Das Recht der Macht gehört nach dem Siegeszug des Rechtsstaates der Vergangenheit an. An seine Stelle ist die Macht des Rechts getreten. Dieses Recht ist differenziert und durch eine Normenhierarchie charakterisiert, an deren Spitze im Nationalstaat die Verfassung steht, gefolgt von den Gesetzen des Parlaments und den Rechtsvorschriften der staatlichen und kommunalen Exekutive. Normenhierarchie bedeutet, dass die ranghöheren Rechtsvorschriften den rangniederen vorgehen, dass die rangniedere Vorschrift der ranghöheren nicht widersprechen darf. Tut sie es dennoch, so ist die rangniedere Rechtsvorschrift rechtswidrig. Nach deutscher Rechtslehre ist eine rechtswidrige Rechtsvorschrift - im allgemeinen - ungültig, d. h. nichtig. Doch wer stellt in der Praxis die Rechtswidrigkeit einer Rechtsvorschrift fest? Wer hat die sog. Verwerfungskompetenz?
Das deutsche Grundgesetz (GG) von 1949 hat die verbindliche Feststellung, dass ein vom Parlament beschlossenes Gesetz, ein sog. Gesetz im formellen Sinn, verfassungswidrig und damit nichtig ist, ausschließlich dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten (Art. 100 GG).
Der "Umgang" mit rechtswidrigen Rechtsvorschriften niederen Ranges ist differenziert. Hält ein Gericht eine nach seiner Meinung rechtswidrige Rechtsvorschrift in einem konkreten Rechtsstreit für entscheidungserheblich, kann und muss jedes Gericht inzident feststellen, dass die Norm rechtswidrig und damit nichtig ist. Das Gericht wendet also die rechtswidrige Norm nicht an. Diese Inzidentfeststellung wirkt selbstverständlich nur "inter partes", also zwischen den Prozessbeteiligten. In einem anderen Gerichtsverfahren kann die fragliche Rechtsnorm als rechtmäßig und damit als gültig behandelt werden. Es kann dauern, bis eine höchstrichterliche Entscheidung für klare Verhältnisse sorgt. Doch auch eine solche Entscheidung wirkt rechtlich nur "inter partes", so dass die erste höchstrichterliche Entscheidung nicht unbedingt Klarheit schafft für weitere gleichgelagerte Fälle.
Die bundesdeutsche Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) vom 21. Januar 1960 (1) hat mit § 47 VwGO eine prinzipale Normenkontrolle zur Verfügung gestellt. Das heißt: Ein gerichtliches Verfahren beschäftigt sich ausschließlich mit der Gültigkeit bzw. Ungültigkeit einer untergesetzlichen Rechtsvorschrift, während bei einer inzidenten Kontrolle die Gültigkeit einer - entscheidungserheblichen -Rechtsvorschrift nur eine Vorfrage ist.
§ 47 VwGO hat folgenden Wortlaut: 1) Das Oberverwaltungsgericht entscheidet im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit auf Antrag über die Gültigkeit von Satzungen , die nach den Vorschriften des Baugesetzbuchs erlassen worden sind, sowie von Rechtsverordnungen auf Grund des § 246 Abs. 2 des Baugesetzbuchs, von anderen im Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften, sofern das Landesrecht dies bestimmt.
2) Den Antrag kann jede natürliche oder juristische Person, die geltend macht, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden, sowie jede Behörde innerhalb eines Jahres nach Bekanntwerden der Rechtsvorschrift stellen. Er ist gegen die Körperschaft, Anstalt oder Stiftung zu richten, welche die Rechtsvorschrift erlassen hat. Das Oberverwaltungsgericht kann dem Land und anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts, deren Zuständigkeit durch die Rechtsvorschrift berührt wird, Gelegenheit zur Äußerung binnen einer zu bestimmenden Frist geben. § 65 Abs. 1 und 4 und §
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66 sind entsprechend anzuwenden. Der Antrag einer natürlichen oder juristischen Person, der einen Bebauungsplan oder eine Satzung nach § 34 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 und 3 oder § 35 Abs. 6 des Baugesetzbuchs zum Gegenstand hat, ist unzulässig, wenn die den Antrag stellende Person nur Einwendungen geltend macht, die sie im Rahmen der öffentlichen Auslegung (§ 3 Abs. 2 des Baugesetzbuchs) oder im Rahmen der Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit (§ 13 Abs. 2 Nr. 2 und § 13a Abs. 2 Nr. 1 des Baugesetzbuchs) nicht oder verspätet geltend gemacht hat, aber hätte geltend machen können, und wenn auf diese Rechtsfolge im Rahmen der Beteiligung hingewiesen worden ist.
3) Das Oberverwaltungsgericht prüft die Vereinbarkeit der Rechtsvorschrift mit Landesrecht nicht, soweit gesetzlich vorgesehen ist, dass die Rechtsvorschrift ausschließlich durch das Verfassungsgericht eines Landes nachprüfbar ist.
4) Ist ein Verfahren zur Überprüfung der Gültigkeit der Rechtsvorschrift bei einem Verfassungsgericht anhängig, so kann das Oberverwaltungsgericht anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des Verfahrens vor dem Verfassungsgericht auszusetzen sei.
5) Das Oberverwaltungsgericht entscheidet durch Urteil oder, wenn es eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, durch Beschluss. Kommt das Oberverwaltungsgericht zu der Überzeugung, dass die Rechtsvorschrift ungültig ist, so erklärt es sie für unwirksam; in diesem Fall ist die Entscheidung allgemein verbindlich und die Entscheidungsformel vom Antragsgegner ebenso zu veröffentlichen wie die Rechtsvorschrift bekanntzumachen wäre. Für die Wirkung der Entscheidung gilt § 183 entsprechend.
6) Das Gericht kann auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist.
Der hier wiedergegebene Text des § 47 VwGO betrifft z. T. Besonderheiten des deutschen Bundesstaates, z. T. verfahrensmäßige Details, die für die grundsätzlichen Fragen der Normenkontrolle ohne Bedeutung sind. Die folgende Darstellung geht von der Rechtslage im Freistaat Bayern aus.
Der Kreis der Rechtsvorschriften, die Gegenstand einer Normenkontrolle sein können, ist begrenzt: § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO erfasst bundesweit alle Satzungen und andere untergesetzliche Rechtsvorschriften auf dem Gebiet des Bauplanungsrechts. Rechtsnormen dieser Art, die es in jeder deutschen Gemeinde gibt, haben für die Allgemeinheit (Gemeindeentwicklung, Umweltschutz) und die Grundstückseigentümer erhebliche Bedeutung. Dem Bundesgesetzgeber erschien es zu Recht zweckmäßig, für diese Rechtsnormen die prinzipale Normenkontrolle bundesweit vorzusehen, weil dadurch in überschaubarem Zeitraum Gewissheit über die Gültigkeit der Rechtsnormen erreicht werden und der Maßstab der Überprüfung durch die Rechtsprechung klare Konturen erhalten kann.
§ 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO sieht eine Erweiterung der Prüfungsgegenstände vor, wenn der Landesgesetzgeber das so bestimmt. Von den 16 Ländern der Bundesrepublik Deutschland haben 13 Länder von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht. Danach können in diesen Ländern alle untergesetzlichen Vorschriften des jeweiligen Landesrechts einer prinzipalen Normenkontrolle unterzogen werden. Das sind die Rechtsverordnungen der staatlichen Exekutive, also Rechtsverordnungen einer Landesregierung, einzelner Ministerien oder untergeordneter staatlicher Behörden. Erfasst sind auch alle Rechtsvorschriften, die von Kommunen erlassen werden, vor allem die zahlreichen Satzungen der Gemeinden. Rechtsprechung [1] und Literatur [2] haben anerkannt, dass auch Geschäftsordnungen eines Gemeinderats - oder allgemein gesprochen: kommunaler und anderer Vertretungskörperschaften - als Rechtsvorschriften im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO anzusehen sind; denn sie regeln Rechte, z. B. das Rederecht, und Pflichten von Organen dieser Vertretungskörperschaften und haben damit den Charakter von Rechtsnormen, auch wenn Rechte und Pflichten von Außenstehenden nicht berührt werden.
Verwaltungsvorschriften zählen grundsätzlich nicht zu den Normen i. S. des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO, weil sie nur im Innenbereich der Verwaltung wirken. Verwaltungsvorschriften - als abstrakte Weisungen höherer Exekutivbehörden - definieren z. B. unbestimmte Rechtsbegriffe (Zuverlässigkeit, Geeignetheit von Personen u. a.), sie lenken die Ausübung des Ermessens durch nachgeordnete Behörden; sie betreffen aber nicht unmittelbar die Rechtsphäre des Bürgers. Die Richter sind im Rechtsstreit nicht verpflichtet, sich an die in einer Verwaltungsvorschrift ausgesprochene Definition eines unbestimmten
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Rechtsbegriffs zu halten; denn Richter sind nur an Rechtsnormen, d. h. an Normen mit Außenwirkung, gebunden.
Wenn die Verwaltung gesetzliche Ermessensvorschriften wiederholt gemäß einer sie bindenden Verwaltungsvorschrift anwendet, kann zwar der Bürger verlangen, auch im Sinne der Verwaltungsvorschrift behandelt zu werden; doch sein Anspruch stützt sich nicht auf die Verwaltungsvorschrift (die ja unmittelbar nur verwaltungsintern wirkt), sondern auf den Gleichheitssatz, d. h. auf eine Rechtsnorm der Verfassung (Art. 3 GG). Es besteht im allgemeinen kein Grund, Verwaltungsvorschriften als solche im Rahmen einer Normenkontrolle nach § 47 VwGO überprüfen zu lassen.
Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass in neuerer Zeit Rechtsprechung und Literatur Verwaltungsvorschriften dann als Rechtsvorschriften i. S. des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO anerkennen, wenn die Verwaltungsvorschriften "quasi normativen" Charakter haben [3]. Meines Erachtens ist diese Auffassung bedenklich, weil sie die Grenze zwischen Rechtsnorm und Verwaltung unnötig verwischt.
Selbstverständlich können nach dem klaren Wortlaut des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO untergesetzliche Rechtsvorschriften des Bundesrechts (z. B. die deutsche Straßenverkehrsordnung) nicht Gegenstand einer prinzipalen Normenkontrolle nach § 47 VwGO sein. Das sind bundesstaatliche Besonderheiten, auf die hier nicht eingegangen wird. Aber es versteht sich von selbst, dass auch untergesetzliches Bundesrecht im Rahmen einer Inzidentkontrolle (s. oben II. 2) für unwirksam erklärt werden kann.
Die Regelung, wonach das Oberverwaltungsgericht [4] eine prinzipale Normenkontrolle nur "im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit" durchführen kann, bedeutet, dass Prüfungsgegenstand der Normenkontrolle nur Rechtsvorschriften sein können, aus deren Anwendung sich Rechtsstreitigkeiten ergeben können, für deren Entscheidung die allgemeinen Verwaltungsgerichte zuständig sind, anders ausgedrückt: eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art i. S. des § 40 VwGO. Damit sind untergesetzliche Rechtsvorschriften, deren Anwendung zu bürgerlich-rechtlichen, sozialgerichtlichen oder finanzgerichtlichen Streitigkeiten führen können, von der Normenkontrolle gemäß § 47 VwGO ausgeschlossen.
Die sachliche Zuständigkeit bereitet keine Probleme: Die Normenkontrolle obliegt der zweiten Instanz der Verwaltungsgerichtsbarkeit, für die es in jedem Land (der Bundesrepublik Deutschland) nur ein Gericht gibt, nämlich das Oberverwaltungsgericht bzw. den Verwaltungsgerichtshof.
Gerichte werden nicht von Amts wegen tätig. Ein Normenkontrollverfahren setzt einen zulässigen Antrag voraus (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO).
Jede natürliche oder juristische Person kann den Antrag stellen, wenn sie geltend machen kann, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Diese Voraussetzung entspricht dem Grundgedanken der deutschen Verwaltungsgerichtsordnung, nämlich Individualrechtsschutz zu gewähren (Schutz subjektiver Rechte).
Die Antragsberechtigung der juristischen Personen ist nicht auf juristische Personen des Privatrechts beschränkt. So ist z. B. denkbar, dass eine Gemeinde ihre Planungshoheit durch eine naturschutzrechtliche Verordnung des Staates beeinträchtigt sieht und deshalb einen Normenkontrollantrag stellt [5].
Auf Grundrechte wird sich eine juristische Person des öffentlichen Rechts grundsätzlich nicht berufen können, weil Grundrechte die Aufgabe haben, die private Sphäre vor Eingriffen durch die öffentliche Gewalt zu schützen; eine entsprechende Gefährdungslage ist bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts grundsätzlich nicht gegeben.
Unerheblich ist, ob die behauptete Rechtsverletzung bereits vorliegt oder in absehbarer Zeit droht; es kommt auch nicht darauf an, ob die Rechtsvorschrift unmittelbar oder erst ein auf die Rechtsvorschrift gestützter Vollzugsakt die rechtliche Beeinträchtigung bewirkt. So ist z. B. denkbar, dass eine naturschutzrechtliche Verordnung Eigentumsrechte unmittelbar beschränkt und daher Gegenstand einer Normenkontrolle gemäß § 47 VwGO sein kann.
Den Normenkontrollantrag kann auch "jede Behörde" stellen. Unzweifelhaft ist, dass eine Behörde nicht eigene subjektive Rechte geltend macht, weil solche Rechte Behörden ohnehin nicht zustehen [6]. Doch die Worte "jede Behörde" bedürfen einer Erläuterung. Was für einen Sinn sollte es machen, dass ein
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Finanzamt - zweifellos eine Behörde - mit einem Normenkontrollantrag gegen eine naturschutzrechtliche Verordnung vorgeht? Eine sinngemäße Interpretation der Worte "jede Behörde" führt zur Einschränkung des Kreises der antragsbefugten Behörden: Nur Behörden, deren Aufgabe es ist, die fragliche Rechtsvorschrift anzuwenden, haben ein Kontrollinteresse; nur diese Behörden sind daher antragsbefugt. Insofern ist die Normenkontrolle ein objektivrechtliches Beanstandungsverfahren [7].
Keine Behörden im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO sind die Gerichte. Für deren Antragsrecht gibt es kein Bedürfnis, weil die Gerichte - im Gegensatz zu Verwaltungsbehörden - die Ungültigkeit einer entscheidungserheblichen untergesetzlichen Rechtsvorschrift inzident feststellen können und infolgedessen diese Rechtsvorschrift nicht anwenden müssen (siehe oben I 2).
Der Normenkontrollantrag kann nur innerhalb eines Jahres nach Bekanntmachung der - anzugreifenden - Rechtsvorschrift gestellt werden [8]. Gegen diese Befristung werden zu Recht rechtspolitische Bedenken erhoben [9]. Auch wenn die Jahresfrist verstrichen ist, bleibt die Inzidentfeststellung der Ungültigkeit unbefristet möglich. Eine Befristung des Antragsrechts führt nicht zu mehr Rechtssicherheit; denn auch nach Verstreichen der Frist können die Prozessbeteiligten weiterhin - gewissermaßen unbefristet - die Ungültigkeit einer Rechtsvorschrift geltend machen. Man könnte sagen, dass die Verkürzung der Antragsfrist mehr Rechtsunsicherheit bewirkt, weil die Möglichkeit, mit einem Normenkontrollantrag die Ungültigkeitserklärung mit allgemeiner Verbindlichkeit zu erreichen, eingeschränkt wurde; denn die Inzidentfeststellung wirkt nicht allgemein, sondern nur "inter partes".
Der Normenkontrollantrag ist gegen die juristische Person des öffentlichen Rechts (z. B. Gemeinde, Landkreis, Freistaat Bayern) zu stellen, die die Rechtsvorschrift erlassen hat. Wird z. B. ein Bebauungsplan angegriffen, so ist Antragsgegnerin die zuständige Gemeinde; wird eine naturschutzrechtliche Verordnung eines Ministeriums angegriffen, ist das jeweilige Land, z. B. der Freistaat Bayern, der richtige Antragsgegner.
Wenn der Normenkontrollantrag zulässig und vor allem innerhalb der Jahresfrist gestellt ist, prüft der Verwaltungsgerichtshof die Gültigkeit der angegriffenen Norm. Dabei kann es sich um eine Verordnung oder Satzung im ganzen handeln oder auch um einzelne Rechtsvorschriften, also einzelne Paragraphen.
Wenn über die Gültigkeit einer Rechtsvorschrift entschieden werden soll, ist als erstes zu untersuchen, ob das Verfahren beim Erlass der Rechtsvorschrift ordnungsgemäß war. Wurde z. B. eine gemeindliche Satzung von einem Ausschuss des Gemeinderates beschlossen, obwohl die Gemeindeordnung einen Beschluss des Gemeinderats, also des Plenums, verlangt, liegt ein Verfahrensfehler vor, der zur Ungültigkeit der Satzung führt. Ein entsprechender Normenkontrollantrag wäre daher begründet.
Im übrigen ist nach allgemeiner Rechtslehre eine Rechtsvorschrift ungültig, also nichtig, wenn sie gegen höheres materielles Recht verstößt. Bei der Überprüfung ist der Verwaltungsgerichtshof nicht auf die vom Antragsteller gerügten Mängel beschränkt [10]. Andererseits genügt es, wenn das Gericht einen - zur Ungültigkeit der Rechtsnorm führenden - Rechtsfehler feststellt; das Gericht braucht sich dann mit der Prüfung weiterer Mängel nicht zu befassen, auch wenn das vom Antragsteller gewünscht wird. Das entspricht dem allgemeinen Grundsatz für gerichtliche Überprüfungen, wonach Gerichte keine Gutachten zu verfassen, sondern Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden haben.
Das Gericht prüft die "angegriffene" Rechtsvorschrift am gesamten höherrangigen Recht (mit einer Ausnahme; dazu gleich unter 3), also auch am Verfassungsrecht und den Grundrechten des Grundgesetzes, wobei es nicht darauf ankommt, ob das höherrangige Recht subjektive Rechte gewährt. In Rechtsprechung und Literatur ist die Frage umstritten, ob im Rahmen der Normenkontrolle auch das Recht der Europäischen Union (Primär- und Sekundärrecht) Prüfungsmaßstab sein kann [11]. Soweit diese Frage verneint wird, argumentiert man mit dem Hinweis, dass ein Verstoß gegen das Recht der Europäischen Union nicht zur Nichtigkeit, sondern nur zur Unanwendbarkeit der gemeinschaftswidrigen innerstaatlichen Rechtsvorschrift führt. Diese Rechtsfolge des Verstoßes steht an sich außer Streit [12];
Doch daraus muss nicht die Konsequenz gezogen werden, dass das Recht der Europäischen Union als Prüfungsmaßstab ausscheidet. Kopp/Schenke weisen
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zu Recht darauf hin, dass als Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs nicht nur die Feststellung der Nichtigkeit in Frage kommt. Das Prinzip des effektiven Rechtsschutzes spricht dafür, dem Gericht auch die Befugnis zuzugestehen, ein Minus gegenüber der Nichtigkeit festzustellen, d. h. zu erklären, dass die innerstaatliche Rechtsvorschrift wegen des Verstoßes gegen das Recht der Europäischen Union nicht anwendbar ist [13].
§ 47 Abs. 3 VwGO schränkt den Prüfungsmaßstab zugunsten der Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder ein. Diese Einschränkung ist dem föderativen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland geschuldet; die VwGO als ein Bundesgesetz will und kann nicht in die Kompetenz der Landesverfassungsgerichte eingreifen. Nach § 47 Abs. 3 VwGO findet in Bayern im Rahmen der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle eine Überprüfung der untergesetzlichen Rechtsvorschriften am Maßstab der Landesgrundrechte nicht statt, weil Art. 98 Satz 4 der Verfassung des Freistaates Bayern (BV) vorsieht, dass der Bayerische Verfassungsgerichtshof im Rahmen einer Popularklage die bayerischen Rechtsvorschriften, also auch die untergesetzlichen Rechtsvorschriften, auf ihre Übereinstimmung mit bayerischen Grundrechten überprüft [14]. Sofern Bundesgrundrechte mit bayerischen Grundrechten übereinstimmen, findet im Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO eine Überprüfung nur am Maßstab der Bundesgrundrechte statt. Es wäre theoretisch denkbar, dass der Bayerische Verwaltungsgerichtshof einen Normenkontrollantrag abweist, weil der Verwaltungsgerichtshof keinen Widerspruch der untergesetzlichen Rechtsvorschrift mit einem Bundesgrundrecht sieht. In einem Popularklageverfahren nach Art. 98 Satz 4 BV könnte der Bayerische Verfassungsgerichtshof dieselbe untergesetzliche Rechtsvorschrift für nichtig erklären, weil diese einem bayerischen Grundrecht, das dem Wortlaut nach mit einem Bundesgrundrecht übereinstimmt, widerspricht. In der Praxis sind solche Divergenzen nicht bekannt geworden; rechtstheoretisch würden sie kein Problem bereiten, weil Bundesgrundrechte und Landesgrundrechte - auch wenn sie wörtlich übereinstimmen - unterschiedlichen Rechtsräumen angehören.
Die Normenkontrolle nach § 47 VwGO und das Popularklageverfahren nach Art. 98 Satz 4 BV sind nicht die einzigen Verfahren, die zu prinzipalen Kontrollen untergesetzlicher Rechtsvorschriften führen. Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG kann jedermann, d. h. jede natürliche und juristische Person des Privatrechts, Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erheben mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte - oder in einem seiner grundrechtsgleichen Rechte [15] verletzt zu sein. Unter öffentlicher Gewalt im Sinne der genannten Vorschrift sind Legislative, Exekutive und Judikative zu verstehen, weil alle drei Gewalten an die Grundrechte "als unmittelbar geltendes Recht" (Art. 1 Abs. 3 GG) gebunden sind. Danach kann also eine untergesetzliche Rechtsvorschrift Prüfungsgegenstand einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht sein. Prüfungsmaßstab können in diesem Fall aber nur die Grundrechte und grundrechtsgleiche, in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG genannte subjektive Rechte sein. Die Verfassungsbeschwerde kann jedoch nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG "erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden". Diese Klausel dient der Entlastung des Bundesverfassungsgerichts, was sich in der Praxis in der Tat auch so auswirkt. Zum Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG gehört auch die Normenkontrolle nach § 47 VwGO; danach ist die vorherige erfolglose Durchführung des Verfahrens gemäß § 47 VwGO Voraussetzung für die Erhebung einer zulässigen Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht [16].
Die Wirkung der Entscheidung ist abhängig von deren Inhalt. Wird der Normenkontrollantrag abgewiesen, wirkt die Entscheidung nur zwischen dem Antragsteller und dem Antragsgegner (§ 121 VwGO); man spricht von der Wirkung "inter partes". Eine andere von der untergesetzlichen Rechtsvorschrift betroffene Person ist rechtlich nicht gehindert, einen inhaltsgleichen Normenkontrollantrag zu stellen - in der Hoffnung, den Verwaltungsgerichtshof nunmehr zu überzeugen, dass die angegriffene Rechtsvorschrift doch ungültig ist.
Kommt der Verwaltungsgerichtshof in einem neuerlichen Verfahren zu der Überzeugung, dass die Rechtsvorschrift ungültig ist, so erklärt er sie für nichtig; in diesem Fall ist die Entscheidung allgemein verbindlich. Die Entscheidungsformel ist vom Antragsgegner in derselben Weise zu veröffentlichen, in der auch eine Aufhebung der Rechtsvorschrift durch die zuständige Behörde zu verkünden wäre (§ 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Diese Entscheidung wirkt
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also "inter omnes". Nun wäre ein neuerlicher Antrag einer anderen Person unzulässig, weil die Norm, die mit dem Normenkontrollantrag angegriffen werden soll, nicht mehr existiert. Die Nichtigerklärung wirkt grundsätzlich ex tunc, d. h. rückwirkend auf den Zeitpunkt des Erlasses der Norm [17]. Die Nichtigkeit der Rechtsvorschrift wird deklariert, also festgestellt; das ist eine Konsequenz der allgemeinen - in Deutschland herrschenden - Rechtslehre, wonach fehlerhafte Rechtsnormen eo ipso nichtig sind; sie werden nicht erst durch die gerichtliche Entscheidung vernichtet [18].
Nebenbei sei bemerkt, dass die Rechtssprache in Deutschland die Begriffe "nichtig", "unwirksam" und "ungültig" als synonyme (also in der Bedeutung gleiche) Begriffe verwendet. In der oben unter III. wiedergegebenen Vorschrift des § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO spricht der Gesetzgeber davon, dass das Gericht eine Rechtsvorschrift für unwirksam erklärt, wenn das Gericht zu der Überzeugung kommt, dass die Rechtsvorschrift ungültig ist.
Die Nichtigerklärung hat Konsequenzen für die Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakte, die vor der Nichtigerklärung - gestützt auf die fragliche Rechtsvorschrift - erlassen worden sind:
Gemäß § 47 Abs. 5 Satz 3 VwGO in Verbindung mit § 183 Satz 1 VwGO bleiben rechtskräftige Entscheidungen der Verwaltungsgerichte, die auf der für nichtig erklärten Rechtsvorschrift beruhen, unberührt; jedoch ist eine Vollstreckung aus einer solchen Gerichtsentscheidung unzulässig (§ 47 Abs. 5 Satz 3 in Verbindung mit § 183 Satz 2 VwGO). Soweit die Vollstreckung bereits vor der Nichtigerklärung der Rechtsvorschrift stattgefunden hat, verlangt das Gesetz nicht, die Vollstreckung rückgängig zu machen.
Wie sich die Nichtigerklärung der Rechtsvorschrift auf Verwaltungsakte aus wirkt, die bereits vor der Nichtigerklärung unanfechtbar geworden sind, hat der Gesetzgeber nicht ausdrücklich geregelt. Doch es liegt nahe, die Regelung des § 183 VwGO, die unmittelbar nur für Gerichtsentscheidungen gilt, auf Verwaltungsakte analog anzuwenden [19]. Das bedeutet: Soweit Verwaltungsakte bereits unanfechtbar geworden sind, bleiben sie trotz Rechtswidrigkeit bestandskräftig. Bereits durchgeführte Vollstreckungshandlungen bleiben unberührt, wenn die zugrunde liegenden Verwaltungsakte bereits unanfechtbar waren. Die Nichtigerklärung der Rechtsvorschrift hat also nicht die Aufhebung dieser Verwaltungsakte zur Folge. Jedoch dürfen diese Verwaltungsakte nicht mehr vollstreckt werden.
Die Verwaltungsbehörde ist jedoch nicht gehindert, einen rechtswidrigen unanfechtbaren und bereits vollstreckten Verwaltungsakt nach den Regeln des Allgemeinen Verwaltungsrechts von sich aus zurückzunehmen. Die Rücknahme eines solchen Verwaltungsakts ist gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes eine Ermessensentscheidung. Die Ablehnung der Rücknahme mit dem Hinweis auf die Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts ist grundsätzlich nicht ermessensfehlerhaft. Die Verwaltungsbehörde muss jedoch, wenn sie einen rechtswidrigen, unanfechtbaren, belastenden Verwaltungsakt zurücknimmt, den Gleichbehandlung beachten: Bei gleich gelagerten Fällen muss die Behörde eine einheitliche Linie einhalten.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat im Jahr 2009 über 107 Normenkontrollanträge entschieden; 16 Anträge waren erfolgreich. Im Jahr 2010 hat dieses Gericht 122 Anträge behandelt, von denen 42 Anträge Erfolg hatten [20]. Auch wenn die Zahlen klein sind, zeigen sie doch, dass über das Normen-kontrollverfahren gemäß § 47 VwGO effektiver Rechtsschutz zu erhalten ist. Es überrascht daher nicht, dass 13 von 16 Ländern der Bundesrepublik Deutschland die Normenkontrolle nach § 47 VwGO eingeführt haben.
Die Literatur beurteilt die Institution der prinzipalen Normenkontrolle gemäß § 47 VwGO einhellig positiv. Für die Normenkontrolle sprechen praktische und rechtspolitische Aspekte: Gründe des Rechtsfriedens, der Rechtsstaatlichkeit, der Rechtssicherheit und damit auch der Verfahrensökonomie, weil weitere Prozesse vermieden und die Verwaltungsgerichte entlastet werden [21]. Es wird frühzeitig Rechtsschutz gewährt; denn es braucht nicht abgewartet zu werden, bis die Exekutive auf Grund der umstrittenen Rechtsnorm in die Rechte des Bürgers eingreift. Divergierende Entscheidungen werden weitgehend vermieden, die es geben kann, wenn nur eine Inzidentkontrolle möglich ist. Schließlich ist die Entlastung der Verwaltungsgerichte ein nicht zu unterschätzender ökonomischer Gesichtspunkt.
Die genannten Gründe rechtfertigen das Resümee: Das prinzipale Normenkontrollverfahren gemäß § 47 VwGO hat sich uneingeschränkt bewährt. ■
ANMERKUNGEN
[1] Bayer. Verwaltungsgerichtshof in: Bay VBl. 1994, S. 530; ebenso bereits BVerwG in: NVwZ 1988, S. 1119.
[2] Statt vieler: Wolf-Rüdiger Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Auflage, 2009, RN 882; weitere Nachweise bei Schenke, Neuere Rechtsprechung zum Verwaltungsprozessrecht (1996 - 2009), S. 187.
[3] Siehe Schenke, Neuere Rechtsprechung (Anm. 2), S. 186 mit Hinweisen auf Entscheidungen des BVerwG.
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[4] In Baden-Württemberg, Bayern und Hessen führt das Oberverwaltungsgericht weiterhin die Bezeichnung "Verwaltungsgerichtshof", was § 184 VwGO ausdrücklich für zulässig erklärt.
[5] Siehe dazu Schenke (Anm. 2), S.192.
[6] Allgemeine Meinung; siehe z. B. Schenke, Verwaltungsprozessrecht (Anm. 2), RN 898; Friedhelm Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 8. Auflage 2011, § 19 RN 43.
[7] Dazu Schenke, Verwaltungsprozessrecht (Anm. 2), RN 873; in diesem Sinn auch Hufen (Anm. 6), § 19 RN 6.
[8] Die Jahresfrist ist durch Gesetz vom 21.12.2006 (BGBl. I S. 3316) eingeführt worden; vorher galt eine Zweijahresfrist.
[9] Schenke, Verwaltungsprozessrecht (Anm. 2), RN 912 b.
[10] Allgemeine Meinung; siehe Ferdinand Kopp/ Wolf-Rüdiger Schenke, Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, 17. Auflage, 2011, § 47 RN 112 mit weiterem Nachweis.
[11] Bejahend das BVerwG in: NVwZ-Rechtsprechungsreport 1995, S. 358 f.; a. A. BayVGH in: BayVBl. 1996, S. 240 ff.; weitere Nachweise zu dieser Frage bei Schenke, Verwaltungsprozessrecht (Anm. 2), RN 917 mit Fußnote 57.
[12] Siehe dazu Kopp/Schenke (Anm. 10), § 47 RN 99.
[13] Kopp/Schenke (Anm. 10) aaO mit weiteren Nachweisen.
[14] Zur differenzierten Regelung in Hessen siehe Kopp/Schenke (Anm. 10), § 47 RN 103.
[15] Das sind subjektive Rechte, die in § 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG besonders aufgeführt sind, (wie z. B. das Recht auf Gehör vor Gericht), weil diese Rechte nicht im Grundrechtskatalog (Art. 1 - 19 GG) verankert sind.
[16] Allgemeine Meinung; BVerfGE 70, 35 (53); E 76, 107 (114); siehe auch Kopp/Schenke (Anm. 10), § 47 RN 98 mit weiteren Nachweisen; Hufen (Anm. 6), § 19 RN 50.
[17] Allgemeine Meinung in Literatur und Rechtsprechung; siehe Kopp/Schenke (Anm. 10), § 47 RN 144 mit Hinweisen auf Rechtsprechung und weitere Literatur.
[18] Das österreichische Recht z. B. geht vom Grundsatz der Rechtsgültigkeit von fehlerhaften Normen aus. Das heißt: Auch rechtswidrige Normen haben bis zu ihrer Aufhebung Bestand; sie sind nicht von vornherein ungültig, sondern so lange als geltendes Recht zu behandeln und anzuwenden, bis sie vom Verfassungsgerichtshof (oder der zuständigen Rechtssetzungsinstanz) aufgehoben worden sind; so Bernd-Christian Funk, Einführung in das österreichische Verfassungsrecht, 9. Auflage, 1996, RN 393.
[19] So Kopp/Schenke (Anm. 10), § 183 RN 5 f. mit Hinweisen auf gerichtliche Entscheidungen; ebenso Schenke (Anm. 2), RN 923; Günter Hilg, Verwaltungsgerichtsbarkeit, Band 5 der Lehrbücher der Bayerische Verwaltungsschule, 2010, S. 275 - jeweils mit Hinweisen auf weitere Literatur.
[20] Diese Zahlen hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof auf Anfrage des Autors mitgeteilt.
[21] Siehe dazu Kopp/Schenke (Anm. 10), § 47 RN 3 und 12 mit weiteren Nachweisen.
Lábjegyzetek:
[1] Der Autor ist Vorstand der Bayerischen Verwaltungsschule a. D.
Visszaugrás