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Günter Jerouschek[1]: "Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden." Überlegungen zu peinlicher Strafe, Fehde und Buße im mosaischen Recht (Annales, 2007., 101-111. o.)

I. Ein Brudermord und seine Bestrafung

"Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit dem Herrn. Und sie fuhr fort und gebar Abel, seinen Bruder. Und Abel ward ein Schäfer; Kain aber ward ein Ackermann. Es begab sich aber nach etlicher Zeit, daß Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes; und Abel brachte auch von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer; aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr, und seine Gebärde verstellte sich. Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum verstellt sich deine Gebärde? Ist's nicht also? Wenn du fromm bist, so bist du angenehm: Bist du aber nicht fromm, so ruhet die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. Da redete Kain mit seinem Bruder Abel. Und es begab sich, da sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach: Was hast Du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit von mir zu der Erde. Und nun verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bauen wirst, soll er dir hinfort sein Vermögen nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. Kain aber sprach zu dem Herrn: Meine Sünde ist größer, denn daß sie mir vergeben werden möge. Siehe, du treibst mich heute aus dem Lande, und ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen und muß unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, daß mich totschlage, wer mich findet. Aber der Herr sprach zu ihm: Nein; sondern wer den Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, daß ihn niemand erschlüge, wer ihn fände." (Gen. 4, 1-15; die Bibelzitate folgen der Übersetzung nach Luther)

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I.2. Die ausgehandelte Strafe

Was war geschehen? Gott Vater wertschätzte Abels Tieropfer mit gnädigem Blick, Kains Feldfrüchte hingegen wurden verschmäht, Gott bevorzugte den Schäfer vor dem Bauern. Es ging um Anerkennung und Liebe in Augen des Vaters, um Scham, Ingrimm, Empörung und Wut seitens des zurückgesetzten Erstgeborenen. Die affektive Aufwallung führte zum Brudermord am Jüngeren und eigentlich Nachrangigen.

Interessant ist nun das Gemauschel, mit dem Kain seine Strafe milderte: Ursprünglich in Not und dem Elend der Vertreibung bestehend, anerkannte Kain zwar seine Blutschuld, doch mochte er vor allem die Folgen der Vertreibung nicht hinnehmen. Warum? Die Vertreibung bedeutete zugleich die Ausstoßung aus der verwandtschaftlichen Solidargemeinschaft, die sonst für ihre Mitglieder einstand. Dies galt namentlich für Hilfe bei Vergeltungsaktionen nach Angriffen und Totschlägen. Kain fürchtete dementsprechend, ohne diesen Rückhalt von jedem Beliebigen, der auf den fremden Einzelgänger traf, erschlagen zu werden. Kain wäre "vogelfrei" geworden, und die Entsippung, wenn so will: Exkommunikation, hätte den mehr oder weniger sicheren Tod bedeutet.

I.3. Siebenfache Vergeltung und Rache bis ins siebte Glied

Deswegen remonstrierte er bei Gott, und dieser traf Vorkehrungen gegen die Konsequenz, indem er Kain mit dem Kainszeichen versah, das ihn künftig gegen allfällige Totschlagsversuche freien sollte. Keineswegs war also das Kainsmal ein Makel, sondern vielmehr eine Auszeichnung. Dass Kain nach der Bibel eigentlich der einzig übrig gebliebene Erbenbewohner war, irgendwelche tötungswilligen Dritte also gar nicht vorhanden gewesen sein konnten, darf uns dabei nicht stören. Logische Brüche begegnen uns in der Bibel öfter. Zudem, wenn auch nicht ganz konsequent, nämlich für den Fall, dass das Kainsmal nicht genügte, verfügte Gott, gleichsam als Familienoberhaupt sui generis, dass die Tötung Kains gleich siebenfach gerächt werden sollte.[1]

So dunkel, wie zum Beispiel Dershowitz[2] meint, ist der Passus mit der siebenfachen Rache m.E. gar nicht. Gott übernahm hier lediglich die Fehdepflicht der Familie bzw. Sippschaft, deren der Exilierte entraten musste.[3] Diese bestand

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bei Tötung in der Pflicht zur Blutrache, und zugunsten Kains sollte der Totschlag nicht nur äquivalent, d.h. mit einer Tötung eines Mannes aus der Tätersippe, sondern gleich mit sieben zu erschlagenden Männern vergolten werden. Das war einerseits für Kain eine Genugtuung, andererseits wirkte solches zugleich präventiv, wenn die potentiellen Fehdegegner wussten, dass für den Totschlag sieben der Ihrigen daran glauben mussten.

Interessanter Weise verwendet das Alte Testament die ominöse Siebenzahl sowohl in horizontaler wie in vertikaler Hinsicht. Die wichtigste Vertikalstelle findet sich im Dekalog 2. Mos. 20, 5, wo der eifernde Gott Götzendienst und Abfall vom Glauben an den Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied straft. Die Novelle in 2. Mos. 34, 7 kommt darauf zurück. Selbstverständlich handelt es sich hier um Zahlensymbolik.[4] In der gängigen Phrase "bis ins siebte Glied" finden sich die beiden Zahlen 3 und 4 einfach zusammengezählt. Die horizontale siebenfache Sündenstrafe wiederum findet sich als Rückfallsstrafe in 3. Mos. 26, 18. Zuständig für die Ausübung der Rache ist der Goel, der "Bluträcher", der sich aus den männlichen erbberechtigten Nahverwandten rekrutiert haben wird.[5] Die Rachepflicht wiederum ging im Erbgang auch auf die Nachgeborenen über, womit opfer- wie täterseitig horizontale wie vertikale Elemente sich vermengten.

Gemeinsam ist beiden siebenfachen Strafen - besser Rächungen -, daß auch Unschuldige in den Vergeltungsakt einbezogen werden. Solches aber liegt insofern in der Natur der Fehde, als diese sich auf die korporative Ehre der blutsverwandtschaftlich verbundenen Gruppe bezieht, deren Kränkung durch Zufügung einer mindestens äquivalenten Einbuße kompensiert werden muß. Ist aber Ehrzuwachs das einer Gruppe eigentümlicher identitätsstiftende Ideologe, dann geraten Fehden und Blutrachen zu einem circulus vitiosus. Wie aber konnten Fehden trotzdem enden?

Kains Handel mit Gott um die Strafzumessung lief auf einen Kompromiss hinaus, demzufolge Kain für den Brudermord zwar mit der Vertreibung bestraft wurde, ihm aber die volle Härte der Strafe, die stetige Lebensgefahr, erspart blieb. Gott hatte bereits von Kain Mäßigung des Zorns gefordert, obwohl er selbst durch die ungleiche Entgegennahme der Opfer Ingrimm und Geschwisterrivalität heraufbeschworen hatte. Die Prüfung für Kain bestand darin, der lauernden Sünde des mörderischen Ingrimms nicht Herr geworden zu sein.

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II. Gott als Fehdeführer

Nur zwei Kapitel später sah sich Gott selbst überwältigt von der Unbotmäßigkeit der Menschen, die sich um seine Heiratsverbote nicht mehr kümmerten. Als sie sich auch nach einer 120jährigen Bewährungsfrist keines besseren besannen, verlor er selbst die Geduld: "Da aber der Herr sah, daß der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Sinnen und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, reute es ihn, daß er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen, und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis auf das Vieh und bis auf das Gewürm und bis auf die Vögel unter dem Himmel; denn es reut mich, daß ich sie gemacht habe." (Gen. 6, 5-7) Gott führte Fehde gegen sein Volk, und der Fehdegrund lag in der Kränkung des verweigerten Gehorsams.

Es gab nur einen Auserwählten Noah, übrigens ein künftiger Bauer, von der noch Kain gegenüber geübten Nachsicht kann aber nicht mehr die Rede sein: "Auch will ich eures Leibes Blut rächen und will's an allen Tieren rächen und will des Menschen Leben rächen an einem jeglichen Menschen als dem, der sein Bruder ist. Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen nach seinem Bilde gemacht." (Gen. 9, 4 f.)

II.1. Ius talionis versus Fehde

Nach der Sintflut sollte nun das Ius talionis par excellence herrschen, doch enthält dieses eine, wie ich meine höchst bedeutsame Mäßigung: Von der siebenfachen Vergeltung eines Totschlages wie im Falle Kains war nicht mehr die Rede. Stattdessen soll das Blut dessen, der Menschenblut vergießt, vergossen werden. Mit anderen Worten stand nicht länger die kollektive Ehre der Familie oder Sippe auf dem Spiel, wenn jemand einen anderen erschlüge, sondern nur mehr die des Täters. Das Ius talionis verstand sich also auf nichts weniger als auf die Individualisierung des Täters und begrenzte des theoretisch endlosen Fehdezyklus. Diese Entwicklung fügt sich im Übrigen in die anderer altorientalischer Gesellschaften, sofern sie kephal verfasst worden war.[6] Das Ius talionis ist dementsprechend ein epochemachender Schritt zur Einhegung der Fehde und hin zu einem personal gedachten Schuldstrafrecht.[7] Überdies lag hierin

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auch eine Selbstbindung Gottes, künftig Fehdeverzicht zu üben. Aus ethnologischer Sicht markiert der Vorgang den Übergang vom Rohen zum Gekochten, aus rechtsphilosophischer den vom Unbemessenen zum Bemessenen, vom Unverhältnismäßigen zum Verhältnismäßigen und aus psychoanalytischer Perspektive den vom Lust- und Realitätsprinzip.

II.2. Geld statt Blut

Einen weiteren gravierenden Unterschied zur abendländischen Entwicklung möchte ich keinesfalls unerwähnt lassen. Schon früh nämlich wurde das Ius talionis "Seele um Seele, Auge um Auge, Zahn um Zahn" dahingehend umgedeutet, es sei dies nur metaphorisch zu verstehen und meine gar nicht die peinliche Vergeltung im Wortsinne. Vielmehr sei das Bußgeld gemeint[8], das für die angetane Tötung oder namentlich Körperverletzung zu entrichten sei und Schadensersatz, Schmerzensgeld, Heilungskosten, Säumniskosten und Ehrkränkungskompensation abdeckte.[9] So konnten Missetaten in Geld gebüßt werden, und das Leben des Täters blieb verschont. An die Stelle der peinlichen Strafe trat die Geldbuße, beginnend mit der Mischna aus dem 2. Jh. v. Chr.[10], ausformuliert in der Gemara zwischen 200 und 500 n.Chr.[11] und dann auch in der mittelalterlichen Talmudexegese.[12] So blieb jüdisches Leben erhalten, und ein weiterer Beitrag zum Fortbestand des jüdischen Volkes war geleistet.

III. Fehde, Versühnung und Vertragsbruch

Gab es aber auch diesseits dieser revolutionären Neuerung des Ius talionis Möglichkeiten zur Beendigung von Fehden? Solche muss man fast schon theoretisch postulieren, denn ansonsten hätten die Juden ja kaum überleben können! Auch hierfür findet sich im Alten Testament ein eindrucksvolles Beispiel: "Dina aber, Leas Tochter, die sie Jakob geboren hatte, ging heraus, die Töchter

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des Landes zu sehen. Da die sah Sichem, Hemors Sohn, des Heviters, der des Landes Herr war, nahm er sie und lag ihr bei und schwächte sie. Und sein Herz hing an ihr, und er hatte die Dirne lieb und redete freundlich mit ihr. Und Sichem sprach zu seinem Vater Hemor: Nimm mir das Mägdlein zum Weibe. Und Jakob erfuhr, dass seine Tochter Dina geschändet war; und seine Söhne waren mit dem Vieh auf dem Felde, und Jakobs schwieg, bis daß sie kamen. Da ging Hemor, Sichems Vater, heraus zu Jakobs, mit ihm zu reden. Indes kamen die Söhne Jakobs vom Felde. Und da sie es hörten, verdroß es die Männer, und sie wurden sehr zornig, daß er eine Torheit an Israel begangen und bei Jakobs Tochter gelegen hatte; denn so sollte es nicht sein. Da redete Hemor mit ihnen und sprach: Meines Sohnes Sichems Herz sehnt sich nach eurer Tochter; gebt sie ihm doch zum Weibe. Befreundet euch mit uns, gebt uns eure Töchter und nehmt ihr unsere Töchter und wohnet bei uns. Das Land soll euch offen sein: wohnet und werdet und gewinnet darin. Und Sichem sprach zu ihrem Vater und ihren Brüdern: Laßt mich Gnade bei euch finden; was Ihr mir sagt, das will ich geben. Fordert nur getrost von mir Morgengabe und Geschenk, ich will's geben, wie ihr heischet; gebt mir nur die Dirne zum Weibe. Da antworteten Jakobs Söhne dem Sichem und seinem Vater Hemor betrüglich, darum daß ihre Schwester Dina geschändet war, und sprachen zu ihnen: Wir können das nicht tun, daß wir unsere Schwester einem unbeschnittenen Mann geben; denn das wäre uns eine Schande. Doch dann wollen wir euch zu Willen sein, so ihr uns gleich werdet und alles, was männlich unter euch ist, beschnitten werde; dann wollen wir unsere Töchter euch geben und eure Töchter uns nehmen und bei euch wohnen und ein Volk sein. Wo ihr aber nicht darein willigen wollt, euch zu beschneiden, so wollen wir unsere Tochter nehmen und davonziehen. Die Rede gefiel Hemor und seinem Sohn wohl. Und der Jüngling verzog nicht, solches zu tun, denn er hatte Lust zu der Tochter Jakobs. Und er war herrlich gehalten über alle in seines Vaters Hause. Da kamen sie nun, Hemor und sein Sohn Sichem, unter der Stadttor und redeten mit den Bürgern der Stadt und sprachen: Diese Leute sind friedsam bei uns und wollen im Lande wohnen und werben; so ist nun das Land weit genug für sie. Wir wollen uns ihre Töchter zu Weibern nehmen und ihnen unsere Töchter geben. Aber dann wollen sie uns zu Willen sein, daß sie bei uns wohnen und ein Volk mit uns werden, wo wir alles, was männlich unter uns ist, beschneiden, gleich wie sie beschnitten sind. Ihr Vieh und ihre Güter und alles, was sie haben wird unser sein, so wir nur ihnen zu Willen werden, daß sie bei uns wohnen. Und sie gehorchten dem Hemor und Sichem, seinem Sohn, alle, die zu seiner Stadttor aus und ein gingen, und beschnitten alles, was männlich war, das zu seiner Stadt aus und ein ging. Und an dritten Tage, da sie Schmerzen hatten, nahmen die zwei Söhne Jakobs, Simon und Levi, der Dina Brüder, ein jeglicher sein Schwert und gingen kühn in die Stadt und erwürgten alles, was männlich war, und erwürgten auch Hemor und seinen Sohn Sichem mit der Schärfe des Schwerts und nahmen ihre

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Schwester Dina aus dem Haus Sichems und gingen davon. Da kamen die Söhne Jakobs über die Erschlagenen und plünderten die Stadt, darum daß sie hatten ihre Schwester geschändet. Und nahmen ihre Schafe, Rinder, Esel und was in der Stadt und auf dem Felde war und alle ihre Habe; alle Kinder und Weiber nahmen sie gefangen, und plünderten alles, was in den Häusern war. Und Jakob sprach zu Simon und Levi: Ihr habt mir Unglück zugerichtet und mich stinkend gemacht vor den Einwohnern dieses Landes, den Kanaanitern und Verphesitern; und ich bin ein geringer Haufe. Wenn sie sich nun versammeln über mich, so werden sie mich schlagen. Also werde ich vertilgt samt meinem Hause. Sie antworteten aber: Sollten sie denn mit unserer Schwester wie mit einer Hure handeln?" (Gen 34, 1-31)

III.1. Schändung, Kränkung, Vergeltung

Die Geschichte spricht für sich selbst, und sie zu kommentieren erübrigt sich fast. Aus heutiger Sicht befremdet, dass von Dinas Wünschen und Gefühlen keine Rede ist. Ob sie sich in Liebe hingegeben hatte, wonach es fast aussieht, und mit dem Prinzen, eigentlich eine gute Partie, die Ehe eingehen wollte, spielt nicht die geringste Rolle. Was allein zählte, war der Beischlaf, ohne dass Jakob sie dem Sichem zur Ehe gegeben hatte. Die Töchter zählen zum Besitzstand des Clans und wurden von deren Anführern verheiratet.[13] Und eben darin lag auch die Schändung Dinas, die als Kränkung der Familienehre den Fehdegrund lieferte. Für Liebesheiraten war hier kein Raum, und man muss unwillkürlich an den jahrhundertelangen Kampf um die Konsensehe denken, der im abendländischen Mittelalter ausgefochten wurde.

In der biblischen Geschichte wussten alle Beteiligten um die drohende Fehde, deren Verlauf aber auch die Möglichkeit aufzeigt, sie zu umgehen. Denn die zur Fehde ermächtigten Männer der Opferseite, Jakob und seine Söhne, trafen mit der Täterseite, bestehend aus dem Landesherrn Hemor und dessen Sohn Sichem, ein Versühnungsabkommen, das Wohnrecht und Versippung, und, als von der Opferseite zusätzlich ausbedungenem Unterwerfungsakt, die Beschneidung aller männlichen Bewohner, über die Hemor herrschte, erfasste. Die übliche Verpflichtung, die Geschwächte zur Ehe zu nehmen, reichte insofern nicht, als Sichem dies ohnedies wollte.

III.2. Vater und Söhne

Auffällig ist nur, dass die Söhne Jakobs den Sühnevertrag nur zum Schein eingegangen, insgeheim und mit perfider Strategie aber zur Blutrache entschlossen blieben. Das war aber umso unerhörter, als sie auch ihren Vater Jakob damit

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desavouierten. Hier sehe ich, anders als Dershowitz[14] übrigens, keinen Penisneid, sondern vielmehr den Ödipuskomplex am Werk.

Zu Recht sah Jakob seine Ehre beschädigt, sein Haus weiterer Fehde ausgesetzt und seine und seiner Familie Existenz bedroht. Er wanderte auf Gottes Geheiß aus. Dass es damit aber auch für die aufbegehrende Brüderhorde sein Bewenden hatte, mag daran liegen, dass durch Vertrags- und Loyalitätsbruch sowie Infamie immerhin die Reinheit des jüdischen Blutes nach Gottes unerforschlichem Ratschluss gesichert worden war. Dass die Brüder gegen den Willen des Vaters auf der rigorosen Moral der Blutrache beharrten, erinnert durchaus an heutige Verhältnisse im islamischen Kulturkreis.

III.3. Strafen, Bußen, Rache

Gott hielt sogar noch eine weitere Vorkehrung bereit, den Fehdezyklus zu vermeiden. In 4. Mos. 9 ff. gab Gott Moses auf, im gelobten Land sechs Städte, drei diesseits, drei jenseits des Jordan, zu küren, in denen fahrlässige Totschläger Asyl genossen und dort die Rachegelüste der Fehdeberechtigten aussitzen konnten. Hier sollte bereits peinliches Strafrecht geübt werden, und der Totschläger sollte erst des Todes sterben, wenn er vor Gericht gestanden hätte. Ansonsten konnte der zur Blutrache Ermächtigte den vorsätzlichen Totschläger umstandslos töten, während die Gemeinde den Unvorsätzlichen mit dem "Bluträcher", d.h. dem Fehdeführer, versühnen sollte. Für die gerichtliche Überführung galt der Zwei-Zeugen-Beweis, vorsätzliche Totschläge waren von der Versühnung ausgeschlossen und unterfielen in den Freistädten allein dem Ius talionis der Todesstrafe. Außerhalb der Freistädte griff wieder das Gesetz der Blutrache Platz.

Hier finden wir ein wohl austariertes Strafrecht vor, das, je nach Tat und Ort, zwischen Elementen der Fehde, der Buße und der peinlichen Strafverfolgung changierte. Von der für das Alte Testament gerne in Anspruch genommenen Prädominanz des Talionsprinzips kann jedenfalls keine Rede sein.

III.4. Schuldige und Unschuldige

Immerhin bildete das gegen die Fehde gerichtete Verbot der Tötung Unschuldiger eine Art Leitfossil in der jüdischen Entwicklung des im weitesten Sinn strafrechtlichen Konfliktaustrags. Es scheint bereits in 1. Mos. 18, 17-33 vor, wo Abraham die von Gott ins Auge gefasste Strafaktion gegen Sodom und Gomorrha mit dem Argument abwenden wollte, es könnten auch Unschuldige mit vernichtet werden. Er erinnerte Gott an sein Versprechen, keine Sintflut mehr über das Land kommen zu lassen, d.h. keine Fehde mehr zu führen, um

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keine Unschuldigen zu bestrafen und handelte ihn regelrecht herunter: Von ursprünglich fünfzig Unschuldigen auf letztlich zehn, um derentwillen er die Städte verschonen wollte, wenn er sie denn fände. So lautete der zwischen Abraham und Gott gefundene Kompromiss. Den Tod von neun Unschuldigen hätten Gott und Abraham aber in Kauf genommen. Gott kündigte eine eigene Inquisition an, ob das ihn zu Gehör gekommene Gerücht vom sündhaften Lebenswandel der Bewohner stimme, nur fand er dabei offenbar nicht einmal zehn Gerechte, wie der Fortgang der Geschichte mit der Vernichtung der beiden Städte zeigt.

Mord, Inzest, vorbedachter Vertragsbruch, Niedertracht und hinterhältigster Betrug, das Alte Testament liest sich wie ein Verbrechensalmanach, und wenn sich dies so fremd gar nicht ausnimmt, so deshalb, weil das kriminelle Panoptikum mich unwillkürlich an das frühe Mittelalter, vor allem die Merowingerzeit, erinnert.

IV. Ius talionis im frühen Mittelalter

So verkündete im Jahr 596 n.Chr. König Childebert II. für ungerechtfertigte Totschläge das künftige Verbot einer Versühnung. Der Verwandtschaft wurde bei Buße untersagt dem Täter beizusteuern, und der Täter wurde strikt dem Ius talions der Todesstrafe unterworfen: "Quia justum est, ut qui nuit occidere, discat morire." Weil es gerecht ist, dass, wer zu töten wusste, zu sterben lerne. Genau dasselbe hatte Gott aber Moses aufgetragen, als er die Versühnung bei vorsätzlichen Totschlägen verbot und diese dem Ius talionis vorbehielt.

IV.1. Fehde und Urfehdebruch

Quellenmäßig dokumentierte Fehdeberichte aus dem frühen Mittelalter hätte man genauso gut im Alten Testament erwarten können und vice versa. Lassen Sie mich als Beispiel nur die berühmte Fehde des Sichar aus dem Historiarum libri decem Gregors von Tours[15] anführen: Im Gregors Bischofssitz Tours und der ihn umgebenden Grafschaft führte ein gewisser Sichar (585 n.Chr.) eine verheerende Fehde, nach dem auf einen Priester, den er aufgrund eines Freundschaftsbündnisses verpflichtet war, ein Attentat verübt worden war. Im Verlauf der Fehde kam es zu mehreren Tötungshandlungen. Sichar akzeptierte die vom Volksgericht vorgeschlagene Bußsumme zunächst nicht, bevor er letztlich doch einlenkte und sich gegen Bezahlung einer hohen Bußsumme mit Chramnesind, dem Überlebenden und Fehdeführer der Opfersippe, versühnte. Bei einem Trinkgelage äußerte Sichar seinem früheren Fehdegegner und jetzigem Freund

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gegenüber, dessen Reichtum verdanke sich allein der von ihm geleisteten Bußzahlung. Das stimmte zwar nur halbwegs, denn Gregor hatte ein Gutteil aus dem Kirchenschatz beigesteuert, aber die in der provokanten Äußerung liegende Kränkung beantwortete Chramnesind umgehend mit der Tötung Sichars. Dessen Leiche hängte er an einen Zaunpfahl, um den Verdacht eines Mordes, der sich durch die Verheimlichung der Tat auszeichnete, abzuwenden.

Würde man hier die fränkischen Namen durch biblische ersetzen, so würde man nicht unbedingt auf die Idee kommen sich im frühen Mittelalter und nicht im jüdischen Altertum zu befinden. Wie dort erhellt auch aus der vorliegenden Erzählung wie brüchig Sühneverträge sein konnten und wie schnell eine scheinbar beigelegte Fehde wieder aufflackern konnte. Auch die Vererbung der Blutracheverpflichtung auf Kinder war nicht unbekannt, wenn etwa die Mutter ihre Söhne ermahnt, die Tötung ihres Vaters sei noch ungesühnt und sie dadurch zur Blutrache aufforderte. Bekannt war auch das Asyl, das an germanischen Kultstätten sogar eher strikter beachtet wurde als sodann nach der Christianisierung.

IV.2. Verschulden und Strafverfolgung

Ob die eigenartige Bußregelung im bayerischen Stammesrecht, die nach einer Abtreibung der Tätersippe aufgab bis ins siebte Glied der väterlichen Linie jährlich einen Schilling Bußgeld zu bezahlen, nicht bereits alttestamentlich beeinflusst ist oder die germanische Sippengrenze kennzeichnete, ist umstritten.[16] Ich neige zur Annahme einer christlichen Rezeption. Schließlich können wir davon ausgehen, daß nach und nach auch unvorsätzliche bzw. fahrlässige Tötungen billiger zu büßen waren als vorsätzliche, wie auch die Synode von Tribur im Jahr 895 kasuistisch zwischen Zufalls- und Fahrlässigkeitszurechnung schied. Die Beispielsfälle betrafen einmal das Baumfällen, das trotz Warnrufs den Tod eines Dritten zur Folge hatte und dann die Fahrlässigkeitshaftung einer Mutter für den Tod ihres Kleinkindes durch überkochendes Wasser, wenn sie es unmittelbar an einer Feuerstelle abgelegt hätte.

Auch dass Gott in seinem Land keine ungesühnten Blutschulden dulden wollte, die das Land verunreinigten und für ihn unbewohnbar machten, war dem Mittelalter nicht fremd: "Rei publicae interest, ne crimina remaneant impunita", dem gemeinen Wesen ist daran gelegen, dass Verbrechen nicht ungestraft bleiben, lautete der Grundsatz, der seit dem 12. Jahrhundert, sodann unter Papst Innozenz III. autorisiert, geistliche und weltliche Gewalt zur Verbrechensver-

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folgung anhielt.[17] Und wie der alttestamentliche Gott waren auch Gregor oder Innozenz keine fanatischen Strafverfolger, die nicht mit sich handeln ließen, um einen Konflikt beizulegen. Der Papst bevorzugte nach Möglichkeit, vor allem bei hochrangigen Kirchenpotenaten und weltlichen Herrn, Vergleichslösungen und betätigte sich hierbei als Vermittler.[18] Auch hierbei können wir durchaus die Möglichkeit von Rezeptionseinflüssen einkalkulieren, denn die Bibel galt im Mittelalter auch als Rechtsquelle und ihre Exegese wurde, gerade in der für die Rechtsfortbildung so maßgeblichen Kanonistik des 12. Jahrhunderts, ausgiebig betrieben.[19] So bildete etwa die Verschonung Unschuldiger von Strafen einen prominenten rechtstheologischen Topos für die Strafjustiz.

IV.3. Peinliches Strafrecht

Die bei den frühen Juden vorfindliche Koexistenz von peinlichem, "öffentlichen" Strafrecht, Fehde und Buße begegnet uns auch durch das gesamte frühe und hohe Mittelalter hindurch. Erst im späten Mittelalter, entscheidend forciert durch die Gottes- und Landfriedensbewegung, begann das Pendel in Richtung des peinlichen Strafrechts auszuschlagen. Versühnungen und Wergeldbußen für Totschläge unter obrigkeitlicher Regie finden sich freilich bis weit ins 17. Jahrhundert hinein bezeugt. Der Pendelschlag vollzog sich aber vielerorts so vehement, dass man für das 15. Jahrhundert, ausgehend vom Kampf gegen die sogenannten landschädlichen Leute, von einem regelrechten "Feindstrafrecht" sprechen kann. Weitestgehend entformalisiert und dementsprechend schlagkräftig, bot es aber keine hinreichende Gewähr mehr dafür, dass nicht auch unschuldige Bürger und Untertanen in seine Mühlen geraten konnten. Die Carolina, zu deren Erlass vor 475 Jahren ein "Justizmord" in Nordhausen/Thüringen den Anstoß gab - ein Analphabet war wegen Urkundenfälschung verbrannt worden - ist als Antwort auf dieses "Feindstrafrecht" zu verstehen. ■

ANMERKUNGEN

[1] In Gen. 4, 24 wird Lamech, der Blutrache geübt und für eine ihm zugefügte Wunde und eine Beule zwei Angehörige des Täterclans erschlagen hatte, auf die potenzierte Kainsvergeltung des siebundsiebzigfachen Satzes taxiert.

[2] Dershowitz, A. M., Die Entstehung von Recht und Gesetz aus Mord und Totschlag, Hamburg 2002, S. 49 ff.; Jerouschek, G., Besprechung Dershowitz, A.M., Die Entstehung von Recht und Gesetz aus Mord und Totschlag, Hamburg 2002, JZ 2002, S. 1096.

[3] Vgl. Koch, K., Der Spruch "Sein Blut bleibe auf seinem Haupt" und die israelitische Auffassung vom vergossenen Blut, in: Koch, K.(Hrsg.), Um das Prinzip der Vergeltung in Religion und Recht des Alten Testaments, Darmstadt 1972, S. 432 ff.

[4] Nach christlicher Lesart steht die 3 für das Göttliche, die 4 für das Irdische. Die 7 sodann symbolisiert die Zeit vor der Wiederauferstehung des Fleisches, wofür die 8 steht, vgl. Jerouschek, G., Lebensschutz und Lebensbeginn. Die Geschichte des Abtreibungsverbotes, 2. Aufl., Tübingen 2002, Fn. 180, S. 220.

[5] Günther, Die Idee der Wiedervergeltung in der Geschichte und Philosophie des Strafrechts, Altenburg 1889, S. 50 f. mit Fn. 24.

[6] Wenn Jacob, B., Auge um Auge. Eine Untersuchung zum Alten und Neuen Testament, Berlin 1929, S. 4 darauf abstellt, Analogien seien keine Beweise, so muss er sich umgekehrt fragen lassen, weshalb die Juden von einer fast schon anthropologisch zu konstatierenden Entwicklung abgewichen sein sollten, zumal die sprachliche Exegese keine eindeutige Lesart erlaubt. Zur Gegenauffassung vgl. etwa Günther, wie Fn. 5, S. 43 ff.

[7] Günther, L., wie Fn. 5, S. 46 f.u knjot;Strafe in Form der Talion".

[8] Jacob, B., wie Fn. 4, insbesondere S. 25 ff. mit dem Hinweis darauf, dass "tachat" nicht zwingend "talion", sondern vielmehr "Leistung" oder "Preis" bedeute und somit die Übersetzung inhaltlich falsch sei. Freilich verträgt sich eine solche Deutung nicht mit Stellen wie 2 Mos. 22, 21 ff., wo geldeswerte Buße und peinliche Talion nebeneinander stehen. Der sprachlich inspirierte Deutungsvorschlag von Jacob, a.a.O., S. 14 ff. wirkt unnötig gekünstelt und zu bemüht, um die These, die "genuine jüdische Auslegung" (S. 1) erweise zugleich, daß die alttestamentliche Talion nie peinliche Vergeltung bedeutet habe, zu erhärten.

[9] Bei Körperverletzungen könnten die geldeswerte Abgeltung jedenfalls in Praxis zumeist an die Stelle der möglichen talio getreten sein, Günther, wie Fn. 5, S. 54 f.

[10] Vgl. Goldschmidt, L., Der babylonische Talmud, Frankfurt a.M. 1996, S. 280 ff.

[11] Ebd.

[12] Zu Raschi (1040-1105) vgl. Wurmser, L., Demütigung, Rache und Verzeihung, DPV-Jahrestagungsvortrag vom 26.5.2006, S. 2. Ich danke Léon Wurmser für die Diskussion der Textzeugen.

[13] Insoweit ahistorisch Dershowitz, A. M., Fn. 2, S. 132.

[14] Dershowitz, A. M, Fn. 2, S. 140.

[15] Gregor von Tours, Gregorii Episcopi Turonensis Historiarum Libri Decem, Liber VII, cap. 47, hg. v. Buchner, 1955, S. 153 ff.

[16] Vgl. Jerouschek, G., aaO. (Fn. 4).

[17] Jerouschek, G., "Ne crimina remaneant impunita". Auf dass Verbrechen nicht ungestraft bleiben: Überlegungen zur Begründung öffentlicher Strafverfolgung im Mittelalter, in: ZRG KA 2003, S. 323-337.

[18] Hirte, M., Papst Innozenz III., das IV. Lateranum und die Strafverfahren gegen Kleriker. Eine registergestützte Untersuchung zur Entwicklung der Verfahrensarten zwischen 1198 und 1216, Tübingen 2005, S. 52 ff.

[19] Umgekehrt hält Jacob, Fn. 4, S. 72 ff., S. 90 das Verständnis der Talion als peinliche Vergeltung für ein hellenistisch (LXX) und christlich inspiriertes Missverständnis.

Lábjegyzetek:

[1] Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Geschichte des Strafrechts

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