahrhunderts bestandene Mischung von Naturrecht und praktischer Philosophie.
Gegen Ende der 1700-er Jahre enthielten schon mehrere Bücher den Ausdruck "Rechtsphilosophie" im Titel, aber er wurde in weiten Kreisen durch die bereits erwähnte Arbeit vom Kantianer Gustav Hugo bekannt, in der der Verfasser den Versuch unternahm, das Naturrecht mit der Rechtsphilosophie zu verbinden. Er beschrieb die Lage der Rechtsphilosophie wie folgt: In der Einteilung der Philosophie in Logik, Physik und Ethik scheint es natürlich, dass wir die Philosophie des positiven Rechts mit der Letzteren verbinden, weil sie sich mit der freien Handlung der Menschen befasst und hinterfragt, was sein soll. Gewissermaßen ist aber auch die Natur ein Gegenstand der Philosophie des positiven Rechts, weil sie die Wirkung der Rechtsnormen behandelt, und diese hängt nicht vom Willen des Subjekts ab, das die Rechtsnorm schafft oder beobachtet.[4]
Vom Anfang des 19. Jahrhunderts kam der Terminus "Rechtsphilosophie" schon sehr häufig vor, und wurde in einem sehr weiten Spektrum verwendet, angefangen von Forschungen des positiven Rechts bis hin zu den klassischen naturrechtlichen Abhandlungen. Im 1821 erschienenen Buch von Hegel (Grundlagen der Rechtsphilosophie) umfasste die Rechtsphilosophie die Problematik der Umsetzung sowohl der Rechtsidee als auch des Rechts, aber unter Umsetzung verstand Hegel nicht die empirische Wirklichkeit des positiven Rechts, sondern die unter dem Begriff der Rechtsidee zusammengefasste Wirklichkeit, also irgendeine ideale Umsetzung. Und damit öffnete sich der Weg - was sich an der späteren Begriffsgeschichte schon zeigt - zur Trennung des Terminus "Rechtsphilosophie" vom tatsächlich funktionierenden Recht.
Weder die Geschichte der Rechtstheorie noch die Geschichte der Rechtssoziologie ist eine lange Geschichte. Die Rechtstheorie als die besondere theoretische Reflexion des Rechts sonderte sich von der Rechtsphilosophie ab, die im 19. Jahrhundert praktisch eine Beschäftigung mit dem Naturrecht bedeutete. August Wilhelm Meyer war der erste, der 1788 den Begriff "Rechtstheorie" in der Bedeutung verwendete, die dann für den größten Teil des 19. Jahrhunderts
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charakteristisch wurde. Diese Verwendungsmethode betonte die Trennung der Theorie von der Praxis. Man sprach also von Rechtstheorie, wenn sich jemand mit dem Recht nur in der Theorie befasste und von der Rechtspraxis absah. Später verstand man unter Rechtstheorie ausgesprochen die Grundlagen der Rechtswissenschaft. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurden die Ausdrücke Rechtstheorie, Rechtslehre und Rechtswissenschaft häufig in der gleichen Bedeutung verwendet. Blickt man auf diese Jahrzehnte zurück, kann man sagen - und das zeigt sehr charakteristisch den Unterschied zur naturrechtlich ausgerichteten Rechtsphilosophie -, dass die Entstehung der Rechtstheorie als die Entstehung der an der positivistischen Rechtsauffassung ausgerichteten Rechtstheorie aufgefasst werden kann (Brockmöller 1997, 27-33). Während die Rechtsphilosophie den normativen Aspekt des Denkens über das Recht (wie das Recht sein soll) hervorhob, und - als ein Zweig der Philosophie - notwendigerweise auf dem Gebiet der Wissenschaft nicht platziert werden konnte, trachteten die Rechtstheoretiker danach, "das Recht als soches und das jeweilige Rechtssystem in seinen realen Funktionsabläufen zu erkennen und zu beschreiben." (Rüthers 1999:7). Das heißt, die Rechtstheorie ist ein wissenschaftliches Unterfangen. Das hat zur Folge, dass sie die Kriterien der Wissenschaftlichkeit erfüllen muss: sie muss systematisiert und rational überprüfbar (kontrollierbar) sein, andere Wissenschaftler (mit anderen Absichten und Voraussetzungen) sollen sie testen können, also kurz: die Wahrheitsfrage soll an ihre Behauptungen gestellt werden können.
Betrachten wir nun die andere Disziplin, die Rechtssoziologie. Der Begründer der gegen Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Soziologie war Comte, aber ihre anderthalb Jahrhundert lange Geschichte wurde eher durch die Tätigkeit von Durkheim und Weber geprägt. Die Rechtssoziologie ist ein innerhalb der Soziologie abgegrenztes Gebiet, ihre Lage ist ähnlich wie die von anderen "Soziologiezweigen" (z.B. Lernsoziologie, Wissenschaftssoziologie, Religionssoziologie, Politiksoziologie usw.). Diese, auf bestimmte Teilgebiete der Gesellschaft spezialisierten soziologischen Untersuchungen entstanden im 20. Jahrhundert. Die Entstehung der verschiedenen Fachsoziologien war sozusagen eine "natürliche" Folge der allgemeinen Einstellung, welche die soziologischen Forschungen motivierte. Die Soziologie war nämlich nicht auf Ideen neugierig, sondern sie wollte Kenntnisse über die reale Funktionsweise der Gesellschaft erwerben. Und weil die untersuchte Gesellschaft (konkret: die moderne Gesellschaft) das Bild einer zusammengesetzten (komplexen) Gesellschaft zeigte, konnten die Kenntnisse über ihre reale Funktion nicht mehr durch die Erforschung der Gesellschaft 'im Allgemeinen' erworben werden. Es schien notwendig eine Forschungsstrategie einzusetzen, die sich auf die einzelnen Teilgebiete konzentriert.
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Halten wir nach den Vorboten der rechtssoziologischen Sichtweise Ausschau, können wir - wenn wir als allgemeinen Ausgangspunkt akzeptieren, dass die Rechtssoziologie die Beziehung zwischen Recht und Gesellschaft reflektiert -auch an die 'Vertragstheorien' denken, da diese gesellschafts- und politikphilosophischen Vorstellungen die Gesellschaft auf die Grundlage eines bestimmten Rechtsverhältnisses (Vertrag) stellen. Übrigens sah man die Beziehung zwischen Gesellschaft und Recht nie so eng, wie dies durch die vertragstheoretischen Ideen nahe gelegt wurde. Wollen wir aber nicht so weit in die Vergangenheit zurückgehen, müssen wir wenigstens das Buch von Maine (Ancient Law, 1861) erwähnen, das ebenfalls erwägenswerte Gedanken und historisches Material für eine mögliche rechtssoziologische Annäherung lieferte. Mit dieser Anmerkung möchte ich zugleich darauf hinweisen, dass sich die Rechtssoziologie auf eine Varietät der Rechtsgeschichte stützen konnte, die unter Rechtsgeschichte nicht einfach die Geschichte der Rechtsnormen versteht, sondern die Geschichte der geltenden, also wirksam funktionierenden Rechtsnormen untersucht.
Es ist ein wissenschaftsgeschichtlicher Gemeinplatz, dass der Gründer der Rechtssoziologie als selbständiger Wissenschaftszweig der Rechtswissenschaftler Eugen Ehrlich war.[5] Ehrlich kam nicht als Soziologe auf die Erkenntnis, dass die Rechtssoziologie ein wichtiges Teilgebiet der Soziologie sei, sondern er formulierte als Rechtswissenschaftler (er lehrte an der Universität Römisches Recht) den Gedanken, dass man bei der Erklärung der Funktionsweise des Rechts mit der rechtstheoretischen Konvention brechen und sich auf die Analyse nicht des positiven, sondern des 'lebendigen' Rechts (Gewohnheitsrecht) stützen müsse. Nicht einfach die Entstehung der Rechtssoziologie kann
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mit seinem Namen verbunden werden, sondern Ehrlich stellte die Rechtssoziologie - anders als z.B. Jhering oder Roscoe Pound - in seinem Werk Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913) geradewegs als die Grundlegung der Rechtswissenschaft dar. Ehrlich hatte zwar einen erheblichen Einfluss auf das Rechtsdenken des 20. Jahrhunderts,[6] trotzdem wurde ihm in der europäischen Denkgeschichte auf dem Gebiet der Rechtssoziologie im engeren Sinne - Jahrzehnte lang - wenig Aufmerksamkeit geschenkt.[7] Dass sich die Forscher der Rechtssoziologie wenig auf Ehrlich stützten, kann vielleicht auch damit erklärt werden, dass die Rechtssoziologen in erster Linie Soziologen und keine Rechtswissenschaftler waren, und ihnen deshalb die Klassiker der Soziologie viel wichtiger erschienen. Ganz konkret geht es um den Zug in der Tätigkeit von Durkheim, in dem er den gesellschaftlichen Kontext der Normen und der Normativität untersuchte, bzw. um die rechtssoziologische Analyse von Max Weber.[8] Bezüglich der deutschen rechtswissenschaftlichen Rezeption war von entscheidender Bedeutung, dass der erste Kritiker der Idee von Ehrlich gerade Kelsen war, dessen Ablehnung - größtenteils seinem wissenschaftlichen Ansehen zu verdanken - das deutsche rechtswissenschaftliche Denken Jahrzehnte lang in erheblichem Maße prägte. Übrigens auch sein erfolgloser Versuch zu habilitieren, ist ein Beweis dafür. 1919 erkundigte er sich bei Eugen Huber, ob es möglich sei, in Bern im Fach Rechtssoziologie habilitiert zu werden, aber Huber wies den Antrag ab.
Die erste Runde des Kompetenzstreits zwischen Rechtssoziologie und Rechtstheorie ist an der in den zehner Jahren zwischen den beiden Klassikern der Rechtswissenschaft, Ehrlich und Kelsen, entfachten Diskussion festzumachen, und diese Diskussion hatte lange Zeit einen Einfluss darauf, dass die Rechtssoziologie als eine Position außerhalb des Rechtspositivismus erschien.[9] Ehrlich
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ging davon aus, dass das Recht eine gesellschaftliche Erscheinung sei, deshalb hielt er die Rechtssoziologie für die wissenschaftliche Theorie des Rechts. Kelsen betonte demgegenüber, dass die rechtliche Begriffsbildung - unter anderen - die soziologischen Elemente loswerden müsse, und zwar deshalb, weil die Rechtswissenschaft eine normative Wissenschaft sei. Dazu diente die entschlossene Trennung von "Sein" und "Sollen", auf welcher Grundlage Kelsen das Recht nur als Norm in Betracht zog und nur als solche für einen Gegenstand der Rechtswissenschaft hielt. Kelsen bestritt nicht, dass "Sein" und "Sollen" in der sozialen Wirklichkeit mit einander verbunden sind, und dementsprechend leugnete er die wissenschaftliche Zuständigkeit der Rechtssoziologie nicht. Aus methodischer Sicht hielt er jedoch die Trennung für unumgänglich, damit die von ihm empfohlene 'Reine Rechtslehre' nicht zur Rechtssoziologie werde, mit anderen Worten: um die Möglichkeit der von der Rechtssoziologie verschiedenen Rechtswissenschaft (die Rechtstheorie) vorzubehalten. Kelsen diskutierte aber mit Ehrlich nicht nur über die Unterscheidung der Rechtssoziologie von der Rechtstheorie, sondern auch darüber, dass seiner Meinung nach die Rechtssoziologie von Ehrlich - mindestens teilweise - überhaupt keine Rechtssoziologie sei, und zwar dort und insoweit, wo sie dem Juristen nicht folgt, wo sie gesellschaftliche Erscheinungen in die Untersuchung einbezieht, die von dem Juristen aus Sicht der Norm außer Acht gelassen werden. Und damit ist die für die Rechtssoziologie wichtige Frage formuliert, was der Rechtssoziologe bei der 'gesellschaftlichen Komponente' in Betracht zu ziehen habe? Das, was der Jurist selber - sei er Gesetzgeber oder Rechtsanwender - in Betracht zieht, oder all das, was für den (außerhalb des Rechts stehenden) soziologischen Forscher des Rechts ein relevanter gesellschaftlicher Faktor ist?
Der Streit zwischen Ehrlich und Kelsen bestimmte nachhaltig die Forschungsrichtung der rechtssoziologischen und der rechtspositivistischen Rechtstheorie, und er trennte sie eindeutig von einander. Infolgedessen erschienen der rechtssoziologische und der rechtspositivistische Standpunkt Jahrzehnte lang als einander polar gegenüber stehende Traditionen. Nur Max Weber und Theodor Geiger betrachteten die Rechtssoziologie nicht in dieser Polarität, in dieser Hinsicht kann nur ihre Tätigkeit erwähnt werden. Auch Luhmann richtete seine theoretische Tätigkeit auf die Umgestaltung dieser Polarität, indem er vom rechtspositivistischen Standpunkt eine eigenartige rechtssoziologische Auffassung entwickelte, und zwar die soziologische Auffassung der Rechtstheorie. Worin die soziologische Auffassung der Rechtstheorie besteht und welche Unterschiede sie zur traditionellen Rechtstheorie und Rechtssoziologie aufweist, wird im Folgenden durch die Darstellung der diesbezüglichen Vorstellungen von Luhmann untersucht.
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Luhmann erklärte schon in seiner 1972 veröffentlichten Monografie Rechtssoziologie eindeutig - und sorgte damit für nicht geringe Verwirrung von Lesern, die sich am Buchtitel orientierten -, dass seine Arbeit nicht mit rechtssoziologischem Anspruch abgefasst wurde, sondern er das Recht mit gesellschaftstheoretischen Begriffen angehe. Und diese Annäherungsmethode kennzeichnete seine Analysen auch in der späteren Zeit, aber nicht nur im Zusammenhang mit dem Recht, sondern auch bezüglich aller anderen gesellschaftlichen Teilsysteme. Luhmann wählte die gesellschaftstheoretische (anders formuliert: die soziologietheoretische) Sichtweise deshalb, weil er betonen wollte, dass die Teilsysteme (das Recht und natürlich die Religion, die Politik, die Wirtschaft usw.) Teilsysteme der Gesellschaft sind, das heißt, sie seien mit Rücksicht auf die Gesellschaft zu analysieren. Aus dieser Sichtweise der konkreten Analysestrategie folgte, dass bei der Analyse Begriffe angewendet werden mussten, die nicht teilsystemspezifisch sind, sondern in der Funktion jedes einzelnen Teilsystems untersucht werden können (z.B. Kod, Programm, Evolution, Funktion usw.), und so einen Vergleich ermöglichen. Diese Methode der Analyse hat aber einen ernsthaften Nachteil, und zwar dass sie die Spezifika des gegebenen Sachgebiets nur sekundär erfassen kann. Es ist kein Zufall, dass die Luhmannsche Rechtsauffassung am schärfsten von den Vertretern der traditionellen rechtstheoretischen, rechtssoziologischen Standpunkte bestritten wurde.
Im Nachwort zur späteren Ausgabe der oben genannten Rechtssoziologie definierte Luhmann seine eigene theoretische Position so, dass er die soziologische Theorie des Rechtssystems umreißen wollte, im weiteren Sinne wollte er also die Soziologie der Rechtstheorie, der Rechtsdogmatik und der Rechtswissenschaft darstellen. Er war der Meinung, dass man die Rechtstheorie und die Rechtsdogmatik soziologisch als verschiedene Formen der Selbstbeschreibung des Rechtssystems erfassen könne. "Die soziologische Theorie des Rechts darf nicht mit solchen Selbstbeschreibungen verwechselt werden. Die Soziologie beobachtet und beschreibt das System von aussen und sieht dadurch mehr, aber auch weniger, als die Rechtstheorie. Sie vergleicht. Sie legitimiert nicht." (Luhmann 1983:360). Die soziologische Angehung des Rechts bedeutet also Beschreibung und Deutung, aber sie äußert sich nicht zum 'richtigen Recht'. Luhmann betrachtete die Rechtstheorie als die Reflexionstheorie des Rechtssystems, die sich in ihrer Begrifflichkeit auf die Rechtsdogmatik stützt, die Einheit und die Funktion des Rechtssystems darstellt (den Sinn und die Autonomie der Funktion des Rechts rechtfertigt), und Teil des autopoietischen Prozesses des Rechts ist.[10] Davon abweichend erscheint die Einheit des Rechts für die soziologische Theorie des Rechts nur in einer Differenz, und zwar darin, wie sich das Rechtssystem von seinem Umfeld und von anderen Systemen seines
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Umfelds abgrenzt. Die soziologische Sichtweise des Rechts ist eine äußere und keine innere Beschreibung, das heißt, sie gliedert sich nicht in den autopoietischen Prozess des Rechts ein.
Die Rechtssoziologie gab aus einer bestimmten theoretischen Perspektive die systematische Analyse des Rechts, Luhmann berührte in dieser Arbeit die Frage der Disziplinen nur in geringem Maße. In seinen Studien aus den siebziger Jahren war aber dieser Themenkreis schon öfter anzutreffen. Diese Analysen sind in seinem Studienband Ausdifferenzierung des Rechts (1981) gesammelt, und der Verfasser fasst im Vorwort seine eigene Position der Analyse wie folgt zusammen: "Rechtssoziologie und Rechtstheorie gehören nach üblicher Auffassung verschiedenen Disziplinen an. Im ersten Falle geht es um einen Spezialbereich empirisch-soziologischer Forschung, im zweiten um eine Analyse der Grundfiguren des Rechts selbst, also um eine Subdisziplin der Rechtswissenschaft. Diese Trennlinie differenziert verschiedene Perspektiven, verschiedene Methoden und Forschungspraktiken. /.../ Die Studien, die in diesem Bande zusammengestellt sind, interessieren sich, teils implizit, teils explizit, für diese Differenz. Dies nicht mit der Absicht, die Differenz in einer .soziologischen Rechtstheorie' zum Verschwinden zu bringen." Dann setzt Luhmann fort: "Die Absicht ist vielmehr, eine soziologische Theorie zu präsentieren, die Möglichkeiten einschliesst, Rechtstheorie (wie auch andere kunstvolle Gedankengebilde) zu analysieren." (Luhmann 1981:7).
Aus diesem Sammelband sind für uns zwei Studien von besonderer Bedeutung. Die erste ist eine verhältnismäßig frühe Publikation mit dem Titel Rechtstheorie im interdisziplinären Zusammenhang /erste Veröffentlichung: 1972/ (Luhmann 1981:191-240). Diese Schrift sieht die Schwierigkeit der traditionellen (deduktiv begründeten universellen) Rechtstheorie darin, dass eine solche Rechtstheorie gemäß den wissenschaftlichen Erwartungen mit allen möglichen Rechten (Rechtssystemen) kompatibel sein muss, das heißt: geeignet für die Erklärung unterschiedlicher Rechtsordnungen, und sie deshalb ihre Begriffe sehr abstrakt behandeln muss. Demgegenüber hielt Luhmann eine andere rechtstheoretische Annäherung für fruchtbarer, die weniger abstrakt ist, und so man will, das Rechtssystem .realitätsnah' erfassen kann. Die .Realitätsnähe' bedeutet mit anderen Worten, dass sich Luhmann von seinen frühen Schriften an schon immer konkret für die Probleme der modernen Gesellschaft interessierte, deshalb setzte er sich auch bezüglich des Rechts in erster Linie die Analyse des Rechts der modernen Gesellschaft zum Ziel.
Die von ihm empfohlene Rechtstheorie umschrieb er mit verschiedenen Worten: problemorientierte Rechtstheorie, soziologisch orientierte Rechtstheorie, soziologischer Funktionalismus, funktional ausgerichtete Rechtstheorie. Seiner Meinung nach ermöglicht diese funktionalistisch fragende, systemtheoretisch
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annähernde und das Kontingenzproblem in den Mittelpunkt stellende Rechtstheorie die neuartige Artikulation der Probleme und ist nicht an den klassischen Kanon der Rechtstheorie gebunden. Die funktionale Ausrichtung der Rechtstheorie bedeutet nämlich, dass "nicht von einem Begriff der Rechtstheorie auszugehen ist, der inhaltlich schon festlegt, was sie zu sein hat " (Luhmann 1981:192). Es ist zu sehen, dass Luhmann zur Bezeichnung seiner Analyseposition zu dieser Zeit noch den Begriff der Rechtstheorie verwendete, obzwar er diesen mit einschränkenden, präzisierenden Attributen versah. Außerdem können wir noch bemerken, dass der Einwand der Abstraktheit, wie er ihn in Verbindung mit der traditionellen Rechtstheorie erwähnte, im Lichte seiner späteren Analysen sich ebenfalls veränderte.[11]
Die andere wichtige Studie aus diesem Band ist die Selbstreflexion des Rechtssystems: Rechtstheorie in gesellschaftstheoretischer Perspektive /erste Veröffentlichung: 1979/ (Luhmann 1981:419-450). In dieser Schrift untersuchte Luhmann die Situation der Rechtstheorie als Reflexionstheorie. Das Recht, obwohl es sich von den anderen Teilen der Gesellschaft funktional abgrenzte, stellt seine Leistungen den anderen Teilsystemen zur Verfügung. Das Recht sichert in der Wirtschaft die Möglichkeit der Kapitalbildung, für die Bevölkerung die Schulpflicht, für die Politik die verfassungsmäßigen Schranken usw. Die Rechtstheorie als Reflexionstheorie des Rechts (anders formuliert: die Theorie des Systems im System) thematisiert die gleichermaßen abgetrennte Funktion und die verbundene Leistung.[12] Diese Reflexionstheorie ist von wissenschaftlichem Anspruch, und darum befasst sich die Rechtstheorie nicht einfach mit dem Recht, sondern sie befasst sich wissenschaftlich mit dem Recht, das heißt, die Rechtstheorie muss auch der Wissenschaftstheorie Aufmerksamkeit schenken, da sich in der Wissenschaftstheorie die Muster und Normen (Erwartungen) bezüglich der Wissenschaftlichkeit formuliert sind. Die Wissenschaftstheorie ist übrigens ebenfalls eine Reflexionstheorie, die Reflexion der Wissenschaft, und sie hat eine besondere Beziehung zu anderen Reflexionstheorien, betont Luhmann. Einerseits erscheint sie als Kontrolle (Regelungsinstanz) für andere Reflexionstheorien mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit (im Fall z.B. der Rechtstheorie, Pädagogik und der Theologie handelt es sich darum). Andererseits funktioniert die Wissenschaftstheorie auch als Reflexi-
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onsmodell für andere Reflexionstheorien. In dieser Hinsicht funktioniert sie nicht als Regelungsinstrument, sondern bietet die Möglichkeit des Vergleichs. Die Rechtstheorie bezieht also laut Luhmann eine Doppelposition im Zusammenhang mit der Wissenschaftstheorie:
- da sie eine wissenschaftliche Disziplin ist, folgt sie den Regeln (Normen) der Wissenschaftstheorie,
- sie beobachtet die Wissenschaftstheorie und versucht davon zu lernen, wie die Wissenschaftstheorie die eigene Selbstreferenz positiviert hat, also wie es möglich ist, die Theorie des Systems im System selbst zu formulieren.
Begrifflich abgeklärt und theoretisch in der reifsten Form formuliert die Arbeit Das Recht der Gesellschaft, veröffentlicht in der Reihe der Monografien über die Teilsysteme der Gesellschaft, die Charakteristika dieser eigenartigen theoretischen Position. Den grundsätzlichen Unterschied zwischen der rechtswissenschaftlichen und der soziologischen Sichtweise stellte Luhmann so dar, dass die Rechtswissenschaft immer von der normativen Ordnung ausgehe, und demzufolge der Grundbegriff der allgemeinen Rechtstheorie der Normbegriff (d.h. die Rechtstheorie hält die Unterscheidung zwischen Normen und Tatsachen für grundlegend) sei, während sich die Soziologie für das Sozialverhalten, für die Institutionen und für die Sozialsysteme interessiere, also dafür "was so ist, wie es ist" (Luhmann 1993:14). Nach Luhmann entstand übrigens als Ergebnis der Reduktion der Rechtswissenschaft auf eine Normenwissenschaft die Situation, dass die Einschaltung einer .Hilfswissenschaft' in die Analyse des Rechtslebens notwendig wurde, die sich bezüglich der Rechtsetzung und der Rechtsanwendung auf das real funktionierende Recht konzentrierte. Das war die Rechtssoziologie.
Die Luhmannsche Theorie ist Soziologietheorie. Gleich, ob sie die Religion, die Wissenschaft oder eben das Recht untersucht. Der Ausdruck .Soziologie' betont, dass diese Theorie die gesellschaftliche Wirklichkeit im Zusammenhang der Tatsachen erfasst. Das bedeutet, dass sie bezüglich des Rechts die Norm als eine tatsächliche Erwartung betrachtet - die es entweder gibt oder nicht. "Es gibt (für Soziologen) keine 'Idee des Rechts' oberhalb des Rechts" -schreibt Luhmann (Luhmann 1993:31). Aber genau so befasst er sich nicht mit dem übergesetzlichen Recht als mit einer besonderen Gültigkeitsebene über der geltenden Rechtsordnung, auf Grund deren er untersuchen könnte, ob das Recht überhaupt Recht sei oder nicht? Als Gültigkeit betrachtet er einfach das, was im Recht als gültig bezeichnet wird. Im Einklang damit nimmt er auch in der Frage bezüglich der Grenzen des Rechts Stellung. Was zum Recht gehöre und was außerhalb des Rechts liege, könne man laut Luhmann von Außen nicht entscheiden, weil "das Recht selbst bestimmt, was die Grenzen des Rechts
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sind" (Luhmann 1993:15). Dementsprechend müsse die Wissenschaft, die sich mit dem Recht befasst, in der Frage nach den Grenzen des Rechts befolgen, was sich im Recht manifestiert.
Der Betreiber der Rechtstheorie als Selbstreflexion des Rechtssystems schaut auf zwei Welten. Einerseits trägt er zur Mehrung der wissenschaftlichen Kenntnisse bei, andererseits will er auch die Betreiber des Rechtslebens orientieren. Die Untersuchung der Rechtssoziologie wird demgegenüber nur durch das Erstere gekennzeichnet. "Im Unterschied zu jurisprudentiellen, rechtsphilosophischen oder sonstigen Rechtstheorien, die auf Gebrauch im Rechtssystem selbst abzielen oder jedenfalls den dort einleuchtenden Sinn aufnehmen und verarbeiten wollen, ist der Adressat der Rechtssoziologie die Wissenschaft selbst und nicht das Rechtssystem." (Luhmann 1993:31) Die Ambition der soziologischen Theorie ist es, als Theorie der modernen Gesellschaft zu funktionieren. Und deshalb kann sie nicht erwarten, dass ihre Ergebnisse rechtlich (also im Rechtssystem) als relevant betrachtet werden. Genau so bietet die Selbstbeschreibung des Rechts, die von den gültigen Rechtsnormen ausgeht, der soziologischen Gesellschaftstheorie keine übernahmefähige Wissensleistungen. Irritationen kann es jedoch beiderseitig geben.
In der Luhmannschen Annäherung betrachtet die soziologische Theorie die Gesellschaft als die soziale Umgebung des Rechtssystems, aber gleichzeitig ist jede Handlung des Rechtssystems auch immer eine Handlung der Gesellschaft. Sie ist Teil der Gesellschaft: weil ihre Handlungen Kommunikationen sind, ist dagegen von allen anderen Teilen der Gesellschaft abgetrennt: weil ihre Handlungen bestimmte (spezielle) Kommunikationen sind. Die soziologische Analyse - dass das Recht Teil der Gesellschaft ist - kann zugleich auch als Beitrag zur Gesellschaftstheorie aufgefasst werden. Die Luhmannsche Rechtsauffassung können wir Rechtssoziologie nennen, aber wir müssen in diesem Fall unbedingt darauf hinweisen, dass sie - abweichend vom traditionellen rechtssoziologischen Kanon - die Gesellschaftsanalyse zusammen mit der Rechtsanalyse betreibt. Gerade deswegen ist es vielleicht genauer, wenn wir sie als soziologische Theorie des Rechts oder als Gesellschaftstheorie des Rechts bezeichnen.
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Brockmöller, Anette 1997: Die Entstehung der Rechtstheorie im 19. Jahrhundert in Deutschland. Nomos Verlag, Baden-Baden
Ehrlich, Eugen 1915: Entgegnung. in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 41. (1915) 844-849.
Endruweit, Günter - Trommsdorff, Gisella (Hrsg.) 1989: Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart
Kelsen, Hans 1913: Eine Grundlegung der Rechtssoziologie. in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 39. (1913) 839-843
Luhmann, Niklas 1981: Ausdifferenzierung des Rechts. Suhrkamp, Frankfurt a. M.
Luhmann, Niklas 1983: Rechtssoziologie. Westdeutscher Verlag, Opladen (2., erweiterte Auflage)
Luhmann, Niklas 1993: Das Recht der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt a. M.
Pfordten, Dietmar von der 1999: Die Entwicklung des Begriffs "Rechtsphilosophie" vom 17. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Archiv für Begriffsgeschichte Band XLI 151-161
Rüthers, Bernd 1999: Rechtstheorie. München, Beck Verlag
Seelmann, Kurt 1994: Rechtsphilosophie. München, Beck
Zipprian, Heinz 1996: Eugen Ehrlich und die Bukowina. In: Balla Bálint -Sterbling (Hrsg.): Zusammenbruch des Sowjetsystems - Herausforderung für die Soziologie. Krämer Verlag, Hamburg 279-294.
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Die Studie behandelt das Verhältnis zwischen Rechtstheorie und Rechtssoziologie im Zusammenhang zweier Themenkreise. Im ersten Teil wird die Erscheinung der Disziplinen Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie erörtert. Im zweiten Teil analysiert sie die Rechtsauffassung von Niklas Luhmann, als ein besonderes Beispiel für die Verbindung der Rechtstheorie mit der Rechtssoziologie.
Der Terminus "Rechtsphilosophie" (philosophia juris) erschien gegen Mitte des 17. Jh. in lateinischsprachigen Abhandlungen, und er bezeichnete die mit dem positiven Recht verbundene abstrakte, theoretische Untersuchung. Demzufolge wich sie von der herkömmlichen naturrechtlichen Sichtweise ab. Diese Situation änderte sich von der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert an, und die Rechtsphilosophie wurde immer mehr dem Naturrecht gleichgesetzt. Inzwischen erschien auch die Rechtstheorie als ein Begriff, der auf eine besondere Disziplin hinweist. Die Betreiber der Rechtstheorie beschäftigten sich mit dem Recht ausgesprochen nicht aus praktischer Sicht, vielmehr betrachteten sie diese Disziplin als die Begründung der Rechtswissenschaft.
Der Begründer der Rechtssoziologie als eine selbstständige Wissenschaft war Eugen Ehrlich, der seine eigene Disziplin ebenfalls als grundlegend betrachtete. Der Kompetenzstreit zwischen Rechtssoziologie und Rechtstheorie kam in der Diskussion zwischen Ehrlich und Kelsen in den 1910-er Jahren spektakulär zum Ausdruck. Kennzeichnend für die vergangenen hundert Jahre ist es, dass sich die Betreiber dieser drei selbstständigen Disziplinen (Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie) eher in ihre theoretische Welt einschlossen, und nur in Ausnahmefällen auf die Schriften anderer reflektierten.
Niklas Luhmann gehört zu den Ausnahmen. In der von ihm erarbeiteten gesellschaftstheoretischen Rechtsauffassung erschien die gegenseitige Reflexion der rechtstheoretischen und der rechtssoziologischen Sichtweise. Luhmann schuf in den vergangenen Jahrzehnten eine Synthese der Systemtheorie, der Kommunikationstheorie und der soziokulturellen Evolutionstheorie, in der die Beschreibung der verschiedenen Teilsysteme der Gesellschaft (z.B. Recht, Religion, Wissenschaft, Politik usw.) und die theoretischen Reflexionen auf diese Teilsysteme gleichsam Platz gefunden haben. So lösten sich die herkömmlichen Spannungen zwischen Rechtstheorie und Rechtssoziologie, dabei traten jedoch neuartige Spannungen in den Vordergrund.
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The lecture has treated two topics: a) Some characteristics of Philosophy of Law, Legal Theory and Sociology of Law as separate disciplines, and b) Niklas Luhmann's concept of law, which instead of following the traditional separation of Legal Theory and Sociology of Law set forth the concept of law from a social theory perspective.
For a long time the term 'philosophy of law' (philosophia juris, jus philosophicum, Philosophie des Rechts), which came into existence in the 17th century, denoted the theoretical examination of law, which was connected to positive law in contrast to the concept of natural law. The change from this is unequivocally perceivable in Gustav Hugo's book (Lehrbuch des Naturrechts, 1798), a Göttingen lawyer specializing in private law, who connected the concept of philosophy of law to natural law. This change reached its peak in Hegel's work, and in the third decade of the 19th century the term 'philosophy of law' became finally separated from the law in operation (positive law); in effect it denoted natural law. Studies rooted in positive law gained their strength in a new discipline of jurisprudence; in legal theory. In the 20th century possibly the most famous representative of legal theory was Hans Kelsen, who separated his own theory from both the philosophy and the sociology of law. This latter separation found its strong expression especially in his debate with the founder of the sociology of law, Eugen Ehrlich. While Kelsen emphasized that concept-formation in law must get rid of - among other things - elements of sociological character because jurisprudence is a normative science, Ehrlich argued for sociology of law as the foundation of jurisprudence itself.
As early as in his monography 'Rechtssoziologie' published in 1972 Luhmann unequivocally formulated that he had not written his work from a perspective of sociology of law but he had approached the law with a system of concepts of social theory. He chose the perspective based on social theory because he wanted to put an emphasis on the fact that the component systems (the law, the religion, the politics and the economy, etc.) are the component systems of society, i.e. they have to be analysed with regard to society. As a result, he used concepts (e.g. code, programme, evolution, function) in his analysis which are not specific for a particular component system but can be analysed in the op-
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eration of all the component systems, thus making their comparison possible. This way of analysis has a serious disadvantage, namely that it is capable of grasping the specific features of the given field merely in an indirect way. It is not by accident that it is the representatives of the traditional points of view in legal theory and sociology of law who have debated Luhmann's concept of law the most keenly.
At the beginning of the 1970-ies for a short period Luhmann also tried to define his own theoretical position as a legal theory, namely as a 'problem-oriented legal theory', a 'sociology-oriented legal theory', or as a 'legal theory with a functional orientation'. However, later he gave up the idea of defining his own perspective of social theory as a 'legal theory' and he entirely separated it from any approaches of legal theory. He found the basic difference between the legal analysis from the legal theory perspective and the analysis from the social theory perspective in the following. While legal theory (similarly to philosophy of law and legal dogmatics) can be defined as the self-description of the legal system and it is aimed not only at science but also at the practitioners of the legal system the social theory approach, which is an external description, is aimed only at science. ■
ANMERKUNGEN
[1] Die Studie wurde im Rahmen der Arbeit der Rechtshistorischen Forschungsgruppe MTA-ELTE erstellt.
[2] Die Bezeichnung der beiden Polen bedeutet nicht, dass sie an einen Rechtszweig gebunden sind und wir zwischen den Allgemeinheit beanspruchenden theoretischen Reflexionen keine eindeutige Grenze ziehen könnten. Denken wir nur an das Verfassungsrecht und das Völkerrecht. Vielleicht ist es auf diesen Rechtsgebieten am augenfälligsten, dass in die theoretische Tradition der gegebenen Rechtszweige die rechtsphilosophischen und rechtstheoretischen Ansichten eingegangen sind. Die Lage ist nicht anders, wenn wir unseren Blick auf das Strafrecht oder auf das bürgerliche Recht werfen. Die fachrechtlichen Dogmatiken dieser Rechtszweige können die allgemeine Problematik der Freiheit des Individuums auch nicht umgehen.
[3] Bei der Darstellung des Terminus Rechtsphilosophie habe ich mich auf die gründlichen begriffsgeschichtlichen Untersuchungen von Dietmar von der Pfordten gestützt (Pfordten 1999).
[4] Siehe: Pfordten 1999:157.
[5] Die Familiensituation von Eugen Ehrlich widerspiegelte im Kleinen seine Heimat mit ihren vielen Nationalitäten, die Bukowina. Der von einer polnischen Mutter und einem als Beamter tätigen deutsch-jüdischen Vater stammende Ehrlich (geb.: 1862) wuchs in einer Familie auf, die sich an die deutsche Kultur assimilierte. Durch die Aufnahme des Katholizismus brachte er seine Assimilation noch stärker zum Ausdruck, die sich aus der Familientradition ernährte. Er studierte in Lemberg und in Wien. Nach der Habilitation wurde er 1896 Professor des Römischen Rechts an der 1875 gegründeten Franz-Josef-Universität in Czernowitz. Während des ersten Weltkriegs hielt er sich, da der größte Teil der Bukowina von den Russen besetzt wurde, in Wien auf. Sein Weltbild war neben dem damals in weiten Kreisen geteilten Liberalismus auch durch die konservative Einstellung gekennzeichnet (dies zeigte sich gerade in seiner Rechtsauffassung, die sich auf die Traditionen stützte), was durch seine Diskussion mit dem liberalen Kelsen vermutlich noch verstärkt wurde. Im November 1918 wurde Bukowina an Rumänien angeschlossen, und Ehrlich wurde an der Universität, wie viele andere deutsche Professoren auch, beurlaubt, damit er Zeit zum Erwerb der rumänischen Sprache habe, aber er kehrte zur Lehre nicht mehr zurück, er starb 1922. Bezüglich der biografischen und wirkungsgeschichtlichen Zusammenhänge stützte ich mich auf die Studie von Heinz Zipprian, in der auch die mit Ehrlich verbundenen Hinweise auf die Fachliteratur zu finden sind (Zipprian 1996).
[6] Entdeckt hat ihn am Anfang der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts Roscoe Pound (An Appreciation of Eugen Ehrlich. Harvard Law Review 36. /1922/23/). Fast anderthalb Jahrzehnt später, dank vor allem den Arbeiten von deutschen Rechtswissenschaftlern, die wegen des Nationalsozialismus nach Amerika emigrierten, begann auch die zweite Phase der Ehrlich-Rezeption.
[7] Unter dem Stichwort "Rechtssoziologie" (verfasst von Rüdiger Lautmann) in dem von Günter Endruweit und Gisella Trommsdorff herausgegebenen Handbuch Wörterbuch der Soziologie stehen weder der Name noch Werke von Ehrlich (Endruweit - Trommsdorff 1989).
[8] Laut Luhmann ist "die 'Rechtssoziologie' von Weber nicht die Rechtssoziologie von Weber" (Luhmann 1983:19). Damit wollte er zum Ausdruck bringen, dass man den Standpunkt von Weber über das soziologische Konzept des Rechts nicht ausschließlich aus seinem Werk 'Rechtssoziologie' kennen lernen könne, sondern diese Arbeit sei im Zusammenhang mit dem Inhalt anderer Schriften von ihm zu betrachten.
[9] Es geht nicht um den nachträglichen Zusammenstoß von zwei Auffassungen, denn Kelsen veröffentlichte (1913:839-843) eine sehr kritische Rezension über die Rechtssoziologie von Ehrlich, worauf der angegriffene Verfasser antwortete (Ehrlich, 1915:844-849). Näheres zur Diskussion: Seelmann 1994:40-43.
[10] Stark verwandt damit ist der Standpunkt von Rüthers: "Die Rechtstheorie ist eine Art der Metadogmatik" (Rüthers 1999:15).
[11] Ganz genau geht es hier darum, dass die Luhmannsche Theorie - insbesondere von der zweiten Hälfte der siebziger Jahre an - eine eigenartige Kombination von Abstraktheit und Konkretheit (Realitätsnähe) schuf. Seine gesellschaftstheoretische Begrifflichkeit war nämlich abstrakt genug, aber mit diesen Begriffen konnte er erfolgreich auch den empirischen Stoff bezüglich der gesellschaftlichen Teilsysteme ordnen.
[12] Das formulierte er ein Jahrzehnt später so, dass die Aufgabe der Rechtstheorie als Selbstbeschreibung des Rechtssystems nicht darin bestehe, an der zu sehr differenzierten Entscheidungsbegründung teilzunehmen, sondern in der Darstellung der Einheit, der Autonomie und der Funktion des Systems (Luhmann 1993:499).
Lábjegyzetek:
[1] Lehrstuhl für Philosophie, Telefonnummer: (36-1) 411-6500, E-mail: karacsony@ajk.elte.hu
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