https://doi.org/10.56749/annales.elteajk.2022.lxi.8.95
Under the case law of the Hungarian Constitutional Court, arbitration is founded on the negative aspect of (i.e. the right not to exercise) the right of access to justice and on the freedom of contract. The Hungarian Constitutional Court considers arbitration as an exception from the state monopoly of justice: the arbitration agreement constitutes a voluntary, contractual waiver of the jurisdiction of state courts by which the parties give up certain guarantees provided in the proceedings of state courts, such as for example the right to a legal remedy. The present article provides an overview on the case law of the Hungarian Constitutional Court, with a special focus on the following two questions: (i) does arbitration have an equal standing to state court litigation under the case law of the Hungarian Constitutional Court, and (ii) is there a fundamental right to arbitration under Hungarian constitutional law?
Keywords: arbitration, arbitration agreement, constitutional law, human rights, waiver of rights
In Bezug auf die Schiedsgerichtsbarkeit werden verfassungsrechtliche Themen relativ selten angesprochen. Solange die Schiedsgerichtsbarkeit unter staatlicher Kontrolle steht, kann sie sich von den nationalen Verfassungssystemen - insbesondere in dem Staat, in dem das Schiedsverfahren durchgeführt wird, ein staatliches Gericht trotz der Schiedsvereinbarung von einer der Parteien angerufen wird und/oder die Vollstreckung des Schiedsspruchs beantragt wird - sicherlich nicht loslösen. Deswegen ist es eine höchstrelevante Frage, welche Rolle die Schiedsgerichtsbarkeit in den nationalen Verfassungssystemen spielt und ob bzw. wie die Legitimität der Schiedsgerichtsbarkeit verfassungsrechtlich abgeleitet bzw. begründet werden kann. In diesem Beitrag werde ich diese Frage unter Zugrundelegung des ungarischen Verfassungsrechts und
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durch Auswertung der Rechtsprechung des ungarischen Verfassungsgerichts (im Folgenden: ungVG) beantworten.
Zunächst werde ich einen Überblick über die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Schiedsgerichtsbarkeit, d.h. über diejenige ungarischen Vorschriften mit Verfassungsrang geben, die für die Schiedsgerichtsbarkeit besonders relevant sind. Dann werde ich die Rechtsprechung des ungVG zur alten Verfassung der Republik Ungarn bzw. zum neuen Grundgesetz Ungarns darstellen und erörtern. Ziel dieses Beitrags ist es, die Antwort auf die folgenden zwei Fragen zu finden:
(i) Ist die Schiedsgerichtsbarkeit aufgrund der Rechtsprechung des ungVG gleichrangig mit der staatlichen Justizgewährung?
(ii) Gibt es im ungarischen Verfassungssystem ein Grundrecht auf Zugang zur Schiedsgerichtsbarkeit?
Die am Anfang der sozialistischen Ära verabschiedete Verfassung - Gesetz Nr. XX aus dem Jahre 1949 über die Verfassung der Volksrepublik Ungarn[1] (im Folgenden: ungVerf) - war bis zum 31.12.2011 in Kraft. Nach sämtlichen Änderungen - insbesondere im Laufe bzw. zufolge der politischen Wende im Jahre 1989 - wurde die ungVerf ab dem 01.01.2012 durch ein neues Instrument - das Grundgesetz Ungarns (im Folgenden: ungGG) - ersetzt. Ein wesentlicher Teil der Rechtsprechung des ungVG zur Schiedsgerichtsbarkeit bezieht sich auf die ungVerf, deswegen muss man den Blick zuerst auf die Vorschriften der ungVerf richten.
Die Vorschriften der ungVerf, die in der Rechtsprechung des ungVG zur Schiedsgerichtsbarkeit besonders oft auftauchen, sind die Folgenden:
(i) § 57 Abs. 1 über das Recht auf Zugang zum Gericht: "In der Republik Ungarn ist jeder vor dem Gericht gleich und jeder hat das Recht, dass jegliche gegen ihn erhobenen Anklagen oder seine Rechte und Pflichten in einem Prozess von einem durch Gesetz eingerichteten, unabhängigen und unparteiischen Gericht in einer gerechten und öffentlichen Verhandlung, innerhalb einer angemessenen Frist beurteilt werden."
(ii) § 57 Abs. 5 über das Recht auf Rechtsmittel: "In der Republik Ungarn kann jeder gegen Gerichts-, Verwaltungs- oder andere behördliche Entscheidungen, die seine Rechte oder berechtigte Interessen verletzen, gemäß den gesetzlichen Bestimmungen Rechtsmittel einlegen. Das Recht auf Rechtsmittel kann - zur Sicherung der Beurteilung der Rechtsstreitigkeiten innerhalb einer angemessenen Zeit - durch
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ein Gesetz eingeschränkt werden, das mit Zweidrittelmehrheit der anwesenden Parlamentsabgeordneten angenommen wird.
(iii) § 45 Abs. 1 über das Justizmonopol des Staates bzw. der staatlichen Gerichte: "In der Republik Ungarn wird die Justizgewährung durch das Oberste Gericht der Republik Ungarn, die Tafelgerichte, das Hauptstädtische Gericht und die Komitatsgerichte sowie die örtlichen Gerichte und die Arbeitsgerichte ausgeübt."
(iv) § 9 Abs. 1 über die Marktwirtschaft und deren Grundlagen, d.h. das Recht auf Eigentum und die Gleichheit des privaten und des öffentlichen Eigentums:
"Die Wirtschaft Ungarns ist eine Marktwirtschaft, in der das öffentliche Eigentum und das Privateigentum einen gleichberechtigten und gleichen Schutz genießen."
In der auf die Schiedsgerichtsbarkeit bezogenen Rechtsprechung des ungVG zum ungGG werden grundsätzlich die gleichen Grundrechte und Grundwerte herangezogen. Im Wortlaut der einschlägigen Vorschriften des ungVerf und des ungGG gibt es allerdings einige wesentlichen Unterschiede:
(1) Artikel XXVIII Abs. 1 über das Recht auf Zugang zum Gericht:
"Jeder hat das Recht, dass jegliche gegen ihn erhobenen Anklagen oder seine Rechte und Pflichten in einem Prozess von einem durch Gesetz eingerichteten, unabhängigen und unparteiischen Gericht in einer fairen und öffentlichen Verhandlung, innerhalb einer angemessenen Frist beurteilt werden."
(ii) Artikel XXVIII Abs. 7 über das Recht auf Rechtsmittel: "Jeder hat das Recht, gegen Gerichts-, behördliche oder andere Verwaltungsentscheidungen, die seine Rechte oder berechtigten Interessen verletzen, Rechtsmittel einzulegen."
(iii) Artikel 25 Abs. 1 und Abs. 7 über das Justizmonopol des Staates, d.h. der staatlichen Gerichte, bzw. über die Ausnahme von diesem Monopol:
"(1) Die Justizgewährung wird durch die Gerichte ausgeübt. Das oberste Gerichtsorgan ist die Kurie."
"(7) Ein Gesetz kann in einzelnen Rechtsstreitigkeiten auch das Verfahren vor anderen Organen ermöglichen."
(iv) Artikel M) über die Marktwirtschaft und deren Grundlagen, d.h. die wertschöpfende Arbeit, die Unternehmensfreiheit, die Freiheit des Wettbewerbs und den Konsumentenschutz:
"(1) Die Wirtschaft Ungarns beruht auf der wertschöpfenden Arbeit und der Unternehmensfreiheit.
(2) Ungarn sichert die Voraussetzungen für einen fairen Wirtschaftswettbewerb. Ungarn tritt gegen den Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung auf und schützt die Rechte der Verbraucher."
Inwiefern die oben zitierten Vorschriften des ungVerf und des ungGG für die Schiedsgerichtsbarkeit relevant sind, werde ich in den nächsten Kapiteln erläutern.
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In seinen ersten Entscheidungen zur Schiedsgerichtsbarkeit musste sich das ungVG mit der Frage auseinandersetzen, ob der Ausschluss bzw. die Einschränkung der Rechtsmittelmöglichkeiten in der damaligen ungarischen institutionellen Schiedsgerichtsbarkeit verfassungswidrig sei.
Das erste Schiedsverfahrensgesetz nach der politischen Wende - Gesetz Nr. LXXI aus dem Jahre 1994 (im Folgenden: ungSchiedsG 1994) - wurde erst im Jahre 1994 verabschiedet. Vor dem Inkrafttreten des ungSchiedsG 1994 war die Schiedsgerichtsbarkeit in einem gesonderten Kapitel der ungarischen Zivilprozessordnung - Kapitel XXIV (§§ 360-364) des Gesetzes Nr. III aus dem Jahre 1952 (im Folgenden: ungZPO 1952) - geregelt. Nach dieser veralteten, aus der sozialistischen Ära geerbten Regelung war gegen Schiedssprüche des Ständigen Schiedsgerichts der Ungarischen Wirtschaftskammer (im Folgenden: UWK), der ältesten ungarischen Schiedsinstitution, weder die Berufung noch die Aufhebungsklage statthaft.[2] Der absolute Ausschluss dieser Rechtsmittelmöglichkeiten wurde später, mit dem Inkrafttreten des ungSchiedsG 1994 und der Umwandlung der UWK in die Ungarische Handels- und Industriekammer (im Folgenden: UHIK) teilweise aufgelöst. Nach der neuen Regelung wurde die Berufungsmöglichkeit zwar weiterhin nicht eröffnet, die Schiedssprüche des Ständigen Schiedsgerichts der UHIK - genauso wie die Schiedssprüche von ad hoc Schiedsgerichten - konnten aber in bestimmten schwerwiegenden Fällen aufgrund einer Aufhebungsklage durch das zuständige staatliche Gericht aufgehoben werden.
Gegen die fehlenden bzw. eingeschränkten Rechtsmittelmöglichkeiten wurden mehrere Verfassungsbeschwerden erhoben, in denen sich die Beschwerdeführer auf eine Verletzung des Rechts auf Rechtsmittel gemäß § 57 Abs. 5 ungVerf bzw. des Rechts auf Zugang zum Gericht gemäß § 57 Abs. 1 ungVerf beriefen.
In seiner allerersten Entscheidung zur Schiedsgerichtsbarkeit[3] lehnte das ungVG eine Verletzung des Rechts auf Rechtsmittel ab. Nach dem ungVG sei die Schiedsgerichtsbarkeit eine Streitbeilegungsmethode, die von den Parteien im Rahmen ihrer Vertragsfreiheit freiwillig gewählt werde. Durch den Abschluss einer Schiedsvereinbarung träfen die Parteien eine bewusste Wahl für ein bestimmtes Verfahren, und zwar im Falle eines UWK-Schiedsverfahrens ein solches Verfahren, in dem die Rechtsmittel - außer der Berichtigung und Ergänzung des Schiedsspruchs - ausgeschlossen seien. Das Recht
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auf eine Berufung bzw. Aufhebungsklage könne also von den Parteien einvernehmlich ausgeschlossen oder eingeschränkt werden, was einen zulässigen Verzicht auf das Recht auf Rechtsmittel darstelle.
In seinen späteren Entscheidungen[4] musste das ungVG den Ausschluss bzw. die Einschränkung der Rechtsmöglichkeiten gegen Entscheidungen des UWK- bzw. UHIK-Schiedsgerichts nicht nur in Zusammenhang mit dem Recht auf Rechtsmittel, sondern auch in Zusammenhang mit dem Recht auf Zugang zum Gericht prüfen. Das ungVG kam zu derselben Schlussfolgerung wie in seiner oben zitierten, allerersten Entscheidung: der Ausschluss bzw. die Einschränkung der Rechtsmöglichkeiten verstoße nicht gegen das Recht auf Zugang zum Gericht oder das Recht auf Rechtsmittel. Die Ausübung oder die Nichtausübung des Rechts auf Zugang zum Gericht und des Rechts auf Rechtsmittel sei ein verfahrensrechtlicher Aspekt des Selbstbestimmungsrechts. Dies bedeute, dass diese Grundrechte auch ein negatives Recht umfassen: die Nichtausübung der Rechte, die zum Gegenstand einer vertraglichen Vereinbarung gemacht werden könne. Die Schiedsgerichtsbarkeit basiere auf zwei Verträgen: der Schiedsvereinbarung und dem Schiedsrichtervertrag. Die Schiedsvereinbarung wurde vom ungVG als ein privatrechtlicher Vertrag mit einem verfahrensrechtlichen Gegenstand qualifiziert: die Schiedsabrede sei ein vertraglicher Verzicht auf das Recht auf Zugang zum Gericht und gegebenenfalls auch auf das Recht auf Rechtsmittel im Rahmen der Vertragsfreiheit. Die Vertragsfreiheit sei nach der ständigen Rechtsprechung des ungVG ein wesentliches Element der Marktwirtschaft, ein durch die Verfassung geschützter Wert, jedoch kein Grundrecht.[5] Die Schiedsgerichtsbarkeit ist also mit der Marktwirtschaftsklausel der ungVerf durch ihre Beziehung zur Vertragsfreiheit verbunden.
Der andere Schwerpunkt der auf die Schiedsgerichtsbarkeit bezogenen Rechtsprechung des ungVG zur ungVerf betrifft die Rechtsstellung der Schiedsgerichte. In zahlreichen Entscheidungen[6] bestätigte das ungVG, dass Schiedsgerichte nicht zum staatlichen Justizsystem gehören und dass die richterliche Tätigkeit der Schiedsgerichte mit den Justizgewährungsaufgaben der staatlichen Gerichte nach der ungVerf nicht gleich sei. Aufgrund dieser organisatorischen und funktionellen Unterscheidung zwischen
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staatlicher Gerichtsbarkeit und Schiedsgerichtsbarkeit stellte das ungVG in seinen Entscheidungen folgendes fest:
(i) die gesetzliche Regelung der Organisation ständiger Schiedsgerichte - anders als die Regelung der Organisation und Verwaltung staatlicher Gerichte[7] - bedürfe keiner qualifizierten (2/3) Mehrheit im Parlament;
(ii) die Tatsache, dass Schiedsrichter nicht die Immunität staatlicher Richter genössen, sei nicht verfassungswidrig;
(iii) Schiedsgerichte seien als Quasi-Gerichte und die schiedsrichterliche Tätigkeit sei als eine quasi-gerichtliche («non-judicial") Tätigkeit zu qualifizieren.
Nach dem Außerkraftsetzen der ungVerf gab das ungVG seine frühere Rechtsprechung zur Schiedsgerichtsbarkeit nicht auf. Ganz im Gegenteil: In seiner Rechtsprechung zum ungGG stützte sich das ungVG stark auf seine früheren Entscheidungen, die noch aufgrund der ungVerf getroffen worden waren.[8] Nach dem Inkrafttreten des ungGG musste sich das ungVG allerdings auch mit solchen Fragen befassen, die vorher nicht aufgekommen waren.
In einer kurz nach dem Inkrafttreten des ungGG getroffenen Entscheidung[9] stellte das ungVG fest, dass die Einschränkung oder der Ausschluss der Rechtsmittelmöglichkeiten gegen die Entscheidungen des Schiedsgerichts nicht grundgesetzwidrig sei. Dadurch bestätigte das ungVG, dass seine frühere Rechtsprechung über das Verhältnis zwischen Schiedsgerichtsbarkeit, Recht auf Zugang zum Gericht und Recht auf Rechtsmittel unter der Geltung des ungGG weiterhin maßgebend sei.
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In den darauffolgenden Entscheidungen[10] korrigierte das ungVG einen inhärenten Fehler seiner früheren Rechtsprechung:[11] Es machte klar, dass die Schiedsvereinbarung einen Verzicht auf das Recht auf Zugang zum Gericht im Rahmen der Vertragsfreiheit der Parteien darstelle, mit dem Recht auf Rechtsmittel jedoch überhaupt nichts zu tun habe. Durch den Abschluss einer Schiedsvereinbarung verzichteten die Parteien auf den staatlichen Gerichtsweg und dadurch auch auf die Verfahrensgarantien, mit denen das Verfahren vor den staatlichen Gerichten ausgestattet sei. Das Recht auf Rechtsmittel sei eine solche Verfahrensgarantie. Infolge des Verzichts der Parteien auf den staatlichen Gerichtsweg falle also die Frage, ob ein Rechtsmittel - die Aufhebungsklage - gegen den Schiedsspruch zugänglich sei, und wenn ja, unter welchen Bedingungen, vollkommen außerhalb des Anwendungsbereichs des Rechts auf Rechtsmittel.
Neben den vom ungVG aufgeführten Argumenten kann man gegen die Anwendbarkeit des Rechts auf Rechtsmittel auf das Schiedsverfahren auch weitere Argumente finden. Diese weiteren Argumente ergeben sich bereits aus dem Wortlaut des § 57 Abs. 5 ungVerf und des Artikels XXVIII Abs. 7 ungGG. Trotz der Abweichungen im Wortlaut der beiden Vorschriften ist klar, dass das Recht auf Rechtsmittel sowohl nach § 57 Abs. 5 ungVerf als auch nach Artikel XXVIII Abs. 7 ungGG gegen die Entscheidungen staatlicher Organe - Gerichte, Behörden und anderer Verwaltungsorgane - gesichert werden muss.[12] Die Entscheidungen von Schiedsgerichten, die keine staatlichen Organe sind, sind von dieser Verfahrensgarantie nicht erfasst. Die ständige Rechtsprechung des ungVG liefert ein weiteres Argument: Das ungVG hat den Umfang der in § 57 Abs. 5 ungVerf bzw. Artikel XXVIII Abs. 7 ungGG verankerten Rechtsmittelgarantie in zahlreichen Fällen geprüft und bestätigt, dass aus dem Grundrecht auf Rechtsmittel nur der Anspruch auf ein einziges ordentlichen Rechtsmittel abgeleitet werden könne.[13] Da die Aufhebungsklage ein außerordentliches Rechtsmittel ist, ist das Recht auf Rechtsmittel auf die Aufhebungsklage auch aus diesem Grund nicht anwendbar.
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Mit dem Inkrafttreten des ungGG wurden die Kompetenzen des ungVG wesentlich geändert. Eine der wichtigsten Änderungen war die Einführung der echten Verfassungsbeschwerde, die dem ungarischen Recht vorher unbekannt gewesen war. In Bezug auf die Bedeutung der echten Verfassungsbeschwerde für die Schiedsgerichtsbarkeit wurde das ungVG mehrmals angerufen. Das ungVG betonte in mehreren Entscheidungen,[14] dass die rechtskräftige Entscheidung eines staatlichen Gerichts über die gegen den Schiedsspruch erhobene Aufhebungsklage ohne Weiteres angefochten werden könne, das ungVG jedoch grundsätzlich keine Kompetenz habe zu prüfen, ob das Schiedsgericht ein faires Verfahren durchgeführt habe. Das Aufhebungsgericht sei dafür zuständig, etwaige Verletzungen der Verfahrensregeln durch das Schiedsgericht festzustellen, aufgrund derer dann das ungVG die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren eventuell feststellen könne. Dies bedeutet, dass es sehr schwierig ist, gegen die rechtskräftige Abweisung einer Aufhebungsklage auf der Grundlage, dass das rechtliche Gehör im Schiedsverfahren nicht gewahrt wurde, eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde zu erheben.
Bezüglich der echten Verfassungsbeschwerde ergibt sich eine weitere Frage: Ist dieses außerordentliche Rechtsmittel auch gegen Schiedssprüche statthaft? Schiedssprüche entfalten nämlich die gleichen Rechtswirkungen - materielle Rechtskraft und gegebenenfalls Vollstreckbarkeit - wie eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung zur Hauptsache, d.h. ein rechtskräftiges Urteil. Mit der Begründung, dass Schiedsgerichte keine staatlichen Gerichte seien und der Schiedsspruch deswegen - trotz der gleichwertigen Rechtswirkungen - keine Gerichtsentscheidung sei, kam das ungVG in einer seiner Entscheidungen[15] eindeutig zu der Schlussfolgerung, dass die echte Verfassungsbeschwerde gegen Schiedssprüche nicht zulässig sei.
Mit einer sehr ähnlichen Argumentation lehnte das ungVG auch die Ansicht ab, dass Schiedsgerichte das Recht hätten, vor dem ungVG ein individuelles Normenkontrollverfahren einzuleiten.[16] Dieses Verfahren kann von Richtern eingeleitet werden, und zwar in dem Fall, dass der Richter in dem vor ihm anhängigen Verfahren eine solche verfahrensrechtliche oder materiell-rechtliche Rechtsvorschrift anwenden müsste, die nach seiner Meinung grundgesetzwidrig ist oder zumindest grundgesetzwidrig sein könnte. Da Schiedsgerichte nicht zum staatlichen Justizsystem gehören und Schiedsrichter keine Richter sind, kam das ungVG zu dem Ergebnis, dass Schiedsrichter kein Recht zur Einleitung des individuellen Normenkontrollverfahrens hätten.
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Der Ansatz, dass Schiedsgerichte nicht zur staatlichen Gerichtsbarkeit gehören und keine staatlichen Organe sind, taucht in der Rechtsprechung des ungVG immer wieder auf. In seiner Entscheidung, in der das ungVG das Übereinkommen über ein einheitliches Patentgericht[17] für grundgesetzwidrig erklärte,[18] wies das ungVG darauf hin, dass die Schiedsgerichtsbarkeit als eine gesetzliche Ausnahme vom staatlichen Justizmonopol unter den Anwendungsbereich des Artikels 25 Abs. 7 ungGG falle. Dieser Hinweis war nur eine Nebenaussage in der Begründung der auf das Einheitliche Patentgericht fokussierten Entscheidung, war aber das erste Mal, dass das ungVG die Schiedsgerichtsbarkeit mit Artikel 25 Abs. 7 ungGG in Zusammenhang brachte.
Das letzte erwähnenswerte Element der Rechtsprechung des ungVG zur Schiedsgerichtsbarkeit bezieht sich auf eine Sonderregelung zur Schiedsfähigkeit von Rechtsstreitigkeiten, die in Ungarn belegene Gegenstände des Nationalvermögens betreffen. Vom 01.01.2012 bis zum 18.03.2015 war die schiedsrichterliche Beilegung solcher Rechtsstreite gesetzlich untersagt.[19] Gegen diese Sonderregelung wurden mehrere Verfassungsbeschwerden erhoben, und zwar mit der Begründung, dass sie mit den Pflichten Ungarns aus verschiedenen Völkerverträgen (Genfer Übereinkommen,[20] New Yorker Übereinkommen,[21] ICSID Übereinkommen,[22] bilaterale Investmentabkommen) und dadurch mit Artikel Q) Abs. 2 ungGG[23] unvereinbar sei, gegen die Rechtssicherheit verstoße und das Recht auf Menschenwürde sowie das Recht auf den gesetzlichen Richter verletze.
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Die Berufung auf die Verletzung von Grundrechten wies das ungVG als unzulässig ab. Da die Beschwerdeführer juristische Personen waren, die keine Träger der Menschenwürde sind, kam die Verletzung des Rechts auf Menschenwürde überhaupt nicht in Betracht.[24] Den Antrag bezüglich des Rechts auf den gesetzlichen Richter fand das ungVG nicht bestimmt genug, da selbst die Beschwerdeführer sich nicht sicher waren, ob dieses Recht in Bezug auf die Schiedsgerichtsbarkeit anwendbar sei.[25] Zur Vermeidung einer Verletzung der völkervertraglichen Pflichten Ungarns und zur Bewahrung der Rechtssicherheit nahm jedoch das ungVG eine grundgesetzkonforme Auslegung der Sonderregelung an: Es machte klar, dass der Ausschluss der schiedsrichterlichen Beilegung von Rechtsstreitigkeiten in Bezug auf Nationalvermögen keine Rückwirkung habe.[26] Dies bedeutet, dass die Sonderregelung auf Schiedsvereinbarungen, die vor dem Inkrafttreten der Regelung (d.h. vor dem 01.01.2012) getroffen worden waren, nicht anzuwenden ist.
Aufgrund der Rechtsprechung des ungVG kann man festhalten, dass das ungVG die Legitimität der Schiedsgerichtsbarkeit aus dem negativen Aspekt - d.h. aus dem Recht zur Nichtausübung - des Rechts auf Zugang zum Gericht und aus der Vertragsfreiheit ableitet.[27] Das ungVG betrachtet die Schiedsgerichtsbarkeit als eine Ausnahme vom staatlichen Justizmonopol. Die Schiedsvereinbarung stelle nach Ansicht des ungVG einen freiwilligen, vertraglichen Verzicht auf den staatlichen Gerichtsweg dar und durch diesen Verzicht gäben die Parteien auch bestimmte Verfahrensgarantien auf, mit denen das Verfahren staatlicher Gerichte versehen sei. Dazu gehört unter anderem das Recht auf Rechtsmittel.
Mit Rücksicht auf die Unterscheidung zwischen Schiedsgerichtsbarkeit und staatlicher Justizgewährung sowohl aus einem organisatorischen als auch aus einem funktionellen Gesichtspunkt sieht es so aus, dass das ungVG die Schiedsgerichtsbarkeit mit der staatlichen Justizgewährung nicht für gleichwertig hält. Dies folgt insbesondere aus der Qualifizierung der schiedsrichterlichen Tätigkeit als quasi-gerichtliche
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("non-judicial") Tätigkeit. Insofern als dass es darum geht, dass Schiedsgerichte keine Hoheitsgewalt ausüben, scheint diese Qualifizierung begründet zu sein. Betrachtet man aber den Inhalt und das Ergebnis der schiedsrichterlichen Tätigkeit - die endgültige Beilegung einer Rechtsstreitigkeit nach Anhörung der Parteien und Durchführung einer Beweisaufnahme, unter Anwendung von Rechtsvorschriften, durch eine Entscheidung, die materielle Rechtskraft entfaltet und Gegenstand einer Zwangsvollstreckung sein kann -, ist die Verwendung des Ausdrucks "quasi-gerichtlich" ("non-judicial") jedoch äußerst fraglich.
Was die andere Frage angeht, ob es ein Grundrecht auf Zugang zur Schiedsgerichtsbarkeit gibt, so findet sich die Antwort einerseits in der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Vertragsfreiheit und andererseits in der Rechtsprechung des ungVG zur Schiedsfähigkeit von Rechtsstreiten betreffend Nationalvermögen. Nach ständiger Rechtsprechung des ungVG sei die Vertragsfreiheit kein Grundrecht, sondern ein durch die Verfassung bzw. durch das Grundgesetz geschützter Grundwert. Dementsprechend kann die von der Vertragsfreiheit abgeleitete Möglichkeit der Parteien, ihre Rechtsstreitigkeiten, statt vor ein staatliches Gericht vor ein Schiedsgericht zu bringen, ebenso kein Grundrecht sein. Gäbe es ein solches Grundrecht, hätte das ungVG die Sonderregelung über die Schiedsunfähigkeit von Rechtsstreiten in Bezug auf das Nationalvermögen aus diesem Grund wahrscheinlich für grundgesetzwidrig gehalten. Folglich kann man festhalten, dass die Freiheit der Parteien zur Vereinbarung des Schiedswegs zwar einen bestimmten verfassungsrechtlichen Schutz genießt, jedoch kein Grundrecht ist.[28] Dies folgt auch aus Artikel 25 Abs. 7 ungGG, nach dem es für den Gesetzgeber nur eine Möglichkeit und keine Pflicht ist, in bestimmten Rechtsstreitigkeiten das Verfahren anderer, außergerichtlicher Organe zu ermöglichen. ■
ANMERKUNGEN
[1] Der Titel der Verfassung wurde durch § 38 Abs. 1 des Gesetzes Nr. XXXI aus dem Jahre 1989 zur Verfassung der Republik Ungarn geändert.
[2] Siehe § 364 Abs. 1 ungZPO 1952.
[3] Siehe Entscheidung des ungVG Nr. 604/B/1990 AB vom 14.01.1992.
[4] Siehe Entscheidungen des ungVG Nr. 1282/B/1993 AB vom 22.06.1994, Nr. 388/D/1999 AB vom 07.03.2006 und Nr. 1036/D/2005 AB vom 18.10.2010.
[5] Für eine weitere Analyse der Vertragsfreiheit außerhalb des Kontexts der Schiedsgerichtsbarkeit siehe Entscheidungen des ungVG Nr. 13/1990 (VI. 18.) AB und Nr. 32/1991 (VI. 6.) AB.
[6] Siehe Entscheidungen des ungVG Nr. 95/B/2001 AB vom 12.05.2003, Nr. 339/B/2003 AB vom 20.10.2009 und Nr. 1245/B/2011 AB vom 22.11.2011.
[7] Siehe § 50 Abs. 5 ungVerf: "Zur Annahme der Gesetze über die Organisation und Verwaltung der Gerichte sowie über die Rechtsstellung und Vergütung der Richter ist eine Zweidrittelmehrheit der anwesenden Parlamentsabgeordneten notwendig."
[8] Zur Anwendbarkeit der Rechtsprechung des ungVG zur ungVerf auf Fälle, die nach dem ungGG zu beurteilen sind, siehe generell - nicht auf die Schiedsgerichtsbarkeit bezogen - Entscheidung des ungVG Nr. 22/2012. (V. 11.) AB.
[9] Siehe Beschluss des ungVG Nr. 3004/2012 (VI. 21.) AB.
[10] Siehe Beschlüsse des ungVG Nr. 3118/2013 (VI. 4.) AB, Nr. 3116/2015 (VII. 2.) AB, Nr. 3263/2015 (XII. 22.) AB, Nr. 3174/2017 (VII. 14.) AB und 3385/2019 (XII. 19.) AB. Siehe auch Entscheidungen des ungVG Nr. 3212/2015 (XI. 10.) AB und Nr. 3265/2017 (X. 19.) AB.
[11] Für eine scharfe Kritik gegenüber der früheren Rechtsprechung des ungVG über das Verhältnis zwischen Schiedsgerichtsbarkeit und dem Recht auf Rechtsmittel siehe I. Varga, A választottbíráskodás elfogadottságának alakulása Magyarországon: Privatizált bíráskodás és állami érdekek, in F. Bányai und Sz. Nagypál, Közvetítés és vitarendezés a jogi és a vallási kultúrákban, (ELTE Eötvös Kiadó, Budapest, 2015, 1-16), 14-15.
[12] Siehe J. Wiedemann, A jogorvoslathoz való jog az Alkotmánybíróság gyakorlatában, (2019) (1) Jogelméleti Szemle, 174-185., 176.
[13] Siehe z.B. Entscheidungen des ungVG Nr. 9/1992 (I. 30.) AB, Nr. 22/1995 (III. 31.) AB und Nr. 25/2018 (XII. 28.) AB. Siehe auch Wiedemann, A jogorvoslathoz való jog az Alkotmánybíróság gyakorlatában, 175., 184.
[14] Siehe Beschlüsse des ungVG Nr. 3348/2012 (XI. 19.), Nr. 3240/2013 (XII. 21.) und Nr. 3108/2016 (VI. 3.).
[15] Siehe Beschluss des ungVG Nr. 3263/2015 (XII. 22.) AB.
[16] Siehe Beschlüsse des ungVG Nr. 3116/2015 (VII. 2.) und Nr. 3263/2015 (XII. 22.).
[17] Abgeschlossen zwischen 25 EU-Mitgliedstaaten, einschließlich Ungarns, in Brüssel am 19.02.2013.
[18] Siehe Entscheidung des ungVG Nr. 9/2018 (VII. 9.) AB.
[19] Siehe Artikel 17 Abs. 3 des Gesetzes Nr. CXCVI aus dem Jahre 2011 über das Nationalvermögen in der Fassung vom 01.01.2012 bis zum 18.03.2015. Zwischen 13.06.2012 und 18.03.2015 enthielt § 4 des ungSchiedsG 1994 eine sehr ähnliche Regelung.
[20] Europäisches Übereinkommen über die Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit, abgeschlossen in Genf am 21.04.1961. Das Übereinkommen wurde von Ungarn am 21.04.1961 unterzeichnet und mit Gesetzesverordnung Nr. 8 aus dem Jahre 1964 verkündet.
[21] Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche, abgeschlossen in New York am 10.06.1958. Das Übereinkommen wurde von Ungarn am 05.03.1962 unterzeichnet und mit Gesetzesverordnung Nr. 25 aus dem Jahre 1962 verkündet.
[22] Übereinkommen zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehörigen anderer Staaten, abgeschlossen in Washington am 18.03.1965. Das Übereinkommen wurde von Ungarn am 01.10.1986 unterzeichnet und mit Gesetzesverordnung Nr. 27 aus dem Jahre 1987 verkündet.
[23] Artikel Q) Abs. 2 ungGG lautet wie folgt: "Ungarn sichert zur Erfüllung seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen den Einklang zwischen Völkerrecht und ungarischem Recht".
[24] Siehe Beschlüsse des ungVG Nr. 3089/2013 (IV. 19.) AB und Nr. 3139/2013 (VII. 2.).
[25] Siehe Beschluss des ungVG Nr. 3139/2013 (VII. 2.).
[26] Siehe Entscheidung des ungVG Nr. 14/2013 (VI. 17.) und Beschluss des ungVG Nr. 3139/2013 (VII. 2.).
[27] Zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen der Schiedsgerichtsbarkeit aufgrund der Rechtsprechung des ungVG siehe auch M. Boronkay und Gy. Wellmann Jr., A választottbíráskodás helyzete Magyarországon, (2015) (12) MTA Law Working Papers, 1-31., 10., https://jog.tk.mta.hu/uploads/files/mtalwp/2015_12_Boronkay-Wellmann.pdf (letzter Zugriff: 30.12.2022), und L. Tóth, A választottbíróság elé vihető ügyek a magyar jogban, (2005) OTDK Különszám, Debrecenijogi Műhely, http://www.debrecenijogimuhely.hu/archivum/otdk_kulonszam/valasztottbirosag_ele_viheto_ugyek_a_magyar_jogban/ (letzter Zugriff: 30.12.2022), Kapitel III, Punkt 1.
[28] Siehe auch Boronkay und Gy. Wellmann Jr., A választottbíráskodás helyzete Magyarországon, 13.; L. Kecskés, A választottbíráskodás problémái Magyarországon a 2017. évi LX. törvény elfogadása utáni helyzetben, in L. Kecskés und P. Tilk (eds), A választottbíráskodás és más alternatív vitarendezési eljárások jogi szabályozásának alapjai, (PTE ÁJK, Pécs, 2018, 95-114) 105.
Lábjegyzetek:
[1] Der Autor ist PhD, LLM (Saarbücken, Boston), Adjunkt am Lehrstuhl für Zivilprozessrecht der Juristischen Fakultät der Eötvös Loránd Universität.
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