Quo vadis, deutsches Strafprozessrecht? Dieser besorgte Ruf prägt inzwischen den Grundton der aktuellen Debatte in Deutschland derart, dass alle, die das Strafprozessrecht als "Seismographen" für Veränderungen unserer Verfassungswirklichkeit begreifen,[1] in größter Unruhe auf die neueren Entwicklungen blicken. Was sie sehen und spüren, ist - bezogen auf das tradierte Verständnis von einem rechtsstaatlichen Strafverfahren - nichts weniger als ein fortdauerndes Beben auf höchster Stufe der Richterskala: Denn in zunehmendem Maße betreiben der deutsche Gesetzgeber und mittlerweile auch die höchstrichterliche Rechtsprechung mittels "schöpferischer Rechtsfindung"[2] einen Abbau von Beschuldigtenrechten mit dem erklärten Ziel der Effizienzsteigerung durch Beschleunigung der Verfahren.
Da werden etwa, relevant für das fundamental bedeutsame Schweigerecht, die Befugnisse zu heimlichem Ausspähen im Nahbereich des Beschuldigten und seiner Angehörigen massiv ausgebaut und neuerdings wieder Lockmittel für kooperationsbereite Verdächtige mit der aufs neue eingeführten Kronzeugenregelung geschaffen (vgl. § 46b StGB n.F.). Das Beweisantrags- und das Rechtsmittelrecht finden sich im Lichte der jüngsten Rechtsprechung nur noch in verkürztem Zustand wieder; der zuletzt (am 30.7.2009) in Kraft getretene "Persilschein" für verfahrensbeendende Absprachen[3] verschafft der schon zuvor weit verbreiteten Informalität und Regellosigkeit des Verfahrens je nach Gusto der Justizorgane jetzt den Mantel der Normalität, als sei der "kurze Prozess" schon immer das eigentliche und letzte Ziel eines Strafverfahrens gewesen.[4]
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Sind Formvorschriften und Partizipationsrechte des Beschuldigten, sind insbesondere auch rechtsstaatliche Garantien wie die Unschuldsvermutung und der daraus entspringende Zweifelssatz, grundrechtliche Freiheiten und Vertrauensschutz gegenüber einer berechenbaren Strafjustiz tatsächlich nicht mehr als unerfreuliche Hindernisse auf dem Weg zur effektiven Strafverfolgung? - in neuerer Zeit gerne auch zur Befriedigung von Genugtuungsinteressen der als solche offenbar schon von Beginn an feststehenden "Opfer"?[5] Vorbei sind offenbar die Zeiten, in denen noch mit allseitiger Zustimmung auf den Wert der prozessualen Form als Ausdruck eines regelgeleiteten, ausbalancierten, fairen Strafprozesses hingewiesen werden konnte. Einst galt die Justizförmigkeit des Verfahrens und das ihr eigene Mittel der prozessualen Form noch als die wichtigste Garantie, um einer ungebremsten, willkürlichen Machtausübung des Strafverfolgungsapparates entgegenzuwirken. Eberhard Schmidt, der Doyen des Strafprozessrechts in der Zeit des Wiederaufbaus einer rechtsstaatlichen Strafjustiz in Deutschland nach 1945, sprach in seinem berühmten "Lehrkommentar" sogar davon, dass Justizförmigkeit Schnelligkeit erst ermögliche -aber zugleich natürlich Vorsicht und Behutsamkeit erzwinge.[6]
Wer die aktuelle Lage in derart düsteren Farben zeichnet und die üblichen Beschwichtigungen nicht akzeptieren mag, ist in erheblichem Maße begründungspflichtig. Die Belege sind freilich so zahlreich, dass im vorliegenden Rahmen zwangsläufig eine strenge Auswahl getroffen werden muss. Die weiteren Überlegungen konzentrieren sich deshalb auf drei der bedeutsamsten und fragwürdigsten Erscheinungen: (1) den Verkürzungen im Bereich des Beweisantragsrechts, (2) den in diesem Zusammenhang wie auch im Kontext des Rechtsmittelrechts begegnenden "Wahrheitsfiktionen" in Abkehr vom herkömmlichen Verständnis der Amtsaufklärungspflicht, und (3) - wohl unvermeidlich - dem Phänomen der "verfahrensbeendenden Absprachen".
1. Dem Beweisantragsrecht (§§ 244 III-VI, 245 StPO) kommt bekanntlich eine erhebliche Bedeutung im Prozessgeschehen zu, einmal im Sinne einer Bekräftigung der Subjektstellung des Angeklagten, zum andern aber auch für die Ermittlung "der Wahrheit". Wie relevant die damit anerkannte "Konkurrenz der
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Vorverständnisse"[7] im Gegensatz zu einer Monopolisierung beim Strafgericht (bzw. seinem Vorsitzenden) in der Praxis sein kann, zeigen eine Reihe aktueller Fälle, in denen durch einseitige, vorzeitige Festlegung der Sachverhaltsgrundlage und Zurückweisung "störender" Beweisbegehren gerichtsseitig nach Abkürzungen auf dem Weg zum Verfahrensende gesucht wurde.
In einem dieser Fälle wollte sich das Tatgericht trotz unklarer Beweislage nicht mehr um die Aussage einer im Ausland lebenden potentiellen Entlastungszeugin mittels Bild-Ton-Übertragung (§ 247a StPO) bemühen und hat das dahingehende Beweisbegehren des Verteidigers als "Beweisbehauptung ins Blaue hinein" zurückgewiesen. Der Bundesgerichtshof wies diesen Einwand jedoch zutreffend in seine Grenzen: Denn es liege gleichsam in der Natur der Sache, "dass ein Antragsteller die Aussagen einer Zeugin im vorhinein regelmäßig nicht kennt", bevor diese sich tatsächlich äußert.[8] In der Tat: Und genau dieses Erkenntnisproblem ist auch der Grund, warum die Amtsaufklärungspflicht eine vorweggenommene Beweiswürdigung grundsätzlich verbietet.[9] Denn allen im Verhandlungszeitpunkt getroffenen Beweisprognosen haftet stets das Risiko an, Resultat und zugleich Perpetuierung einer defizitären Erkenntnis zu sein. Um solche "Wahrnehmungsfixierungen" auf Seiten des Gerichts aufzubrechen und es notfalls zu zwingen, den Prozess der Wahrheitsfindung bis zum Schluss ein Stück weit (ähnlich einem sich immer mehr verengenden Filter)[10] für neue Tatsachen offen zu halten, die möglicherweise alles bisher Zusammengetragene in seiner Bedeutung noch einmal in Frage stellen, ist es unumgänglich, auch solche Beweiserhebungen zu akzeptieren, die sich am Ende im Rahmen der abschließenden Beweiswürdigung vielleicht doch nicht als weiterführend erweisen.[11]
Vor diesem Hintergrund erklären sich die gegenwärtig verstärkt bekundeten Sorgen vor einer zunehmenden - richterrechtlichen - "Erosion des Beweisantragsrechts".[12] Insbesondere das vom Bundesgerichtshof zur Abwehr "rechts-
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missbräuchlich" oder in "Verschleppungsabsicht" gestellter Beweisanträge inzwischen etablierte Modell der fristgebundenen Präklusion offenbart einen höchst fragwürdigen Umgang mit dem Gesetz und ein offenbar abhanden gekommenes Verständnis für den Sinn der vorgegebenen Verfahrensstruktur. Hiernach dürfe das Tatgericht "in extrem gelagerten Fällen" eines "massiven Missbrauchs"[13] eine Verfahrensweise wählen, bei der "den Verfahrensbeteiligten eine Frist zur Entgegennahme von Beweisanträgen gesetzt und ... die pauschale (!) Ablehnung nach Fristablauf gestellter Anträge ... vorab (!) beschlossen" wird.[14] Dass ein solches Instrument der "Fristsetzung mit Ablehnungsandrohung" der geltenden Fassung der Strafprozessordnung (vgl. §§ 244 VI, 246 I StPO) eklatant widerspricht, mit der undefinierten Ausgangsgröße des "Rechtsmissbrauchs" ihrerseits zu - jetzt aber: richterlichem - Rechtsmissbrauch einlädt[15] und letztlich allen Beteuerungen zuwider auch die Amtsaufklärungspflicht untergräbt, hat den Bundesgerichtshof trotz eindringlicher Ermahnungen bisher nicht von seinem neuen Weg abgebracht. Da das Bundesverfassungsgericht mittlerweile ebenfalls seinen "Segen" erteilt und diesen Irrweg damit zementiert hat,[16] fragt sich mit wachsender Dringlichkeit, wer sich eigentlich überhaupt noch berufen fühlt, für den gebotenen Umgang mit dem Gesetz und das nötige Verständnis für den Sinn der vorgegebenen Verfahrensstruktur einzustehen.
Damit noch nicht genug: Nach Ansicht der jüngsten Rechtsprechung bedarf es für eine solche Verfahrensweise noch nicht einmal der vorherigen (wiederholten) Ablehnung der Beweisanträge wegen Verschleppungsabsicht; vielmehr soll gerade umgekehrt dieser Ablehnungsgrund großzügiger gehandhabt werden und sich bereits indiziell aus dem Verstreichenlassen der gesetzten Frist ergeben.[17] Der gebilligte Ablauf liest sich im Ganzen beinahe wie eine Anleitung zum kurzen Prozess: "Nach Abschluss der vom Gericht . für geboten gehaltenen Beweiserhebungen kann der Vorsitzende . unter Fristsetzung auffordern, etwaige Beweisanträge zu stellen; . werden Anträge nicht innerhalb der gesetzten Frist gestellt und besteht nach Überzeugung des Gerichts kein nachvollziehbarer Anlass für die verfristete Antragstellung, so kann es . grundsätzlich davon aus-
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gehen, dass der Antrag nichts anderes als die Verzögerung des Verfahrens bezweckt". - Es macht schier atemlos, mit welcher Entschlossenheit bisherige Fundamente des Strafverfahrens forsch zu Relikten einer vergangenen Zeit[18] erklärt werden, um den Weg zu bahnen für das neue Paradigma einer "straffen Durchführung der Hauptverhandlung"[19] - und dies durch eine Rechtsprechung, die nichts mehr von ihrer dem Gesetz geschuldeten Dienerschaft wissen will und sich längst eigenmächtig zum eigentlichen "Herren der Rechtsordnung"[20] inthronisiert hat. Nach den Vorgaben des Gesetzes ist - aus gutem Grunde - nicht der Verteidiger verpflichtet, einen Beweisantrag zu dem vom Gericht für angemessen gehaltenen Zeitpunkt zu stellen, sondern das Gericht ist verpflichtet, Beweisanträge bis zum Beginn der Urteilsverkündung entgegenzunehmen. Wenn dies nicht mehr anerkannt wird, droht der kontradiktorische Prozess sich sukzessive in einen diktatorischen Prozess zu verwandeln![21]
2. Im Bereich des Rechtsmittelrechts hat in den letzten Jahren zunächst der ausufernde, anmaßende Gebrauch der für Ausnahmefälle gedachten Befugnis des Bundesgerichtshofs zum Fällen einer eigenen Strafzumessungsentscheidung "nach Aktenlage" (mit der Folge des rechtskräftigen Verfahrensabschlusses trotz Feststellung eines Fehlers beim tatgerichtlichen Strafzumessungsakt, § 354 Ia StPO) für Aufsehen gesorgt, ehe das Bundesverfassungsgericht dem wilden Treiben einen Riegel vorgeschoben hat.[22] Inzwischen ist dem Bundesgerichtshof eine andere Möglichkeit in den Sinn gekommen, einem Revisionsführer den eigentlich schon absehbaren Erfolg seines Rechtsmittels streitig zu machen: Über mehr als ein Jahrhundert hinweg galt es als hehrer Grundsatz des Revisionsrechts, dass einer zulässig erhobenen Revisionsrüge nicht nachträglich infolge einer Protokollberichtigung die Grundlage entzogen werden kann.[23] Abgesehen von der darin liegenden Unfairness gegenüber dem Revisionsführer sollte mit der hohen Beweiskraft des Protokolls (§ 274 StPO) nach dem Willen des Gesetzgebers eine sichere, gegen Anfechtungen gefeite Be-
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weisgrundlage geschaffen werden. Die Überzeugung von der Richtigkeit eines solchen "Verbots der Rügeverkümmerung" hat der Große Strafsenat des BGH jedoch im Jahre 2007 aufgegeben und zur Begründung nachdrücklich auf das "Beschleunigungsgebot und den Gesichtspunkt des Opferschutzes" sowie auf eine "Änderung des anwaltlichen Ethos" im Hinblick auf das bewusst wahrheitswidrige Geltendmachen von Verfahrensrügen verwiesen.[24]
Die Parallele ist augenfällig: Wiederum wird den Revisionsgerichten trotz ihrer schon von Gesetzes wegen beschränkten Ermittlungskompetenz die Funktion einer eigenständigen Instanz zur Aufklärung der "Wahrheit" zugeschrieben, obgleich die hierfür erforderlichen Rahmenbedingungen doch wenig aussichtsreich sind: Das Verfahren ist erneut ein nur schriftliches, dazu kaum strukturiert und insbesondere keines, das gegenüber dem Revisionsführer "Waffengleichheit" verbürgt. Mit solcher, unter dem Diktat des Beschleunigungs- und Effizienzdenkens stehenden "Wahrheitssuche" wird seine Rechtsposition allein wegen des pauschalen Verdachts einer "erlogenen Protokollrüge" verkürzt, obgleich sich der Gesetzgeber doch zum Nachweis von Verfahrensmängeln in der Hauptverhandlung für eine besondere Formenstrenge entschieden hat.[25] Wie sich außerdem die damit implizit behauptete Wahrheitspflicht des Verteidigers, nun nicht mehr nur auf den verhandelten Sachverhalt, sondern auf das Verfahrensgeschehen in erster Instanz bezogen, de jure überhaupt begründen lassen soll, versteht sich ebenfalls nicht von selbst.[26] Im Ganzen drängt sich somit der Eindruck immer mehr auf, dass die Wertschätzung für strafprozessrechtliche "Formenstrenge" längst im Verschwinden begriffen ist - mit Beulke: "Während man früher bereit war, formale Kriterien zu akzeptieren, da Verfahrensnormen im Interesse eines rechtsstaatlichen Strafprozesses ihren eigenen Stellenwert haben, will man heute der Wahrheit zum Erfolg verhelfen. Man möchte dem Opfer Gerechtigkeit widerfahren lassen, und jeder Formalismus wird dabei als störend empfunden"[27]. Nicht ein jeder wird aber den damit einhergehenden - naiven - Glauben an die von eigenen Interessen ungetrübte Sachlichkeit und an die über jeden Zweifel erhabene Redlichkeit derjenigen, die im Strafverfahren die Macht in ihren Händen halten, in dieser Pauschalität teilen![28]
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3. Zum Abschluss sei noch ein Blick auf das neue Gesetz zur Regelung der "Verständigung im Strafverfahren" geworfen:[29] Es enthält zur Beruhigung der Gemüter ausdrücklich die Regelung, dass die Wahrung der Amtsaufklärungspflicht "unberührt" bleibe (§ 257c I S. 2 StPO)[30]. Das klingt schön und lebensfern wie im Märchen: Denn der genuine rechtspraktische Sinn und die hohe Attraktivität einer verfahrensbeendenden Absprache resultiert doch gerade aus dem mit ihr untrennbar verbundenen Effekt, die Beweisaufnahme abzukürzen, indem mit dem vereinbarten Verfahrensergebnis die Bemühungen um eine weitere Beweisaufnahme einfach für beendet erklärt werden. Wenn aber die Augen vor weiteren - evtl. noch vorhandenen - Beweismitteln vorzeitig geschlossen werden, um auf schnellerem Wege das Verfahren abzuschließen, kann von einer bestmöglichen Aufklärung der materiellen Wahrheit nicht mehr gesprochen werden.[31] Mit dem Geist der alten Strafprozessordnung hat dies nichts mehr gemein: Diesem war methodisch die Entscheidung immanent, dass immer "von unten nach oben" gearbeitet werde, d.h. erst die tatsächliche Basis der Subsumtion nachvollziehbar zusammengetragen wird, ehe die Subsumtion selbst erfolgt; ein Urteil nach Absprache kommt dagegen "top down" zustande, nämlich so, dass zu den angewandten Rechtsvorschriften die passenden Tatsachen gesucht werden.[32]
Die Willkürlichkeit des Vorgehens wird weder durch das als Vorleistung stets verlangte Geständnis des Angeklagten noch durch den Konsensgedanken gemildert: Wollte man mit der Wahrheitsermittlungspflicht wirklich ernst machen, müsste das Gericht die Zuverlässigkeit des Geständnisses stets nochmals überprüfen und damit eben jene Beweisaufnahme beginnen, die mit einer Urteilsabsprache gerade vermieden werden soll. Berichte aus der Praxis legen daher wenig überraschend die Annahme nahe, dass die Glaubwürdigkeit solcher Geständnisse de facto meist einfach unterstellt wird und ihre Wertigkeit sich somit auf die eines "bloß formalen Anerkenntnisses" reduziert.[33] Was
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schließlich den Konsensgedanken anbelangt, ist bereits von Hassemer die treffende Antwort formuliert worden: Der Rechtsfriede "folgt aus objektiven Kriterien - aus einem fairen Prozess und einem gerechten Urteil; dass dabei konsensuale Elemente eingewoben sind, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Strafgerechtigkeit aus Gesetz und Recht entsteht, nicht aus Handel und Konsens".[34] Im übrigen verletzt das jetzt implementierte Abspracheverfahren augenfällig das Prinzip der Unschuldsvermutung: Denn das Gesetz weist die Initiative für das Zustandekommen einer Absprache ausdrücklich dem Gericht zu (vgl. § 257c III S. 1, 2 StPO); der erste gerichtliche Vorschlag kann aber denknotwendig nur auf der Basis einer Schuldvermutung erfolgen, obgleich der "gesetzliche Beweis der Schuld" (Art. 6 II EMRK) noch gar nicht geführt wurde. Kern des Abspracheverfahrens ist die vorzeitige gerichtliche Festlegung auf eine Verurteilung, gegen die sich der Angeklagte nicht mehr verteidigen kann.[35] Ist das noch ein fairer Strafprozess?
Der Rechtsstaat lebt von der Akzeptanz seiner Normen, die im Kontext des Strafprozesses eine auf dessen Zweck gerichtete Gesetzlichkeit zu garantieren haben.[36] Aus den Augen verloren werden dürfen daher weder "Ziel" noch "Weg": Wer Abkürzungen nehmen will, kann sich leicht verlaufen; wer gar das Ziel vergessen hat, kennt gar keinen richtigen Weg mehr und irrt nur noch orientierungslos durch die Welt. Nach Jahren der immer neuen Reformen zur Entlastung des Strafjustiz hat die Entwicklung mittlerweile einen Punkt erreicht, an dem zunehmend der Weg (= die Verfahrensbeschleunigung) als das eigentliche Ziel ausgegeben wird. An diesem Punkt muss nachdrücklich betont werden, dass die Sache des Strafens sich aber nicht zirkelschlüssig durch sich selbst als Faktum der Macht rechtfertigt und auch nicht allein durch irgendein Verfahren, sondern erst durch die ihm innewohnende - wertbezogene - Notwendigkeit und Überzeugungskraft.[37]
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Im Bewusstsein der besonderen Schwierigkeit, ohne Befähigung zur letztgültigen Erkenntnis der Wahrheit den Schuldigen gleichwohl seiner Bestrafung zuzuführen und zugleich den Unschuldigen effektiv vor ungerechtfertigter oder maßloser Inanspruchnahme zu schützen, enthält die Strafprozessordnung eine Struktur, die auf Herstellung und Erhaltung einer stabilen Balance wechselseitig sich begrenzender Macht gerichtet ist.[38] Informalisierungen haben demgegenüber den Effekt, die den Asymmetrien der Rollen innewohnenden Energien zu entfesseln und ihnen gleichsam in darwinistischer Manier wieder freien Lauf zu lassen.[39] Angesichts dieser Mechanismen wird der schon längst im Gange befindliche "Vormarsch der Neurobiologie"[40] den Rechtsstaat vor Herausforderungen stellen, in denen er sich ohne Kompass und klare Orientierung selbst verlieren kann.[41] Im Strafverfahrensrecht führt somit nicht etwa die Flucht aus der Form zur Lösung, sondern vielmehr ihr funktionaler Einsatz im Sinne der Justizförmigkeit[42] - nicht zuletzt zum Schutze des Beschuldigten als dem Schwächsten, der auch im Scheinwerferlicht der strafrechtlichen Anklage niemals zum "Objekt" oder gar zum "Feind" werden darf, sondern unverlierbar "Bürger" und "Person" bleibt.[43]
Anhang:
§ 257c StPO
(1) Das Gericht kann sich in geeigneten Fällen mit den Verfahrensbeteiligten nach Maßgabe der folgenden Absätze über den weiteren Fortgang und das Ergebnis des Verfahrens verständigen. § 244 Absatz 2 bleibt unberührt.
(2) Gegenstand dieser Verständigung dürfen nur die Rechtsfolgen sein, die Inhalt des Urteils und der dazugehörigen Beschlüsse sein können, sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrundeliegenden Erkenntnisverfahren
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sowie das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten. Bestandteil jeder Verständigung soll ein Geständnis sein. Der Schuldspruch sowie Maßregeln der Besserung und Sicherung dürfen nicht Gegenstand einer Verständigung sein.
(3) Das Gericht gibt bekannt, welchen Inhalt die Verständigung haben könnte. Es kann dabei unter freier Würdigung aller Umstände des Falles sowie der allgemeinen Strafzumessungserwägungen auch eine Ober- und Untergrenze der Strafe angeben. Die Verfahrensbeteiligten erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Verständigung kommt zustande, wenn Angeklagter und Staatsanwaltschaft dem Vorschlag des Gerichtes zustimmen.
(4) Die Bindung des Gerichtes an eine Verständigung entfällt, wenn rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen worden sind oder sich neu ergeben haben und das Gericht deswegen zu der Überzeugung gelangt, dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder schuldangemessen ist. Gleiches gilt, wenn das weitere Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem Verhalten entspricht, das der Prognose des Gerichtes zugrunde gelegt worden ist. Das Geständnis des Angeklagten darf in diesen Fällen nicht verwertet werden. Das Gericht hat eine Abweichung unverzüglich mitzuteilen.
(5) Der Angeklagte ist über die Voraussetzungen und Folgen einer Abweichung des Gerichtes von dem in Aussicht gestellten Ergebnis nach Absatz 4 zu belehren. ■
ANMERKUNGEN
[1] Vgl. Rudolphi, ZRP1976, 165, 166; Schreiber, in: ders. (Hrsg.), Strafprozeßrecht und Reform, 1979, S. 15.
[2] Im Grundsatz offen eingeräumt und mit aktuellen Beispielen versehen, in der Bewertung jedoch wiederum deutlich beschwichtigend Tepperwien, in: Widmaier-FS 2008, S. 583 ff.; bemerkenswert aber S. 595: "Sucht man ... nach einem roten Faden, so findet man ihn unschwer in dem Bedürfnis nach Verfahrensökonomie und zügiger Durchführung des Strafverfahrens".
[3] Gesetz v. 29.7.2009 (BGBl. I, 2353).
[4] Vgl. die Kritik des Präsidenten des Bundesgerichtshofs Tolksdorf, berichtet in: F.A.Z. v. 30.1.2009: "verheerend für das Ansehen der Justiz"; siehe auch den Bundesrichter Fischer, StraFo 2009, 177, 188: "Schande der Justiz", und die (ehemalige) Generalbundesanwältin Harms, in: Nehm-FS 2006, S. 289: spricht den streng formellen, der Rechtssicherheit dienenden Grundsätzen des Strafprozesses Hohn und bewirkt mehr Veränderungen im herkömmlichen Strafverfahren, "als revisionsgerichtliche Rechtsprechung dies je hätte tun können"; zuletzt dies., zit. in: Murmann (Hrsg.), Recht ohne Regeln? Die Entformalisierung des Strafrechts, 2011, S. 106: "jeder Deal hat seinen Preis"!
[5] Zutreffende Kritik am 2. Opferrechtsreformgesetz, das am 1.10.2009 in Kraft getreten ist (BR-Drucks. 641/09), bei Bung, StV 2009, 430 ff.; siehe auch die beiden sehr krit. gutachtlichen Stellungnahmen zum 2. Opferrechtsreformgesetz von Jahn und Pollähne, abrufbar unter: http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse/a06/anhoerungen/Archiv/54_2__Opferrechtsreformgesetz/04_Stellungnahmen/index.html.
[6] Eberhard Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil I, 1952, Rn 14.
[7] Hamm/Hassemer/Pauly, Beweisantragsrecht, 2. Aufl. 2007, Rn 27 ff.; zu den "diversen Wahrheiten" vertiefend Volk, in: Salger-FS 1995, S. 411 ff.
[8] BGH, StV 2009, 454, 456 m. Bspr. Sattele; zuvor bereits generell zweifelnd BGH, StV 2008, 9, 10; dieser neuen Rechtsprechungstendenz mit überzeugenden Gründen zustimmend Habetha/Trüg, GA 2009, 406, 415 ff.
[9] Diese Grundfrage steht derzeit im Blickpunkt im Zusammenhang mit den an die erforderliche Bestimmtheit eines Beweisantrags gestellten Anforderungen ("Konnexität zwischen Beweismittel und Beweisbehauptung"), siehe zuletzt BGH HRRS 1/2010, Nr. 49.
[10] Wo genau die Grenze gezogen werden soll, um einerseits die Zuverlässigkeit der Tatsachenermittlung nicht zu schmälern und andererseits eine "ins Uferlose ausgedehnte" Beweiserhebung zu verhindern, ist natürlich eine normative (und letztlich richterrechtlich beantwortete) Frage, vgl. Volk, in: Salger-FS 1995, S. 411, 417 ff.
[11] Hamm/Hassemer/Pauly (Fn 7), Rn 30.
[12] Unter diesem Titel zuletzt eingehend: Habetha/Trüg, GA 2009, 406 ff.; siehe aus dem aktuellen Schrifttum auch Fezer, HRRS 2008, S. 457 ff. und 2009, S. 17 ff.; Schneider, in: Eisenberg-FS 2009, S. 609 ff.; Wittig, in: Volk-FS 2009, S. 885 ff.; ein gegenwärtiges "Zuviel" sieht dagegen Foth, in: Widmaier-FS 2008, S. 223 ff.
[13] Im konkreten Fall: "Vielzahl sachlich unberechtigter (?) Beweisanträge", zudem "in sukzessiver Form" gestellt, Reaktion auf Ablehnung mit "umfangreichen Gegenvorstellungen", "vielfach unzulässige Ablehnungsgesuche und Unterbrechungsanträge", schließlich ein "Plädoyer ... über neun Verhandlungstage hinweg", so dass die Urteilsverkündung erst nach dreieinhalb Jahren am 291. Verhandlungstag erfolgen konnte.
[14] Vgl. BGH, NJW 2005, 2466 ff. m. abl. Bspr. Dahs, StV 2006, 116 ff.; Duttge, JZ 2005, 1012 ff.; Gössel, JR 2006, 125 f.
[15] Siehe den Sachverhalt der jüngsten Entscheidung des 5. Senats, vgl. HRRS 2009, Nr. 717.
[16] Vgl. BVerfG, NJW 2010, 592 ff. = NStZ 2010, 155 f. m. abl. Bspr. Duttge/Neumann, HRRS 1/2010, S. 34 ff.
[17] BGH, NStZ 2007, 716; StV 2008, 9, 10; NStZ 2010, 161 f.: Fristversäumung ist "signifikantes Indiz" für das Vorliegen von Prozessverschleppungsabsicht.
[18] Vgl. Gaede, NJW 2009, 605: § 246 StPO als "Museumsexponat".
[19] BGHSt 51, 333, 343 f.
[20] Dazu allgemein Rüthers, JZ2002, 365 ff.; ders., JZ 2006, 958 ff.
[21] Treffend Wittig, in: Volk-FS 2009, S. 885, 891 f.; siehe auch Fezer, HRRS 2009, 17 ff.; Habetha/Trüg, GA 2009, 406, 425 ff.; Jahn, JuS 2009, 372, 373; Tepperwien, in: Widmaier-FS 2008, S. 583, 589.
[22] Dazu näher BVerfGE 118, 212 ff. = NJW 2007, 2977 ff. = JR 2008, 73 ff. m. Anm. Peglau; siehe auch Dehne-Niemann, ZIS 2008, 239 ff.; Gaede, HRRS 2007, 292 ff.; GA 2008, 408 ff.; Hamm, StV 2008, 208 ff.; Maier, NStZ 2008, 227 ff.; Paster/Sättele, NStZ 2007, 609 ff.
[23] Vgl. schon RGSt 2, 76, 77 f.; weiterhin RGSt 24, 215; BGHSt 2, 125 ff.; 34, 11, 12; BGH, NJW 1986, 1820; StV2002, 530; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung. Kommentar, 52. Aufl. 2009, § 271 Rn 26; SK/StPO/Schlüchter, § 271 Rn 26; Tepperwien, in: Meyer-Goßner-FS 2001, S. 595, 602 ff; a.A. Schäfer, in: BGH-FS aus der Praxis, 2000, S. 707, 716 ff.
[24] BGHSt 51, 298, 310 ff. = NJW 2007, 2419 ff. = NStZ 2007, 661 ff. m. zust. Bspr. Fahl, JR 2007, 340 ff.; jüngstes Anwendungsbeispiel einer nun zugelassenen "nachträglichen Klarstellung des Inhalts eines unklaren Hauptverhandlungsprotokolls": BGH HRRS 2/2010, Nr. 107.
[25] Überzeugend in diesem Sinne das dissenting vote der Bundesverfassungsrichter Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio, vgl. BVerfG NJW 2009, 1469, 1481; siehe auch Kudlich/Christensen, JZ 2009, 943 ff. zur methodischen Fehlannahme einer Regelungslücke.
[26] Ablehnend Knauer, in: Widmaier-FS 2008, S. 291 ff.
[27] Beulke, in: Böttcher-FS 2007, S. 17, 26; eindrucksvoll auch Hamm, NJW 2006, 2084, 2086 f.; ebenso das Fazit bei Dehne-Niemann, ZStW 121 (2009), 321, 376: Die neue Rspr. "verkennt ... in bedenklicher Weise den Wert der den Angeklagten schützenden Formen des Strafprozesses".
[28] Im hiesigen Kontext gegen die neue Rspr.: Fezer, StF2006, 290 ff. und in: Otto-FS 2007, S. 908 ff.; Gaede, HRRS 2006, 409 ff.; Meyer-Goßner (Fn 23), § 274 Rn 26a; Schlothauer, in: Hamm-FS 2008, S. 655 ff.; Schünemann, GA 2008, 314, 319 f.; Schumann, JZ 2007, 927 f.; Valerius, in: Paulus-FG 2009, S. 185 ff.; Wagner, GA 2008, 442 ff.; Ziegert, in: Volk-FS 2009, S. 901 ff.
[29] Oben Fn 3.
[30] Gesetzestext im Anhang.
[31] Wie hier statt vieler zuletzt auch Gössel, JR 2008, 83, 84; siehe auch Murmann, ZIS 2009, 526, 532: Verständigung und Aufklärungspflicht sind "schlechterdings nicht kompatibel"; Rieß, ZIS 2009, 466, 480 m. Fn 131: "verbale Aufrechterhaltung des Amtsaufklärungsgrundsatzes".
[32] Vgl. Volk, in: Dahs-FS 2005, S. 495, 501 treffend: Schlüchter, in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozessrechts (= Rudolphi-FG), 1995, S. 205, 223: das vom Angeklagten erwartete Geständnis hat lediglich den Zweck, der bestehenden Zweifel zum Trotz dennoch "leichteren Gewissens" strafen zu können.
[33] Wie hier u.a. auch Gössel, in: Böttcher-FS 2007, S. 79, 88; siehe dazu weiterhin den ernüchternden Bericht von B.Schmitt, GA 2001, 411, 413 ff.
[34] Hassemer, in: Hamm-FS 2008, S. 171, 188; in diesem Sinne schon zuvor Duttge, ZStW 115 (2003), 539 ff.; Lien, GA 2006, 129, 135 ff.; anders jedoch Ignor, in: Festschrift zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer 2006, S. 321, 329 f.: Prinzip der materiellen Wahrheit sei ein verzichtbares Recht.
[35] Vgl. Schünemann spricht von einer "Korrumpierung der Richterrolle" (ZRP 2009, 104, 107).
[36] Vgl. Schlüchter, in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozessrechts (= Rudolphi-FG) 1995, S. 205, S. 217 und 219.
[37] Zum aktuellen Stand der Strafzweckdebatte und zur Renaissance retributiver Straftheorien zuletzt m.w.N. Duttge, Menschengerechtes Strafen, in: Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Hrsg.), Das strafende Gesetz im sozialen Staat, 2010, S. 1 ff. [im Erscheinen].
[38] Klassisch: Eb. Schmidt (Fn 6), Rn 13.
[39] Aufschlussreich jüngst zum 2. Opferrechtsreformgesetz Bung, StV 2009, 430 f.; siehe auch Hassemer, in: Volk-FS 2009, S. 207, 213: "Chaotisierung des Verfahrens". Vgl. auch: Hassemer, in: Volk-FS 2009, S. 207, 220.
[40] Zuletzt dazu eingehend die Beiträge des Bandes: Duttge (Hrsg.), Das Ich und sein Gehirn, 2009.
[41] Siehe dazu auch die Vorträge anlässlich der Tagung der deutschen Strafrechtslehrerinnen und Strafrechtslehrer im Mai 2009 (siehe auch den Bericht von Oliver Tolmein, in: FAZ v. 27.5.2009, S. N4); der 68. Deutsche Juristentag hat sich in seiner strafrechtlichen Abteilung im September 2010 mit dem Generalthema auseinandergesetzt: "Erfordert das Beschleunigungsgebot eine Umgestaltung des Strafverfahrens?".
[42] Schlüchter (Fn 36), S. 225.
[43] Aus der intensiv geführten Debatte um ein "Feindstrafrecht" vgl. zuletzt u.a. Crespo, Zis 2006, 413 ff.; Gössel, in: Schroeder-FS 2006, S. 33 ff.; B. Heinrich, ZStW 121 (2009), 94 ff.; Hörnle, GA 2006, 80 ff.; Greco, GA 2006, 96 ff.; Paeffgen, in: Amelung-FS 2008, S. 81 ff.; Sacher, ZStW118 (2006), S. 574, 605 ff. ; Saliger, JZ2006, 756 ff.; Schünemann, in: Nehm-FS 2006, S. 219 ff.
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