Kaum ein anderes Gebiet des Gemeinschaftsrechts hat in den seit der Jahrtausendwende vergangenen Jahren eine ähnlich rasante Entwicklung hinter sich, wie das justizielle Europarecht. Ein vorläufiger Gipfel dieser Entwicklung ist sicherlich mit zwei - gewissermaßen eine neue Generation der Rechtsinstrumente betreffend die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen repräsentierenden - Verordnungen, nämlich der EG-MahnVO und der EG-BagatellVO erreicht. Mit der EG-BagatellVO wagt sich der europäische Gesetzgeber zugleich erstmalig auf das Gebiet der primären Prozessrechtsvereinheitlichung und schafft ein originär europäisches Erkenntnisverfahren, dessen Ergebnis ein unionsweit frei zirkulierendes, dh. eines Exequatur nicht mehr bedürftiges streitiges Zivilurteil ist. In diesem Sinne repräsentiert die EG-BagatellVO in mehrerer Hinsicht einen neuen "Integrationsschritt" im justiziellen Europarecht: Während die EG-VollstrTitelVO die Befreiung vom Erfordernis des Exequaturverfahrens nur solchen Titeln erteilte, die unbestrittene Forderungen ausweisen, dehnt die EG-BagatellVO diese Liberalisierung auf Entscheidungen aus, denen ein streitiges Verfahren voraufgegangen ist. Immerhin wird dieser
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Schritt - gleichsam wohl vom europäischen Gesetzgeber als eine Art Experiment gedacht - erst mal nur für "geringfügige", dh. 2000 EUR nicht überschreitende Forderungen gewagt und zwar mit dem Hauptargument, bei solch kleinen Streitwerten stünden der zeitliche Aufwand und die Kosten, die mit dem ordentlichen Zivilverfahren verbunden seien, im Falle grenzüberschreitender Rechtsverfolgung außer Verhältnis.
Nach der Vorstellung des Verordnungsgebers soll zudem denjenigen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bzw. deren Rechtssuchenden Aushilfe geleistet werden, die keine summarischen Verfahrensarten kennen. Der Verordnungsgeber denkt den genannten Normadressaten durch Bereitstellung eines praktisch ausschließlich auf vorformulierten und nur auszufüllenden Schriftsätzen aufbauenden Verfahrens zu helfen. Vereinfachung, Schnelligkeit und Kostengünstigkeit sollen unter Preisgabe mancher in den Verfassungsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten fest verankerten Verfahrensgarantie erkauft werden. Auch daher ist es erfreulich, dass die Verordnungsgebung hier ausnahmsweise nicht zu einer Zwangsbeglückung geführt hat: Das europäische Bagatellverfahren tritt für die Zwecke grenzüberschreitender Forderungsdurchsetzung lediglich als eine Alternative neben die autonomen mitgliedstaatlichen Zivilverfahrensrechte sowie neben die bereits existierenden, demselben Zweck dienenden Instrumentarien des europäischen Zivilprozessrechts. Gemessen am Aufwand, von dem seit 2001 die Verordnungsinitiative begleitet war, ist die EG-BagatellVO trotz des Innovationswillens des europäischen Gesetzgebers das Ergebnis einer l'art pour l'art-Rechtssetzung der besonderen Art. Ohne ersichtlichen substanziellen Gewinn für die internationale Rechtsverfolgung stellt sie den bereits existierenden Methoden derselben in Europa ein weiteres Rechtsinstrument an die Seite und sorgt so statt der angestrebten Vereinfachung für fortschreitende Zersplitterung des auch sonst bereits ausufernden justiziellen Europarechts.
Auch im Vergleich zu den seit der im Amsterdamer Vertrag vollzogenen Schaffung der primären gemeinschaftlichen Regelungskompetenz auf dem Gebiet der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen ergangenen Rechtsakten läutet jedoch gerade die EG-BagatellVO zugleich einen gewissen Paradigmenwechsel ein. Während die Gesetzgebung der
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ersten Jahre nach Inkrafttreten der Ermächtigungsgrundlage des Artt. 61 lit. c, 65 EGV noch den traditionellen Bereichen des internationalen Zivilprozessrechts gewidmet war, hat der Verordnungsgeber in den Jahren 2006 und 2007 völlig neue Wege beschritten und sich - zumindest ansatzweise - der Regelung des primären Erkenntnisverfahrens angenommen. In einer solchen Wagnis offenbart sich die Überzeugung des europäischen Gesetzgebers, dass die hergebrachten Gebiete des internationalen Zivilprozessrechts, dh. die internationale Zuständigkeit, die wechselseitige Anerkennung und Vollstreckung, sowie die Kernbereiche der Rechtshilfe, die grenzüberschreitende Zustellung und Beweiserhebung abschließend oder zumindest erst mal befriedigend geregelt seien. Nur vor dem Hintergrund einer solchen Annahme ist es zu erklären, dass nunmehr die "Europäisierung" von primär prozessualen Regelungen inmitten des Erkenntnisverfahrens in Angriff genommen worden ist. Der europäische Gesetzgeber sprengt damit den Rahmen des ursprünglich auf Koordinierung der autonomen einzelstaatlichen Zivilprozessrechte zugeschnittenen internationalen Zivilprozessrechts und geht ansatzweise - zumindest auf Teilgebieten - zur Prozessrechtsvereinheitlichung über.
Charismatisch und mit dem erklärten Anspruch auf Systembildung schaffen die ersten zwei Ergebnisse dieser bedenklichen Entwicklung, die EG-BagatellVO und die Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens - etwa im Gegensatz zur EG-VollstrTitelVO - eigenständige, originär europäische Verfahrensarten, die im Ergebnis zu ebenfalls eigenständigen europäischen Titeln führen. Wie schon die Abschaffung des Exequatur im Rahmen der EG-VollstrTitelVO, wird die Möglichkeit und damit die Notwendigkeit der Prozessrechtsvereinheitlichung auch hier mit jenem Vertrauensdogma legitimiert, nach dem die Zivilrechtspflege in den einzelnen Mitgliedstaaten als dermaßen gleichwertig betrachtet werden dürfe, dass sich eine Ergebniskontrolle außerhalb des Ursprungstaates erübrige. Dass es sich hierbei eher um eine Wunsch- bzw. mittlerweile Zwangsvorstellung des europäischen Normgebers handelt, dürfte gerade international tätigen Praktikern keines Beweises bedürftig sein. Hinter der ohne ersichtlichen Mehrwert erfolgten Regelung verbirgt sich womöglich eine weitere Motivation, wie sie insbesondere von Schlosser vermutet
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wird, und die ebenfalls Zweifel an der Notwendigkeit dieses zusätzlichen Rechtsinstruments aufkommen: Da das oben beschriebene, mittlerweile zum Dogma versteinerte Ziel der Abschaffung des Exequaturverfahrens "großflächig auf längere Zeit nicht zu erreichen ist, wird es in kleinen Schritten verfolgt, auch um den Preis immer größerer Zersplitterung der Materie."
Das hauptsächliche Ziel der EG-BagatellVO ist es, in Rechtssachen mit vergleichsweise geringem Streitwert den Rechtssuchenden ein vereinfachtes, beschleunigtes und auch kostengünstiges Verfahren zur Verfügung zu stellen. Bereits das Grünbuch artikuliert die Absicht, der "dreiköpfigen Hydra von Kosten, Zeitaufwand und Ärgernis" begegnen zu wollen, da erfahrungsgemäß keiner dieser drei Konstituenten proportional mit der Verminderung des Streitwertes abnehme.
Zusätzlich weist der Verordnungsgeber in den Erwägungsgründen mit Recht darauf hin, dass solche summarischen Verfahren auf mitgliedstaatlicher Ebene sehr unterschiedlich ausgestaltet sind, was zu Wettbewerbsverzerrungen führen kann. Dem ist hinzuzufügen, dass manche Mitgliedstaaten sogar überhaupt keine solchen, der VO vergleichbaren summarischen Verfahrensarten kennen. Grundsätzlich zu begrüßen ist daher das Anliegen, durch die Schaffung eines einheitlichen europäischen Bagatellverfahrens die internationale Forderungsdurchsetzung erleichtern bzw. erst ermöglichen zu wollen, verzichten doch viele Anspruchsberechtigte schon wegen der unverhältnismäßigen Kosten in diesem Bereich auf die grenzüberschreitende Rechtsverfolgung.
Wie die Folgenabschätzung zu zeigen berufen war, entsteht durch die Häufung von Zahlungsverzügen sowie dem korrespondierenden Verzicht auf internationale Rechtsdurchsetzung bei geringeren Forderungen ein volkswirtschaftliche Ausmaße erreichender Schaden, der durch die Schaffung entsprechender Durchsetzungsmechanismen gesenkt werden kann. Schließlich stand der Verbraucherschutz von Anfang an mit Priorität auf der Liste der Legitimationsgründe für das neue gesetzgeberische Vorhaben. Mit der EG-BagatellVO verknüpfte man die Vorstellung, durch
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die Schaffung eines vereinfachten und damit notwendig bürgernahen Verfahrens den Verbraucher als typischen Kläger zu begünstigen.
Bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs der EG-BagatellVO ergeben sich recht wenige Probleme. Sachlich erfasst die neue Regelung die üblichen Zivil- und Handelssachen, allerdings mit einem etwas erweiterten Ausnahmekatalog im Vergleich etwa zur Brüssel-I VO. Innerhalb des Kreises von Zivil- und Handelssachen ist das Hauptunterscheidungsmerkmal der Streitwert: Sachlich erfasst und damit zugleich als geringfügig definiert sind Forderungen, deren Wert exklusive Zinsen, Auslagen und Kosten 2000 EUR nicht überschreitet. Der räumliche Anwendungsbereich der EG-BagatellVO gestaltet sich ähnlich wie der der anderen einschlägigen Verordnungen: Dänemark hat auch hier von seinem im EGV-Protokoll über die Position Dänemarks zugesicherten Recht auf Fernbleiben Gebrauch gemacht. Daher erlangt die EG-BagatellVO in allen Mitgliedstaaten mit Ausnahme von Dänemark unmittelbare Geltung. Zeitlich gilt die VO ab dem 1. Januar 2009, wobei die Geltung einiger weniger Regelungen auf den 1. Januar 2008 in einer recht problematischen Weise vorgezogen wurde. Diese zeitliche Ausgestaltung bedeutet, dass ein verfahrenseinleitendes Schriftstück ("Formblatt A"), das zur Einleitung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen bestimmt ist, frühestens am 1. Januar 2009 bei Gericht eingereicht werden konnte.
Dem Wesen und dem Regelungsgegenstand der EG-BagatellVO entsprechend sind hierin keine Vorschriften über die internationale Zuständigkeit mitgliedstaatlicher Gerichte vorhanden. Lediglich der grenzüberschreitende Charakter der Rechtssache ist definiert. Danach liegt im Sinne der EG-BagatellVO eine grenzüberschreitende Rechtssache vor, wenn mindestens eine der Parteien ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat als dem des angerufenen Gerichts hat. Daher sind für die Zwecke der internationalen Zuständigkeit mehrere Fallkonstellationen mit jeweils unterschiedlicher Zuständigkeitsrechtsquelle zu unterscheiden. Bei einem Beklagten mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat kommen naturgemäß die Vorschriften der Brüssel I-VO zur Anwendung. Bei einem Beklagten jedoch, der
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außerhalb der EU seinen Wohnsitz hat, kann die EG-BagatellVO ebenfalls Anwendung finden, der grenzüberschreitende Bezug ist ja bereits bei Unterschiedlichkeit des Forumstaates und des Klägerwohnsitzes gegeben. In einem solchen Fall kommen die jeweiligen nationalen (autonomen) Vorschriften über die internationale Zuständigkeit zur Anwendung, dh. die lex fori des jeweiligen Forumstaates. Ausschließlich der jeweiligen lex fori unterfallen ferner auch die sachliche, die örtliche und die funktionelle Zuständigkeit.
Die Eingangsvorschrift der EG-BagatellVO deklariert, dass diese neu geschaffene Verfahrensart lediglich als eine Alternative an die Seite der in den Mitgliedstaaten existierenden Verfahren treten soll. Es ist jedoch fragwürdig, ob dieser alternative Charakter angesichts der derzeit geltenden mitgliedstaatlichen Regelungen verwirklicht werden kann ohne tiefe Eingriffe in die nationalen Zivilprozessrechte. Solche Eingriffe dürften jedenfalls gerade wegen der betonten Alternativität nicht beabsichtigt sein.
Die einzelnen Mitgliedstaaten haben zum einen weit divergierende Vorstellungen darüber, ab welchem Streitwert eine Rechtssache als geringfügig angesehen werden kann. Hier kann auf die bekanntlich bedeutenden Unterschiede der Einkommensverhältnisse und des allgemeinen Lebensniveaus bzw. Lebenshaltungskosten zwischen einzelnen Mitgliedstaaten etwa in Ost- und Westeuropa hingewiesen werden. Selbst in Deutschland ist die Festlegung der Streitwertgrenze bei 2000 EUR auf vielfältige Kritik gestoßen, was vor allem auch hinsichtlich der viel niedrigeren Bagatellgrenze (600 EUR) des deutschen Rechts verständlich ist. Es bedarf kaum einer Erwähnung, dass diese Streitwertgrenze etwa in manchen neuen Mitgliedstaaten auf gesteigerten Unwillen stößt. Hinzu kommt aus mitgliedstaatlicher Sicht, dass die Einführung des europäischen Bagatellverfahrens möglicherweise vielfach noch zu größeren Systembrüchen als etwa in Deutschland führen wird. Viele Mitgliedstaaten haben nämlich kein autonomes streitiges Bagatellverfahren. Demgegenüber können vor mitgliedstaatlichen
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Gerichten Geldforderungen mit vergleichbar geringem Wert teilweise ausschließlich im Wege des Mahnverfahrens geltend gemacht werden. Die Alternativität ist hier problematisch, denn ein mitgliedstaatliches Mahnverfahren mit dem sich anschließenden Nachverfahren und danach immer noch möglichen Rechtsbehelfen ist von weit mehr, in den jeweiligen Verfahrensrechtsordnungen verwurzelten Verfahrensgarantien umgeben, als das europäische Bagatellverfahren. So werden den Rechtssuchenden - abhängig vom Vorhandensein einer im Sinne der VO zu definierenden Grenzüberschreitung - unterschiedliche Verfahrensarten zur Verfügung stehen, diejedoch ein sehr unterschiedliches Niveau an Verfahrensgarantien bieten.
Bei der Deklarierung des alternativen Charakters hat der europäische Gesetzgeber offenbar wenig Bedacht auf mögliche funktionelle Überlappungen zwischen Bagatell- und Mahnverfahren genommen. Dies hätte ein Minimum an funktionaler Prozessrechtsvergleichung vorausgesetzt, die ja gerade dazu berufen ist, grenzüberschreitende Normgebung zu unterstützen. Die Alternativität kann sehr wohl zur Benachteiligung jeweils inländischer Beklagter führen, denn es liegt ausschließlich in der Hand des ausländischen (somit Grenzüberschreitung gegeben) Klägers, den Beklagten statt in einem in aller Regel zwingend mündlichen, mit suspensiven und devolutiven Rechtsmitteln ausgestatteten Verfahren gemäß der lex fori in einem solchen verurteilen zu lassen, das dieser rechtstaatlichen Garantien weitgehend entbehrt. Umgekehrt, dh. rein aus der Sicht der Bekämpfung von Zahlungsverzug, des Gläubigerschutzes bzw. des erklärten Willens des europäischen Gesetzgebers zur Gläubigerbegünstigung können die von etwas abgespeckten Verfahrensgarantien begleiteten Regelungen der EG-BagatellVO auch als positiv gewertet werden.
Schließlich kann die Alternativität sogar zur Ausschließlichkeit (natürlich nur auf dem Gebiet der vereinfachten Forderungsdurchsetzung) erstarken, nämlich in den Mitgliedstaaten, deren Heimatverfahrensrechte kein autonomes Bagatellverfahren kennen. Festzuhalten bleibt, dass das europäische Bagatellverfahren die einzelstaatlichen Prozessrechte, einschließlich deren spezieller summarischer Verfahrensarten in keiner Weise verdrängt. Vielmehr tritt es neben diese als eine weitere Alternative. Wegen der genannten Aspekte der Alternativität können die Unterschiede
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zwischen den einschlägigen autonomen Verfahrensregeln des jeweiligen Forumstaates und der EG-BagatellVO bei der Wahl zwischen diesen vorhandenen Forderungsdurchsetzungsmechanismen eine bedeutende Rolle spielen. Aus diesem Grund bietet es sich an, der Kommentierung der einzelnen Artikel eine kurze und nicht erschöpfende vergleichende Übersicht über geltende autonome Vorschriften, zu denen das Verhältnis der Alternativität besteht, voranzustellen.
Die EG-BagatellVO lässt nicht nur die einzelnen mitgliedstaatlichen Verfahrensarten sondern auch die parallel geltenden gemeinschaftsrechtlichen Regelwerke unberührt. So bleibt die Brüssel-I VO auch weiterhin die Grundlage für die internationale Zuständigkeitsbestimmung. Als ebenbürtige Möglichkeit der grenzüberschreitenden Forderungsdurchsetzung ohne Streitwertbegrenzung steht auch das Verfahren nach der EG-Mahn-VO neben der EG-BagatellVO. Schwer abzuschätzen ist dahingegen, wie sich die einzelnen Vollstreckungsregime zueinander verhalten. Die EG-BagatellVO spricht von "Bestätigung" in Gestalt eines Formblatts. Diese durch das Erstgericht ausgestellte Bestätigung muss dem Antrag auf Vollstreckung beigefügt werden. Es ist nicht ganz ersichtlich, wie sich diese Bestätigung zu den formalen Voraussetzungen der anderen europäischen Verfahrensarten verhält, insbesondere zur Bestätigung als europäischer Vollstreckungstitel.
Wie bereits oben ausgeführt, dürfte dieser neuen Art der Bestätigung keine allzu große Bedeutung zukommen, da sie lediglich deklaratorischen - und nicht konstitutiven - Charakter besitzt. Mit Hinblick auf Art. 7 Abs. 3 EG-BagatellVO (funktional: "Bagatellversäumnisurteil") kann für Bagatelltitel auch eine Bestätigung als europäischer Vollstreckungstitel im Sinne der EG-VollstrTitelVO in Frage kommen. Neben dem vergleichsweise schwerfälligen Anerkennungs- und Vollstreckungsregime der Brüssel-I VO gibt es dann noch die ebenfalls neu geschaffene Möglichkeit der automatischen Vollstreckung ohne jegliche Bestätigung im Rahmen der EG-MahnVO. Die Bereicherung dieser "Artenvielfalt" der Vollstreckungsformalien muss sich scharfe Kritik gefallen lassen.
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Die Einreichung der Klage beim zuständigen Gericht sowie die Klageerwiderung seitens des Beklagten erfolgen grundsätzlich durch Ausfüllen und Einreichen von vorgefertigten Formblättern, die die Gerichte immer verfügbar haben und bei deren Ausfüllung sie Hilfestellung leisten müssen. Ist die dergestalt vorformulierte Klageschrift nicht ordnungsgemäß ausgefüllt oder fällt die geltend gemachte Forderung nicht in den Anwendungsbereich der EG-BagatellVO, so kann das zur Abweisung wegen Unzulässigkeit führen. Zu Recht wird jedoch im Schrifttum die Möglichkeit zur Weiterführung des Verfahrens nach den einschlägigen Regeln der lex fori auch in diesen Fällen bejaht. Das bedeutet, dass die im Sinne der EG-BagatellVO mangelhafte, jedoch den nationalen Vorschriften über die Klageerhebung genügende Verfahrenseinleitung in diesem Fall auch mit ex tunc-verjährungsunterbrechender Wirkung in einen ordentlichen nationalen Zivilprozess mündet.
Die Verordnung sieht über die Abweisung wegen Unzulässigkeit hinaus an gleicher Stelle noch die - sicherlich über das Maß der beabsichtigten Verfahrensvereinfachung deutlich und zugleich völlig unbedacht hinausgehende - Möglichkeit der Abweisung wegen offensichtlicher Unbegründetheit vor. Die Verordnung enthält jedoch auch eine Vielzahl von Regelungen, die tatsächlich der Vereinfachung und Beschleunigung der Entscheidungsfindung beitragen sollen und können. Hierzu gehören die hier einleitend nur stichwortartig zu erwähnenden Verfahrensvorschriften über die Fristen, die sowohl die Prozesshandlungen der Parteien als auch die des Gerichts erfassen. Zählt man alle in der VO genannten, vom Gericht und von den Parteien zu beachtenden Fristen (Klageerwiderung, Stellungnahme seitens des Klägers, Widerklage, etwaige Beweisanträge und Beweisaufnahme und schließlich ausnahmsweise eine mündliche Verhandlung) zusammen, so wird es klar, dass es dem Verordnungsgeber daran gelegen war, spätestens etwa 6 Monate nach Klageerhebung das Verfahren durch Sachurteil abschließen zu lassen.
Kaum verständlich bis unseriös mutet daher die "Fristengeneralklausel" des Art. 14 Abs. 3 an, wonach das Gericht die erforderlichen Verfahrensschritte doch so bald wie möglich veranlassen solle, sollte es die genann-
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ten Fristen "ausnahmsweise nicht einhalten" können. Diese Vorschrift ist dazu geeignet, die Fristen zur Bedeutungslosigkeit zu verdammen und damit letztlich eines der Hauptziele der EG-BagatellVO, nämlich die Verfahrensbeschleunigung zu vereiteln. Auch die grundsätzliche Schriftlichkeit des Verfahrens mit nur Ausnahmecharakter der mündlichen Verhandlung dient vornehmlich der Vereinfachung und der Beschleunigung. Der grundsätzliche Ausschluss der Mündlichkeit wirft jedoch gerade wegen des hohen Grades an Formalisierung in Gestalt von Formblättern Probleme auf, die ebenfalls im Folgenden gesondert hervorgehoben werden sollen. Den Parteien ist ferner kein Anwaltszwang auferlegt und einen solchen dürfen auch die nationalen Gesetzgebungen nicht schleichend einführen.
Ist keiner der erwähnten formalen Abweisungsgründe vorhanden und soll das Verfahren auch nicht in der geschilderten Weise in Gestalt eines ordentlichen Zivilprozesses nach der lex fori fortgeführt werden, so fällt das Gericht - nach uU. möglicher verlängerter Beweisaufnahme und ausnahmsweise nach einer mündlichen Verhandlung - ein Urteil in der Sache. Zu einem solchen kann es allerdings auch viel früher kommen, denn die EG-BagatellVO eröffnet implizit auch die Möglichkeit eines Versäumnisurteils.
Ein Sonderproblem des Verhältnisses zu anderen europäischen zivilprozessualen Rechtsquellen stellt die Regelung der internationalen Zustellung dar. Etwas unglücklich kombiniert die Verweisungsnorm des Art. 13 Abs. 2 die grundsätzlich zu bewirkende Postzustellung mit Empfangsbestätigung mit den Zustellungsformen der Artt. 13, 14 der EG-VollstrTitelVO. Es fragt sich, ob damit die bisherigen europäischen Zustellungsmindeststandards für die Zwecke der EG-BagatellVO zu unmittelbar anwendbarem Zustellungsrecht erhoben werden. Da diese selbst ursprünglich gerade nicht als originäre Zustellungsregeln sondern nur als Mindeststandards für die Zwecke der Bestätigung als europäischer Vollstreckungstitel gedacht waren, wird mit Recht allenfalls von den Ansätzen einer "schleichenden" Einführung eines autonom-europäischen Zustellungsrechts gesprochen.
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Der Wille des Verordnungsgebers ist hier nicht einfach zu ermitteln. Verneint man die autonome Qualität des Zustellungsregimes der EG-BagatellVO, so kommt man jedoch zwangsläufig zur Anwendung der EG-ZustellVO, des HZÜ sowie der autonomen nationalen Zustellungsregeln, was aber vom Verordnungsgeber gerade auf dieser Stufe der justiziellen Integration (originäres europäisches Erkenntnisverfahren!) offenbar nicht gewollt sein konnte. Daher sprechen gute Gründe dafür, dass der europäische Gesetzgeber - wenn auch etwas halbherzig - erstmals ein autonomes Zustellungsregime schaffen wollte. Das hätte eindeutiger geschehen sollen.
Eine bereits kritisch erwähnte Vorschrift der EG-BagatellVO ermöglicht es dem Richter in der Phase der formalen Überprüfung der Klageschrift gleich nach deren Einreichung, die Klage als offensichtlich unbegründet abzuweisen. Diese Vorschrift setzt sich über jeden rechtsstaatlichen Maßstab hinweg und missachtet auch die prozessuale Wirklichkeit, die doch gerade durch die EG-BagatellVO geschaffen worden ist. Danach ist das Gericht in dieser Phase nur mit der Klageschrift vertraut und kennt weder die Klageerwiderung noch alle Beweismittel, da deren sofortige Präsentierung die VO gerade nicht zwingend vorschreibt. Die Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens sollte sicherlich nicht so weit gedeihen, dass letztlich der Justizgewährungsanspruch ausgehöhlt wird. Dies zwingt nämlich manche Mitgliedstaaten nicht zuletzt zu einem Bruch mit fest verankerten nationalen Verfassungswerten. Es ist grotesk und mehr als bedauerlich, dass nunmehr die Europäische Union die Geltung einer solchen Vorschrift erzwingt. Wie aus dem erst spärlich vorhandenen Schrifttum hervorgeht, ist diese Regel für mehrere mitgliedstaatlichen Rechtssysteme, so etwa auch für das deutsche, befremdlich. Nicht von ungefähr will man hier etwas wohlwollend von Unschlüssigkeit statt Unbegründetheit ausgehen, um zumindest die materielle Rechtskraft potenziell grundfalscher Entscheidungen zu verhindern.
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In dem Eifer, ein wirklich beschleunigtes Verfahren in die Welt zu setzen, verzichtet die EG-BagatellVO gleich auf eine Reihe von prozessualen Garantien. Das Verfahren soll hochformalisiert in Gestalt von Formblättern schriftlich geführt werden. Einen Parteiantrag auf Abhaltung einer mündlichen Verhandlung kann das Gericht mit der pauschalen Begründung, dass eine solche nicht erforderlich sei, zurückweisen. Es ist fraglich, wie diese Regelung den Anforderungen gerecht werden kann, die von Art. 6 EMRK und der sich daran anschließenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an ein faires Verfahren gestellt werden.
Das im Bagatellverfahren ergehende Urteil trägt das sehr wichtige und zugleich höchst problematische Effektivitätsmerkmal der vorläufigen Vollstreckbarkeit an sich. Lediglich in Ausnahmesituationen ist eine Beschränkung oder Aussetzung der Vollstreckung möglich. Aus der unmittelbaren Vollstreckbarkeit des Urteils folgt der insoweit konsequente Verzicht der EG-BagatellVO auf die Regelung von Rechtsmitteln. Dies wird ausdrücklich den einzelnen nationalen Zivilprozessrechten überlassen, wobei hier wohl für die meisten Mitgliedstaaten von der Statthaftigkeit der Berufung (oder eines funktional gleichgestellten Rechtsmittels) auszugehen sein wird. Problematisch ist dabei ua. das Verhältnis dieses in der Regel mit Devolutiv- und Suspensiveffekt ausgestatteten Rechtsmittels zu dem nicht devolutiven und auch nicht suspensiven Rechtsbehelf der EG-BagatellVO in Gestalt der sogenannten "Überprüfung des Urteils". Dieser kann auf Zustellungsmängel und auf solche außergewöhnlichen Umstände gestützt werden, die dem Beklagten ohne sein Verschulden das Bestreiten der Forderung unmöglich gemacht haben. Auch die von der EG-BagatellVO für den Fall der Begründetheit des Überprüfungsantrags angeordnete Rechtsfolge, nämlich die Nichtigkeit des Urteils wirft weiter zu verfolgende Fragen auf, da "Nichtigkeit" als Folge eines erfolgreichen Rechtsbehelfs in den mitgliedstaatlichen Zivilprozessrechten entweder unbekannt, bedeutungslos oder mit weit divergierendem Inhalt ausgefüllt ist.
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Schließlich wirft der Verzicht auf die Möglichkeit der Geltendmachung von Vollstreckungsversagungsgründen auch schwerwiegende Bedenken auf. Dass der Verordnungsgeber selbst auf eine ordre public-Kontrolle im jeweiligen Exequaturstaat verzichtet, steht zwar gewissermaßen in der Tradition der EG-VollstrTitelVO. Dies muss sich jedoch die gleichen verfassungsrechtlichen Kritikpunkte vorhalten lassen, wie die EG-VollstrTitelVO. Der einzige Rechtsbehelf, den die EG-BagatellVO selbst kennt, und die uU. zur Aussetzung der Vollstreckung führen kann, nämlich die Überprüfung des Urteils, die teils auf Zustellungsmängel, teils auf außergewöhnliche, das Bestreiten der Forderung hindernde Umstände gestützt werden kann, weckt schließlich auch vielfältige Bedenken. Die begründete Geltendmachung der Überprüfung führt nämlich entsprechend der hier einschlägigen Norm zu der Nichtigkeit des Urteils und entfaltet wohl Wiedereinsetzungsfolgen.
Es wird jedoch zu zeigen sein, dass in diesem Kontext nicht nur der Rechtsbegriff der Urteilsnichtigkeit Probleme bereitet, sondern die Abwesenheit einer klaren Fristenregelung sowie einer Abstimmung mit den mitgliedstaatlichen Rechtsmitteln voraussehbar für Rechtsunsicherheit sorgen wird.
Obwohl der Verbraucherschutz von Anfang an ein Hauptanliegen des Verordnungsgebers war, hat schließlich etwas überraschend keine Art. 6 Abs. 2 EG-MahnVO vergleichbare Schutzbestimmung Eingang in den Text der VO gefunden. Damit sind Verbraucher als Beklagte nicht restlos gegen ausländische Zuständigkeiten geschützt, mögen sich diese aus der Brüssel I-VO oder aus der jeweiligen lex fori des Gerichtsstaates ergeben. Somit sind die Verbraucher auf die Schutzmechanismen dieser genannten Rechtsquellen angewiesen (Abschnitt 3-5 Brüssel I-VO).
Gerade im Lichte der Tatsache, dass sehr viele Forderungen aus Verbraucherverträgen wegen ihres geringen Wertes in den Anwendungsbereich der VO fallen werden, wäre eine mit der EG-MahnVO - und inhaltlich auch mit Art. 6 Abs. 1 lit b) - gleichlaufende klarstellende Zuständigkeitsregelung zugunsten des Verbrauchers in Beklagtenposition ange-
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bracht gewesen. Mögen auch die Brüssel I-VO und im Einzelfall die leges fori entsprechenden Schutz bieten, wurde hier mit Recht die in der Praxis "nicht ganz grundlose Sorge" geäußert, dass mangels einer solchen Klarstellung eine präzise Zuständigkeitsprüfung unterbleiben und damit der Verbraucherschutz letzten Endes durch die - unanfechtbare - Bejahung von der VO nicht gewollter Zuständigkeiten ausgehöhlt werden kann.
Schwerer wiegt ein anderer Umstand, der maßgeblich zur Relativierung des ursprünglichen Verbraucherschutzziels beiträgt: Offenbar wird unterstellt, dass die vereinfachte Verfahrensart den Verbraucher nur begünstigen kann. Dies trifft jedoch lediglich für den Fall zu, in dem der Verbraucher als Gläubiger einer Forderung als Kläger aktiv wird. Zahlen- und streitwertmäßig nicht unterlegen dürften jedoch die Fälle sein, in denen international agierende Unternehmen, vornehmlich aus dem Bereich des Internethandels und des Versandgeschäfts mit eigener Rechtsabteilung als Kläger gegen den Verbraucher als Beklagten auftreten. In dieser Situation werden sich die Vereinfachungen und das Fehlen der über Bord geworfenen Verfahrensgarantien für den Verbraucher schnell als gravierende Nachteile enthüllen.
"Mit dieser Verordnung wird ein europäisches Verfahren für geringfügige Forderungen eingeführt, damit Streitigkeiten in grenzüberschreitenden Rechtssachen mit geringem Streitwert einfacher und schneller beigelegt und die Kosten hierfür reduziert werden können. Das europäische Verfahren für geringfügige Forderungen steht den Rechtssuchenden als eine Alternative zu den in den Mitgliedstaaten bestehenden innerstaatlichen Verfahren zur Verfügung.
Mit dieser Verordnung wird außerdem die Notwendigkeit von Zwischenverfahren zur Anerkennung und Vollstreckung der in anderen Mitgliedstaaten im Verfahren für geringfügige Forderungen ergangenen Urteile beseitigt."
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Der Eingangsartikel der EG-BagatellVO hat - wie bereits in manchen voraufgehenden Verordnungen auf dem Gebiet der justiziellen Zusammenarbeit - deklarativen Charakter ohne eigenständigen speziellen Regelungsgehalt. In Einklang mit den Erwägungsgründen werden hier noch einmal die hauptsächlichen gesetzgeberischen Motive angesprochen, die für den Erlass maßgebend waren: Verfahrensvereinfachung, Beschleunigung und Kostengünstigkeit. Nicht von ungefähr stehen diese, allesamt dem Gläubigerschutz dienenden Aspekte an der Spitze der Verordnung: Gläubiger sollen nach dem Willen des europäischen Gesetzgebers dazu ermutigt werden, selbst bei geringen Forderungen die - durch die hervorgehobenen Aspekte gerade gesenkten - Lasten einer grenzüberschreitenden Rechtsverfolgung auf sichzunehmen. Dieimzweiten Satz der Vorschrift statuierte Alternativität des Bagatellverfahrens kommt - entgegen dem Wortlaut - nicht nur gegenüber den in den Mitgliedstaaten bestehenden innerstaatlichen Verfahren zur Geltung. Vielmehr stellt es eine Alternative auch der Rechtsdurchsetzungsmechanismen des justiziellen Europarechts, etwa gerade des europäischen Mahnverfahrens dar. Im letzten Satz des Artikels wird sodann die automatische Anerkennung und Vollstreckung, also praktisch der freie Urteilsverkehr innerhalb der Union statuiert.
Im Vergleich zu dem bisherigen, auf Anerkennung und Vollstreckbarerklärung (Brüssel-I VO) bzw. in einem nächsten Schritt auf Bestätigung im Urteilsstaat (EG-VollstrTitelVO) aufbauenden System verkörpert jedoch die EG-BagatellVO eine neue Generation der Verordnungen auf dem Gebiet der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen, denn das Bagatellverfahren resultiert in einem originär europäischen Titel. Daher bedarf ein in einem solchen Verfahren ergangener Titel logischerweise keines Zwischenverfahrens zur Anerkennung und Vollstreckung, und zwar weder in Form einer Bestätigung im Ursprungsmitgliedstaat noch in Gestalt eines Anerkennungs- und Vollstreckbarerklärungsverfahrens im Vollstreckungsmitgliedstaat. Die in Art. 20 Abs. 2 EG-BagatellVO geregelte, auf Antrag zu erfolgende Bestätigung konstituiert nicht sondern deklariert lediglich die automatisch bestehende unionsweite Vollstreckbarkeit. Mit der erstmaligen Schaffung
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eines europaweit einheitlichen Erkenntnisverfahrens und der an die EG-VollstrTitelVO anknüpfenden unmittelbaren Vollstreckbarkeit läutet daher die EG-BagatellVO zusammen mit der EG-MahnVO eine neue Generation der Rechtsinstrumente auf dem Gebiet der justiziellen Zusammenarbeit ein.
"(1) Diese Verordnung gilt für grenzüberschreitende Rechtssachen in Zivil- und Handelssachen, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt, wenn der Streitwert der Klage ohne Zinsen, Kosten und Auslagen zum Zeitpunkt des Eingangs beim zuständigen Gericht 2000 EUR nicht überschreitet. Sie erfasst insbesondere nicht Steuer- und Zollsachen, verwaltungsrechtliche Angelegenheiten sowie die Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte ("acta iure imperii").
(2) Diese Verordnung ist nicht anzuwenden auf:
a) den Personenstand, die Rechts- und Handlungsfähigkeit sowie die gesetzliche Vertretung von natürlichen Personen,
b) die ehelichen Güterstände, das Unterhaltsrecht und das Gebiet des Erbrechts einschließlich des Testamentsrechts,
c) Konkurse, Verfahren im Zusammenhang mit der Abwicklung zahlungsunfähiger Unternehmen oder anderer juristischer Personen, gerichtliche Vergleiche, Vergleiche und ähnliche Verfahren,
d) die soziale Sicherheit,
e) die Schiedsgerichtsbarkeit,
f) das Arbeitsrecht,
g) die Miete oder Pacht unbeweglicher Sachen, mit Ausnahme von Klagen wegen Geldforderungen, oder
h) die Verletzung der Privatsphäre oder der Persönlichkeitsrechte, einschließlich der Verletzung der Ehre.
(3) In dieser Verordnung bedeutet der Begriff "Mitgliedstaat" die Mitgliedstaaten mit Ausnahme Dänemarks."
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Der sachliche Anwendungsbereich der EG-BagatellVO wird in Anknüpfung an die entsprechenden Vorschriften der Brüssel-I VO und der EG-VollstrTitelVO in mehreren aufeinander aufbauenden Schritten festgelegt. Zuerst erfolgt eine positive Bestimmung der erfassten Rechtsstreitigkeiten: Zivil- und Handelssachen. Für die Zwecke der Qualifizierung einer Rechtsstreitigkeit als Zivil- bzw. Handelssache kann und muss daher auf die vom EuGH im Zusammenhang mit Art. 1 Brüssel I-VO (und EuGVÜ) entwickelten Merkmale zurückgegriffen werden. Auf die Art der Gerichtsbarkeit kommt es zwar auch hier nicht an, doch folgt aus dem Wesen des neu geschaffenen europäischen Erkenntnisverfahrens, dass im Falle der EG-BagatellVO eine rein funktionale Qualifizierung, wie dies bei der Brüssel I-VO und der EG-VollstrTitelVO wesensgemäß angesagt ist, ausscheidet.
Während bei den letztgenannten Verordnungen Verfahren bzw. Titel vom sachlichen Anwendungsbereich erfasst sein können, die nicht in einem Zivilprozess vor einem Zivilgericht anhängig bzw. erlassen wurden (Adhäsionsverfahren, Arbeits-, Verwaltungs- und Sozialverfahren, Freiwillige Gerichtsbarkeit usw.), muss das europäische Bagatellverfahren als solches anhängig gemacht worden sein. Insbesondere ist es ausgeschlossen, ein Bagatellverfahren mit ähnlich vereinfachten Verfahrensvorschriften nach dem autonomen Verfahrensrecht eines Mitgliedstaates als europäisches Bagatellverfahren zu qualifizieren. Ferner entspricht der Wortlaut vollständig dem des Art. 2 EG-VollstrTitelVO. Somit deckt sich der sachliche Anwendungsbereich im Wesentlichen -und mit der ausgeführten Einschränkung - mit beiden, in diesem Sinne "Vorbildverordnungen". Eine Spezifizierung, und damit zugleich -funktional Art. 3 Abs 1 EG-VollstrTitelVO entsprechende - Eingrenzung erfolgt lediglich in quantitativer Hinsicht: Nur geringfügige Forderungen sollen erfasst werden, dh. solche, bei denen der Streitwert ohne Zinsen, Kosten und Auslagen 2000 EUR nicht überschreitet. Der Begriff der Forderung ist dabei weit auszulegen. Er erfasst - wie dies aus dem Wortlaut des Art. 5 Abs. 5 folgt - sowohl Geldforderungen als auch andere, in Geldeswert ausdrückbare Leistungsinhalte (zB. Herausgabeanspruch).
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Die Anwendbarkeit des Bagatellverfahrens beschränkt sich damit auf Leistungsklagen. Feststellungs- und Gestaltungsklagen können - primär - nicht Gegenstand eines europäischen Bagatellverfahrens werden. Dieses rein quantitative Merkmal dient nicht nur zur Eingrenzung des sachlichen Anwendungsbereichs sondern stellt zugleich den zentralen Legitimationsgrund der in der VO hierauf folgenden vereinfachten und vereinheitlichten Erkenntnisverfahrensregeln dar. In einem letzten Schritt werden dann die, größtenteils aus den Vorgängerverordnungen bekannten Rechtsstreittypen, die sog Bereichsausnahmen, vom sachlichen Anwendungsbereich ausgenommen. Diese negative Aufzählung ist allerdings um einige Bereiche erweitert worden. Unter diese neu aufgenommenen Bereichsausnahmen fallen vornehmlich Rechtsstreitigkeiten (zB. auf dem Gebiet des Arbeitsrechts oder des Persönlichkeitsrechts), bei denen die Qualität des Streitgegenstandes es verbietet, ausschließlich wegen des geringen Streitwertes vereinfachten Regeln unterworfen zu werden.
Das Merkmal, durch das sich der sachliche Anwendungsbereich von den übrigen Verordnungen abhebt, ist die Festlegung der Streitwertobergrenze auf eine Nettosumme von 2000 EUR. Zinsen, Kosten und Auslagen werden nicht zum Streitwert hinzugerechnet, können aber selbstverständlich im Urteil zugesprochen werden, so dass ein Bagatelltitel uU. eine 2000 EUR weit überschreitende Vollstreckungssumme ausweisen kann. Während des Gesetzgebungsverfahrens war zwar noch die Idee der Qualifizierung des Streitwerts nach autonomem mitgliedstaatlichem Recht aufgekommen, doch wurde offensichtlich früh eingesehen, dass dies zu einer unnötigen Rechtszersplitterung und Unberechenbarkeit bzw. Unvorhersehbarkeit der sachlichen Anwendbarkeit der VO geführt hätte. Aus diesem Grunde wurde die Idee verworfen, wonach es ausgereicht hätte, in der VO etwa nur eine Bandbreite ("EUR von-bis") anzugeben, innerhalb derer dann die Mitgliedstaaten eine gewisse Ausfüllungskompetenz gehabt hätten. So hat man sich auf die europaweit einheitliche feste Wertgrenze in Höhe von 2000 EUR geeinigt, wobei auch so noch sämtliche weiteren Fragen des Streitwertes und dessen Berechnung nach autonomem Recht zu entscheiden sind.
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Die Festlegung der Wertgrenze hat sich aber auch manche Kritik gefallen lassen müssen. Ferner räumt sie in der Tat keineswegs alle Divergenzen aus, denn alle sonstigen Fragen des Streitwertes, etwa die Berechnungsmethode bzw. die Berechnungsgrundlage, bleiben allesamt -mangels einer Regelung in der VO - den nationalen Rechten überlassen. Die einzelnen Mitgliedstaaten haben zum einen weit divergierende Vorstellungen darüber, ab welchem Streitwert eine Rechtssache als geringfügig angesehen werden kann. Hier kann auf die bekanntlich bedeutenden Unterschiede der Einkommensverhältnisse und des allgemeinen Lebensniveaus bzw. Lebensunterhaltungskosten zwischen einzelnen Mitgliedstaaten etwa in Ost- und Westeuropa hingewiesen werden. Selbst in Deutschland ist die Festlegung der Streitwertgrenze bei 2000 EUR auf vielfältige Kritik gestoßen, was vor allem auch hinsichtlich der viel niedrigeren Bagatellgrenze (600 EUR) des deutschen Rechts nach § 495a ZPO verständlich ist. Es bedarf ferner kaum einer Erwähnung, dass diese Streitwertgrenze etwa in manchen neuen Mitgliedstaaten auf gesteigerten Unwillen stößt.
Allgemeinere, grundsätzliche Kritik kann sicherlich auch - wie dies etwa aus Anlass der Beschwerdewertgebundenheit von Rechtsmitteln gewöhnlich geschieht - dahingehend formuliert werden, dass der niedrige Streitwert an sich noch gar nichts über die Komplexität eines Rechtsstreits auszusagen vermag. Hinzu kommt auch, dass Gläubiger höherer Forderungen nicht davor verschlossen sind, lediglich Teilleistungen im Wege eines europäischen Bagatellverfahrens einzuklagen. In komplexen Fällen wird sich in der Praxis möglicherweise schnell herausstellen, dass daher gerade Art. 19 eine der wichtigsten Vorschriften der EG-BagatellVO ist, die es letzten Endes erlaubt, einen mitgliedstaatlichen ordentlichen Zivilprozess mit allen Detailregelungen nachzuzeichnen.
Für die Bestimmung des Streitwertes kommt es auf den Zeitpunkt der Einreichung der Klage an. Überschreitet der Wert die Streitwertobergrenze im späteren Verlauf des Verfahrens etwa wegen einer entsprechenden Klageänderung, dann ist Art. 4 Abs. 3 entsprechend anzuwenden (Überleitung des Verfahrens in einen ordentlichen Zivilprozess lege fori). Umgekehrt kann ein nach der lex fori anhängig gewordener ordentlicher Zivilprozess selbst bei zwischenzeitlichem Sinken des Streitwertes auf
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bzw. unter 2000 EUR schon wegen des von Anfang an bestehenden Formularzwangs nicht in ein europäisches Bagatellverfahren übergehen. Ist der Streitwert zwischen den Parteien streitig, so entscheidet das Gericht durch unanfechtbaren Beschluss hierüber und damit praktisch endgültig auch über die Anwendbarkeit der VO (Art. 5 Abs. 5).
Die internationale Zuständigkeit richtet sich nach der Brüssel I-VO oder nach der lex fori je nachdem, ob der Beklagte einen mitgliedstaatlichen (Wohn)Sitz hat (Art. 4 Abs. 1 Brüssel I-VO). Die Betonung dieser Varianten ist leider auch wegen eines klaren sachlichen Irrtums im als Anhang zur VO offiziell verkündeten Klageformblatt notwendig: "Das Gericht muss gemäß der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen zuständig sein." Wie sogleich zu zeigen sein wird, ist es wegen der Ausgestaltung der Definition der grenzüberschreitenden Rechtssache keineswegs so, dass die Bagatellzuständigkeit sich ausschließlich aus der Brüssel I-VO ergeben kann. Vielmehr wird von Fall zu Fall auch das autonome internationale Zuständigkeitsrecht des Forummitgliedstaates zu prüfen sein. Ganz eindeutig ist dies der Fall in derjenigen Grenzüberschreitungskonstellation, in der der Beklagte Drittstaater ist. Hier sind zweifellos die jeweiligen autonomen mitgliedstaatlichen Regeln überdieinternationale Zuständigkeit anwendbar, einschließlich der exorbitanten Gerichtsstände.
Die Wertgrenze bedeutet für die sachliche Zuständigkeit in Deutschland, dass europäische Bagatellverfahren in aller Regel vor Amtsgerichten eingeleitet werden können (§ 23 Nr. 1 GVG). Allerdings ist es auch vorstellbar, dass - in der Praxis wohl eher selten - Forderungen auch aus solchen Rechtsverhältnissen die Wertgrenze nicht übersteigen, die ohne Rücksicht auf den Streitwert den Landgerichten zugewiesen sind (§ 71 Abs. 2 GVG). Sicherlich kommen hier Ansprüche gegen den Fiskus oder gegen Richter und Beamte wegen Überschreitung ihrer amtlichen Befugnisse oder wegen pflichtwidriger Unterlassung von Amtshandlungen (§ 71 Abs. 2 Nr. 1-2 GVG) nicht in Betracht. Wahrscheinlicher könnte eine landgerichtliche Bagatellsachenzuständigkeit aber bei den praktisch immer
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bedeutender werdenden Schadensersatzansprüchen auf Grund falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformationen (§ 71 Abs. 2 Nr. 3 GVG iVm. 32b Abs. 1 S. 1 ZPO) werden, gerade wenn man an die - auch das KapMuG veranlassenden - massenhaften Klagen von Kleinanlegern denkt. Wie schon bei der sachlichen Zuständigkeit der autonomen Verfahrensrechte, steht es dem Kläger auch hier frei, durch die Geltendmachung einer niedrigeren Klagesumme, etwa in Gestalt einer Teilklage, in den Anwendungsbereich der EG-BagatellVO zu gelangen. Weder eine rechtsmissbräuchliche Umgehung der Wertobergrenze noch eine Erschleichung der Anwendbarkeit der EG-BagatellVO ist hierin zu erblicken.
Die örtliche Zuständigkeit richtet sich nach der lex fori bzw. der uU. auch die örtliche Zuständigkeit mit erfassenden Brüssel I-VO. Funktional zuständig in Deutschland wird immer der Richter sein, da es sich bei der Abwicklung des europäischen Bagatellverfahrens um Rechtsprechung (Erkenntnisverfahren) handelt. Die einzige Ausnahme stellt Art. 20 Abs. 2 bereits im Zusammenhang mit der Zwangsvollstreckung dar. Die dort genannte Bestätigung wird in § 1106 ZPO der Ausstellung einer Vollstreckungsklausel gleichgestellt, woraus sich hierfür wegen des Verweises in § 20 Nr. 11 RPflG die funktionale Zuständigkeit des Rechtspflegers ergibt.
Der letzte Satz von Art. 2 Abs. 1 schließt - wieder ähnlich wie die Vorgängerverordnungen - ausdrücklich die öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom sachlichen Anwendungsbereich aus. Genannt sind jedoch nicht nur die in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 Brüssel I-VO genannten Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten sondern ausdrücklich - wie schon in der EG-VollstrTitelVO - auch die Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte ("acta jure imperii"). Zwar enthält die Brüssel I-VO diese Einschränkung nicht, und sie wurde erstmals in der EG-VollstrTitelVO ausdrücklich geregelt, doch steht es im Lichte der einschlägigen EuGH-Rechtsprechung fest, dass eine sinngemäße Einschränkung der
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Anwendbarkeit aller Verordnungen auf dem Gebiet der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen eingreift.
Nicht von ungefähr ging schon die Aufnahme der ausdrücklichen Einschränkung in den Text der EG-VollstrTitelVO auf eine deutsche Initiative im Rat zurück. Wie dies zuletzt im vom EuGH entschiedenen Lechouritou-Fall deutlich wird, soll in dem einschlägigen Verordnungstext der Gedanke des Vorrangs der Staatenimmunität vor der internationalen Zuständigkeit reflektiert werden und so eine Einbindung der Staatshaftung (etwa Deutschlands wegen Kriegsschäden) in das justizielle Europarecht ausgeschlossen werden. Dieser Gedanke ergibt sich aber bereits aus der richtigen Interpretation der hierzu noch schweigenden Brüssel I-VO. Der ausdrückliche Ausschluss im Normtext hat damit lediglich deklaratorischen Charakter.
Naturgemäß soll die Haftung des Staates nur im Zusammenhang mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse ausgeschlossen werden. Sobald sich aber der Staat in private Rechtsverhältnisse begibt, wird er sich auch aus der Sicht des justiziellen Europarechts wie ein privates Rechtssubjekt behandeln lassen müssen und damit dem Anwendungsbereich und der Zuständigkeitsordnung der Brüssel I-VO sowie dem Anwendungsbereich der EG-BagatellVO unterfallen.
Art. 2 Abs. 2 enthält eine Liste der ausdrücklich vom Anwendungsbereich ausgenommenen Rechtsgebiete. Auffällig ist daran, dass diese Liste deutlich länger ist, als die entsprechenden Bereichsausnahmevorschriften sämtlicher anderer Verordnungen des justiziellen Europarechts. Zum einen entsprechen die ersten fünf, in lit. a)-e) aufgeführten ausgenommenen Rechtsstreittypen - mit Ausnahme des Unterhaltsrechts - denen des Art. 1 Abs. 2 Brüssel I-VO. Demgemäß können die vom EuGH bzw. der Rechtswissenschaft früher für die Zwecke der Brüssel I-VO (bzw. des EuGVÜ) für die Interpretierung und inhaltliche Abgrenzung der betreffenden Gebiete (Personenstand, Rechts- und Handlungsfähigkeit,
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eheliche Güterstände, Erbrecht, Insolvenzrecht, soziale Sicherheit sowie Schiedsgerichtsbarkeit) entwickelten Grundsätze ohne Weiteres auf die EG-BagatellVO übertragen werden.
Eine Abweichung von diesem Gleichlauf besteht nun seit dem 1. Januar 2009, und zwar bezüglich von Unterhaltsentscheidungen. Diese fallen nicht in den Anwendungsbereich der nur Statussachen und Entscheidungen über die elterliche Verantwortung erfassenden Brüssel Ila-VO. Ferner sind sie weder im Ausnahmekatalog der Brüssel I-VO noch in dem der EG-VollstrTitelVO aufgeführt, so dass sie nach herrschender Meinung bisher in den Anwendungsbereich dieser beiden Verordnungen fielen. Der ab dem 1. Januar 2009 geltende Art. 48 Abs. 1 EG-UnterhaltsVO verdrängt jedoch beide Verordnungen, indem sie ein eigenständiges Zuständigkeitsund Vollstreckungsregime für europäische Unterhaltsentscheidungen ins Leben ruft. Daher ist es konsequent, wenn das Unterhaltsrecht nunmehr auch in den Ausnahmekatalog der EG-BagatellVO (Art. 2 Abs. 2 lit. b) aufgenommen ist und damit Unterhaltsansprüche nicht zum Gegenstand eines Bagatellverfahrens gemacht werden können. Keiner Begründung bedarf es, dass das grundsätzlich auf die Geltendmachung von Forderungen in Gestalt von Leistungsklagen zugeschnittene EG-BagatellVO auch sämtliche Anwendungsbereiche der Brüssel Ila-VO nicht erfasst.
Ausdrücklich vom sachlichen Anwendungsbereich ausgenommen sind das Arbeitsrecht, die Miete oder Pacht unbeweglicher Sachen, die Rechtsstreitigkeiten aus Verletzung der Privatsphäre, der Persönlichkeitsrechte sowie der Ehrverletzung. Ausschlaggebend für den Ausschluss waren wohl die jeweiligen Besonderheiten von Rechtsstreitigkeiten, die von diesen Rechtsgebieten herrühren. So dürfte beim gesamten individuellen Arbeitsrecht der dieses Rechtsgebiet durchdringende Aspekt des Arbeitnehmerschutzes die Hauptrolle gespielt haben. Sicherlich kann der verfahrensrechtliche Arbeitnehmerschutz in diesem stark formalisierten und vereinfachten Verfahren nicht hinreichend zur Geltung kommen. Die Miet- und Pachtstreitigkeiten über unbewegliche Sachen (mit Ausnahme von Geldforderungen, etwa Mietzinsklagen) sind
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wohl wegen des in der Regel bedeutend höher als die jeweilige bezifferte Forderung ausfallenden Gegenstandswertes ausgenommen worden.
In der Praxis kann es durchaus vorkommen, dass die Entscheidung über eine verhältnismäßig gering bezifferte Mietklage die dann jahrelang weiterbestehende rechtliche Stellung und wirtschaftliche Nutzung einer wertvollen Immobilie mitentschieden wird. Dieser Interessenlage kann ein auf Einfachheit und Schnelligkeit bedachtes Verfahren nicht ohne Weiteres gerecht werden. Andererseits sollte wohl auch der Erlangung von sofort vollstreckbaren Räumungstiteln im Wege summarischer Verfahren ein Riegel vorgeschoben werden. Schließlich wird bei den Persönlichkeitsrechtsverletzungen an die Unzumutbarkeit der genauen Bezifferung der klageweise geltend zu machenden Forderung durch den Kläger (§ 287 ZPO) sowie an die Unangemessenheit bzw. Unmöglichkeit der Beweisführung mit den stark vereinfachten Mitteln der EG-BagatellVO zu denken sein. In diesen Rechtsstreitigkeiten ist eine Beurteilung des Sachverhalts ohne mündliche Verhandlung in der Regel nicht möglich.
Art. 2 Abs. 3 enthält eine klarstellende Vorschrift bezüglich des räumlichen Anwendungsbereichs. Danach ist die EG-BagatellVO in und gegenüber allen Mitgliedstaaten der EU mit Ausnahme von Dänemark anzuwenden. Anders als im Falle der Brüssel I-VO wird der eingeschränkte räumliche Geltungsanspruch von Art. 61 EGV und damit Dänemarks Einzelgängertum auch nicht durch eine völkerrechtliche Vereinbarung verdrängt. Für die Zwecke der räumlichen Anwendbarkeit kommt es lediglich darauf an, dass der Anspruch vor einem mitgliedstaatlichen Forum geltend gemacht wird.
Hingegen hat weder der Wohnsitz (Sitz) der Parteien noch deren Staatsangehörigkeit Bedeutung. Auf den Wohnsitz mindestens einer der Parteien in einem Mitgliedstaat kommt es aber bei der Bestimmung des grenzüberschreitenden Charakters des Verfahrens an, der ebenfalls eine eigenständige Anwendungsvoraussetzung der EG-BagatellVO darstellt. Im Übrigen ergeben sich keine Besonderheiten hinsichtlich des räumlichen Anwendungsbereichs, so dass hier für Einzelfragen (exterritoriale
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Gebiete einzelner Mitgliedstaaten, Vatikan, überseeische Gebiete, Teile von Zypern, Kanalinseln usw.) auf die detaillierte Kommentierung bei der EG-VollstrTitelVO verwiesen werden kann.
Die EG-BagatellVO enthält keine ausdrückliche Regel zum persönlichen Anwendungsbereich. Die Regelung impliziert aber zwei "persönliche" Aspekte: Adressat des Rechtsschutzbegehrens muss ein Forum auf dem Gebiet eines der Mitgliedstaaten sein. Ferner muss eine "persönliche" Voraussetzung auf Seiten der Parteien auch erfüllt sein. Eine von ihnen muss nämlich ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat als dem des angerufenen Gerichts haben. Dieser persönliche Aspekt der Anwendbarkeit deckt sich jedoch mit dem in Art. 3 neu definierten Erfordernis des grenzüberschreitenden Charakters der Rechtsstreitigkeit und wird deshalb dort behandelt.
Der wesentliche Inhalt der EG-BagatellVO gilt laut Art. 29 S. 2 ab dem 1. Januar 2009. In Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 bedeutet dies, dass europäische Bagatellklagen ab dem genannten Tag anhängig gemacht werden konnten.
Für den Fall, dass die oben erläuterten Anwendbarkeitsvoraussetzungen nicht erfüllt sind, ordnet die VO eine eigenständige Rechtsfolge an. Laut Art. 4 Abs. 3 hat das Gericht im Falle der Unanwendbarkeit den Kläger hierüber zu unterrichten. Nimmt dieser die Bagatellklage daraufhin nicht zurück, so hat das Gericht - wie § 1097 Abs. 2 ZPO nochmals klarstellt - die gesamte EG-BagatellVO außer Acht zu lassen und nach seinem autonomen Prozessrecht (lex fori) weiter zu verfahren. In der Anordnung dieser Rechtsfolge kommen noch einmal die zentralen Anliegen des Verordnungsgebers zum Ausdruck: Klägerbegünstigung, Prozessökonomie und Verfahrensbeschleunigung. Denn die Vorschrift
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geht offenbar davon aus, dass die einmal in inadäquater Form bewirkte An- bzw. Rechtshängigkeit erhalten bleibt.
"(1) Eine grenzüberschreitende Rechtssache im Sinne dieser Verordnung liegt vor, wenn mindestens eine der Parteien ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat als dem des angerufenen Gerichts hat.
(2) Der Wohnsitz bestimmt sich nach den Artikeln 59 und 60 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001.
(3) Maßgeblicher Augenblick zur Feststellung, ob eine grenzüberschreitende Rechtssache vorliegt, ist der Zeitpunkt, zu dem das Klageformblatt beim zuständigen Gericht eingeht."
Nach bereits erörterter, langer Diskussion zwischen Kommission und Rat hat die Ansicht praktisch sämtlicher Mitgliedstaaten die Oberhand gegenüber der Kommission behalten, so dass die Anwendbarkeit sowohl der EG-MahnVO als auch der EG-BagatellVO auf grenzüberschreitende Sachverhalte beschränkt blieb. Dies folgt aus der nach hier vertretener Ansicht richtigen Interpretation des Art. 65 EGV. Die dort formulierte Kompetenzgrundlage - auch lit. c), wo von "Förderung der Vereinbarkeit der ... zivilrechtlichen Verfahrensvorschriften" die Rede ist - geht grundsätzlich von "Zivilsachen mit grenzüberschreitenden Bezügen" aus. Daher war das ursprüngliche, auch bereits während der Vorarbeiten an EG-MahnVO und EG-BagatellVO von lauter Kritik begleitete Anliegen der Kommission, die neuen europäischen Verfahrensarten auf reine Inlandsfälle auszudehnen, zum Scheitern verurteilt. Möge auch der illusorische Gedanke einer europäischen Zivilprozessordnung vor Augen der Kommission schweben, die Kompetenzgrundlage des EGV beinhaltet eben keine Ermächtigung zur Prozessrechtsvereinheitlichung.
Nachdem die von den Mitgliedstaaten erzwungene Einigung auf Beschränkung des Anwendungsbereichs beider Verordnungen auf
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grenzüberschreitende Rechtssachen erfolgt war, wurde - gerade auch im Lichte der langwierigen Diskussionen - die Notwendigkeit der Definierung der grenzüberschreitenden Rechtssache deutlich. Die Definitionsversuche förderten eine Reihe von möglichen Varianten zutage, aber letztlich blieb es beim ursprünglichen Parlamentsvorschlag, der auf die Unterschiedlichkeit von Forummitgliedstaat und Wohnsitzmitgliedstaat mindestens einer Partei abstellte. Die Definition wurde zuerst in Art. 3 EG-MahnVO aufgenommen und von dort dann wortgleich in Art. 3 EG-BagatellVO übernommen. Die Legaldefinition in Art. 3 Abs. 1 sieht demgemäß vor, dass eine grenzüberschreitende Rechtssache vorliegt, wenn mindestens eine der Parteien ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat als dem des angerufenen Gerichts hat. Für die Bestimmung des Wohnsitzes werden Artt. 59-60 Brüssel I-VO heranzuziehen sein.
Die Ausgestaltung der Definition hat manche, wohl auch vom Verordnungsgeber nicht ganz vorausgesehenen Folgen. Dazu gehört die Reihe von Fallgestaltungen, in denen wegen der Unterschiedlichkeit von Forummitgliedstaat und Wohnsitzmitgliedstaat mindestens einer Partei der grenzüberschreitende Charakter der Streitigkeit auch ohne Binnenmarktbezug zu bejahen sein wird.
Logisch zwingend liegt eine grenzüberschreitende Rechtssache vor, wenn bei Anrufung eines mitgliedstaatlichen Gerichts die Parteien in unterschiedlichen Mitgliedstaaten ihren Wohnsitz haben. Dabei können Forumstaat und Wohnsitzstaat einer der Parteien zusammen- aber auch auseinanderfallen.
Die Voraussetzung der Grenzüberschreitung ist auch dann zu bejahen, wenn sowohl der Kläger als auch der Beklagte im selben Mitgliedstaat ihren Wohnsitz haben. Dann genügt es für die Etablierung der
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Grenzüberschreitung, dass ein - international zuständiges - Gericht eines anderen Mitgliedstaates angerufen wird. Diese Möglichkeit wird in der Praxis vor allem wohl dann Bedeutung erlangen, wenn die Verfahrensrechtsordnung des gemeinsamen Heimatmitgliedstaates von Kläger und Beklagtem kein summarisches Verfahren zur schnellen Beitreibung geringfügiger Forderungen zur Verfügung stellt.
Eine grenzüberschreitende Rechtssache ist auch dann gegeben, wenn ein Drittstaater Bagatellklage gegen einen Beklagten mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat vor einem Gericht eines anderen Mitgliedstaates erhebt.
Aus der Logik der Definition folgt schließlich, dass die Grenzüberschreitung als Anwendungsvoraussetzung der EG-BagatellVO auch dann gegeben ist, wenn lediglich der Kläger einen mitgliedstaatlichen Wohnsitz hat. Lässt sich die internationale Zuständigkeit der Gerichte eines anderen Mitgliedstaates - aufgrund der Brüssel I-VO, einer Zuständigkeitsvereinbarung oder des (uU. exorbitanten) autonomen Zuständigkeitsrechts des betreffenden Mitgliedstaates - etablieren, so kann auch eine Bagatellklage gegen einen in einem Drittstaat ansässigen Beklagten erhoben werden. Da die internationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts in diesem Fall nicht notwendigerweise auf der Brüssel I-VO zu beruhen braucht, dehnt der europäische Gesetzgeber hier - wahrscheinlich ursprünglich ungewollt - die Geltung des neuen, originär europäischen Erkenntnisverfahrens auch über autonome internationale Zuständigkeitsregeln auf Drittstaater aus.
Der maßgebliche "Augenblick" für die Prüfung, ob die Grenzüberschreitung im Sinne der VO vorliegt, ist der des Eingangs des Klageformblatts beim zuständigen Gericht. Die Formulierung "beim zuständigem Gericht" ist dahingehend eng zu verstehen, dass das angegangene Gericht jedenfalls international zuständig sein muss. Auf die innerstaatlichen Vorschriften über die sachliche, örtliche oder funktionale Zuständigkeit kommt es
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hingegen für die Zwecke der Feststellung, ob eine grenzüberschreitende Rechtssache vorliegt, nicht an. Ist die internationale Zuständigkeit des angerufenen mitgliedstaatlichen Gerichts nicht gegeben, so ist die VO unanwendbar, möge auch eine der Parteien ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat haben. Anderenfalls würde das Erfordernis der Grenzüberschreitung zur freien Disposition des Klägers gestellt und letztlich unterlaufen. Daher ist für den Anwendungsbereich der EG-BagatellVO wohl auch die Möglichkeit der nachträglichen internationalen Zuständigkeitsbegründung kraft rügeloser Einlassung zu verneinen. Die Qualifizierung der Klageeinreichung als maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Vorhandenseins einer Grenzüberschreitung bedeutet ferner, dass es für die Anwendbarkeit der VO unerheblich ist, wenn das zum maßgeblichen Zeitpunkt einmal gegebene grenzüberschreitende Element später wegfällt.
Die Erhebung des Auseinanderfallens von Forum- und Parteiwohnsitzmitgliedstaat zum bestimmenden Merkmal kann die Grenzüberschreitung in Einzelfällen mehr oder minder ins Fiktive hinüberleiten. Demgegenüber wird mancher Rechtssuchende feststellen müssen, dass Rechtsstreitigkeiten mit echtem, inhaltlichem grenzüberschreitendem Charakter nicht im Wege des europäischen Bagatellverfahrens ausgetragen werden können.
Vom Verordnungsgeber ist nämlich die Tatsache nicht erkannt oder zumindest in ihrer Bedeutung unterschätzt worden, dass ein grenzüberschreitendes Element nicht mit Notwendigkeit schon am Anfang der gerichtlichen Forderungsdurchsetzung (Art. 3 Abs. 3, Eingang des Klageformblatts bei Gericht) wahrnehmbar ist. Vielmehr kann sich das nämliche grenzüberschreitende Element erst im weiteren Verlauf des Verfahrens, typischerweise etwa erst während der Zwangsvollstreckung herausstellen bzw. konkretisieren. Zu denken ist an Fälle, in denen entweder beide Parteien im selben Mitgliedstaat ihren Wohnsitz haben und die Gerichte desselben Mitgliedstaates international zuständig sind, oder die eine Partei Drittstaater ist und die andere ihren Wohnsitz im Forumstaat hat. Wäre in diesen Fällen das anzurufende Gericht das eines anderen Mitgliedstaates, so käme die EG-BagatellVO zur Anwendung.
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Mangels eines solchen Auseinanderfallens wird die VO aber nicht anwendbar sein, selbst wenn von vornherein feststeht, dass das potenzielle Zwangsvollstreckungssubstrat sich in einem anderen Mitgliedstaat befindet.
Trotz mancher praktischer Unzulänglichkeit ergibt jedoch eine Gesamtschau der Regelung, dass die Definition der grenzüberschreitenden Rechtssache als gelungener Kompromiss angesehen werden kann. Sie sorgt hinsichtlich der Anwendbarkeit der VO für Klarheit. Sie trägt allen voran der eingeschränkten Kompetenznorm des EGV Rechnung und verhindert damit eine vorauseilende punktuelle Prozessrechtsvereinheitlichung. Die oben genannte Gefahr der fiktiven Grenzüberschreitung wird in den meisten Fällen dadurch gebannt sein, dass die bestehende internationale Zuständigkeit des anzurufenden Gerichts zumeist bereits auf einen wirklich bestehenden grenzüberschreitenden Bezug zurückgeführt werden kann. ■
ANMERKUNGEN
* This article was supported by the János Bolyai Research Grant of the Hungarian Academy of Sciences.
Lábjegyzetek:
[1] Lehrstuhl für Zivilprozessrecht, Telefonnummer.: (36-1) 411-6522, E-mail: vargai@ajk.elte.hu
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