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Ferenc Mádl[1]: Europa wächst zusammen. Ungarns Beitrag (Annales, 2004., 7-12. o.)

Herr Ministerpräsident, sehr verehrte Damen und Herren,

mir ist die Ehre zuteil geworden, als Präsident eines neuen Mitglieds der Europäischen Union die diesjährige Stuttgarter Rede zu Europa zu halten. Diese Einladung ist symbolischer Ausdruck der Bedeutung der vor vier Tagen erfolgten Erweiterung der Europäischen Union, zugleich ein eindrucksvolles Zeichen der Verbundenheit Ungarns und der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere des herzlichen Verhältnisses zwischen Ungarn und dem Land Baden-Württemberg. Dafür gebührt herzlicher Dank.

Den Beitrag Ungarns zum europäischen Integrationsprozeß zu bestimmen, setzt voraus, daß man die besondere Perspektive unseres Landes kurz vor Augen führt. Aus dieser Perspektive kann verstanden werden, worin ich Ungarns besondere Rolle in der Europäischen Union sehe.

Die Bindung an das Abendland ist seit Gründung des ungarischen Staates seine grundlegende Zielsetzung gewesen. Darin, daß der erste König Ungarns, Stephan, die Bayerin Gisela zur Frau wählte und seine Krone von Papst Sylvester II. bekam, kann man diese Zielsetzung klar erkennen. Die westliche Orientierung des Staates wurde zeitweise unterbrochen, zuletzt durch das Sowjetsystem. Aber der Zusammenbruch der Sowjetunion und der Diktaturen in Mittel-und Osteuropa hat eine einmalige Möglichkeit der Wiedervereinigung Europas eröffnet. Ich sage an dieser Stelle bewußt Wiedervereinigung. Denn ich bin fest überzeugt, daß Ungarn und andere Länder der Region schon 1951 bereit gewesen wären, am Integrationsprozeß teilzunehmen, wäre dies ihnen nicht verwehrt gewesen. Es ist vielleicht weniger bekannt, daß ungarische Intellektuelle die Notwendigkeit einer europäischen Einigung bereits vor deren Verwirklichung gesehen haben. Als Beispiel darf ich hier einen Schriftsteller von europäischem Ruhm, Sándor Márai, zitieren, der 1942 schrieb: "Nach dem Krieg müssen in Europa die wirtschaftlichen Grenzen geöffnet werden, damit die europäischen Produktionskräfte ihre Fähigkeiten im Interesse des Wohls der ganzen Welt frei entfalten können."

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So war der Wunsch Ungarns, den Europäischen Gemeinschaften beizutreten, bereits zum Zeitpunkt der Wiedereinführung der Demokratie eine Selbstverständlichkeit. Historisch gesehen sind die zehn Jahre, die seit der Beantragung des Beitritts im Jahr 1994 verstrichen sind, keine besonders lange Zeit. Schließlich mußte das auserwählte Volk 40 Jahre lang durch die Wüste ziehen, bevor es Kanaan erreichte.

Da wir Ungarn und gewiß auch die anderen neuen Mitgliedstaaten diese historische Perspektive haben, verlieren wir die grundlegende Aufgabe der Europäischen Union nicht aus den Augen. Denn wir müssen uns immer darüber klar sein, daß die europäische Einigung vor allem als Mittel der Friedensschaffung und Friedenserhaltung entstanden ist. Um den geistigen Zwiespalt und Glaubenskriege in Europa zu verhindern, hat Erasmus von Rotterdam schon Anfang des 16. Jahrhunderts über die Notwendigkeit Vereinigter Staaten von Europa gesprochen. 1795 entwarf Immanuel Kant in seinem berühmten Plan "Zum ewigen Frieden" die Gründung einer Konföderation der europäischen Staaten unter einer republikanischen Verfassung. Erst die Erfahrungen zweier Weltkriege haben die europäischen Staaten reif für die Integration gemacht. Winston Churchill brachte in seiner Züricher Rede 1946 die Hoffnungen der damaligen Zeit zum Ausdruck, als er den Neuaufbau der europäischen Völkerfamilie in einer Ordnung von Freiheit, Sicherheit und Frieden, ja die Errichtung einer Art Vereinigter Staaten von Europa vorschlug.

52 Jahre nach der Gründung der ersten Gemeinschaft darf nicht vergessen werden, daß die wahre Bedeutung der Integration in der endgültigen Sicherung des Friedens der Völker Europas besteht. Deshalb dürfen kurzfristige Interessen den wichtigen Entscheidungen nicht im Weg stehen. Wir können nur dankbar sein, daß Europa von Staatsmännern geführt wurde, die diese Einsicht teilten, und wir müssen den jüngeren Generationen immer wieder klar machen, daß die Europäische Union nicht ausschließlich mit Agrarsubventionen und Fördergeldern zu identifizieren ist.

Die historischen Wurzeln sind auch bei der Suche nach einer gemeinsamen europäischen Identität bedeutsam. Die kulturelle Verbundenheit ist offenbar. Als schönes Beispiel läßt sich anführen, daß die deutschen Übersetzungen der Werke von Imre Kertész nicht unmaßgeblich zu seiner Anerkennung mit dem Nobelpreis beigetragen haben. Aber die Identitätssuche muß über die Kultur hinaus noch weiter greifen. Man darf nicht verkennen, daß das Christentum die Entwicklung Europas tief geprägt hat. Im Mittelalter ließ sich der Begriff Europa mit der christlichen Religion definieren. Ein Volk konnte mit der Annahme des Christentums Mitglied der europäischen Völkergemeinschaft werden, oft war von einer Respublica Christiana als virtueller politischer Gemeinschaft die Rede. Diese politische Gemeinschaft ruhte auf vielen Säulen. Die

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allgemeine päpstliche Jurisdiktion, die Tätigkeit der Orden gehörten auf jeden Fall hierzu. Es ist kein Zufall, daß der heilige Benedikt der Schutzpatron Europas ist. Die Universitäten waren ebenfalls ein wichtiger Faktor der Vereinheitlichung, da alle Universitäten praktisch den gleichen Lehrgang anboten. Die "septem artes liberales" gehörten ebenso zum allgemeinen Lehrstoff wie das römische Recht.

Mit der Einheit im Christentum verband sich Völkervielfalt. Die Eigenschaften der Völker, die verschiedenen organisatorischen Strukturen blieben erhalten.

Die Wirkung des Christentums ist auch in der Neuzeit zu erkennen. Anerkennung und Schutz der Menschenwürde und der Grundrechte sowie Solidarität sind ebenso in der christlichen Lehre verankert wie in der Verfassungstradition der europäischen Staaten. So konnte der bereits zitierte Sándor Márai inmitten der Schrecken des zweiten Weltkriegs über die Zukunft unseres Kontinents schreiben: "Die Kultur des Abendlands ist identisch mit der suchenden, mit sich ringenden christlichen Moral". Und in diesem Sinne schreibt Robert Schuman in seinem Buch "Für Europa": "Die Demokratie wird entweder christlich sein oder gar nicht."

Freilich kann man Europa in der Gegenwart nicht ausgrenzend mit dem Christentum definieren. Die Suche nach der gemeinsamen Identität darf nicht aufhören. Nur so kann die Grundlage der gemeinsamen Zukunft gefestigt und zugleich die nächste Erweiterung verantwortungsvoll durchgeführt werden. Aber das Erbe Europas erfordert, daß die christliche Tradition - nach langen, klärenden Diskussionen - Eingang in den europäischen Verfassungsvertrag findet.

Da hier der Beitrag Ungarns zur europäischen Integration im Mittelpunkt steht, möchte ich vor allem auf Erfahrungen hinweisen, die Ungarn mit den "alten" Mitgliedstaaten teilen kann. Bewußt verzichte ich darauf, Eigenschaften des ungarischen Volks oder bestimmte Produkte hervorzuheben.

Da ich über glückliche Jahrzehnte hinweg als Dozent an der Budapester Universität tätig war, neige ich dazu, das Wesentliche meines Beitrags in Stichwörtern zusammenzufassen. Um Sie auf wichtige Erfahrungen unseres Landes hinzuweisen, wähle ich folgende Stichwörter: Reformbereitschaft, Solidarität und Hoffnung.

Die Bereitschaft zur Durchführung grundlegender Reformen in fast allen Bereichen der Wirtschaft und des Staatswesens war für Ungarn in den letzten 14 Jahren eine Notwendigkeit. Die Festigung des Rechtsstaats, der Aufbau einer florierenden Marktwirtschaft auf den Ruinen der sozialistischen Planwirtschaft, die Umgestaltung der Sozialsysteme sind Beispiele für die vielen Reformen. Allen Verantwortlichen war klar: auch schmerzhafte Neuerungen müssen vor-

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genommen werden, wollen wir unsere historische Möglichkeit der Annäherung an den entwickelteren Teil Europas ergreifen. Ungarn lebt im Bewußtsein, daß nichts erstarren darf, daß das Bestehende oft reformiert werden muß, auch wenn nicht alles auf einmal erledigt werden kann.

Vor diesem Hintergrund finde ich die Behauptung nicht in jeder Hinsicht übertrieben, der Beitritt der neuen Mitgliedstaaten werde der Europäischen Union neue Energie geben und den Rhythmus der Modernisierung zum größten Wohle aller beschleunigen. Reformen sind zur Zeit auch in der Europäischen Union fällig. Um nur einige zu nennen: es muß eine institutionelle Reform durchgeführt werden, die eine schnelle und wirksame Entscheidungsfindung ermöglicht, aber keinen Mitgliedstaat in den Hintergrund stellt und das institutionelle Gleichgewicht bewahrt. Verschiedene Bereiche der Gemeinschaftspolitik müssen reformiert werden, damit sie weiterhin finanzierbar bleiben. Der Lissabon-Prozeß muß weitergeführt werden, um ein europäisches Wirtschaftsmodell entwickeln zu können, das im globalen Wettbewerb mithalten kann. Und vor allem gilt es, demnächst die Verhandlungen über den Verfassungsvertrag abzuschließen. Als neues Mitglied ist Ungarn am baldigen Erfolg dieser Verhandlungen interessiert. Ich bin überzeugt, daß der Verfassungsvertrag einen wichtigen Schritt der Integrationsvertiefung darstellen wird. Vor allem wird aber der Verfassungsvertrag für alle Bürger Europas einen bedeutenden Identifikationsfaktor darstellen, auf dem die weitere Entwicklung aufbauen kann. Ich habe keinen Zweifel, daß die gewählten Vertreter unserer Völker die Legitimation und die Sachkompetenz haben, um über die Annahme des Verfassungsvertrags verantwortungsvoll zu entscheiden.

Damit bin ich bei meinem zweiten Punkt: Solidarität. Bei allen Reformen blieb den Verantwortlichen in Ungarn klar, daß die gesellschaftliche Solidarität nicht aufgegeben werden darf. Wir sahen und sehen ein wesentliches Element des europäischen Denkens darin, daß der Staat letztendlich Verantwortung für das körperliche Wohl aller Bürger trägt und die Marktwirtschaft um soziale Elemente ergänzt werden muß. Letztendlich war dieses Verständnis die Grundlage dafür, daß die nötigen Reformen trotz aller Spannungen ohne ernsthafte Krisen durchgeführt werden konnten. Selbstverständlich ist uns bewußt, da die Globalisierung und die Erhöhung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit aller europäischen Länder erfordert. Dies setzt auch Änderungen bei den sozialen Sicherungssystemen voraus. Aber wir würden ein wesentliches Merkmal Europas preisgeben, gäben wir im Zeichen der Wettbewerbsfähigkeit die gesellschaftliche Solidarität auf.

Solidarität empfindet Ungarn auch mit den ungarischen nationalen Minderheiten in den Nachbarstaaten. Was solche Beziehungen angeht, steht Ungarn nicht allein da. Mitteleuropa ist in ethnischer und kultureller Hinsicht überdurch-

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schnittlich heterogen - es ist komplexer noch als Westeuropa. Die relative Vereinheitlichung, die bei den Ufern des Atlantischen Ozeans infolge der westeuropäischen Staatsentwicklung beobachtet werden kann, ist hier im Mittelalter nicht vonstatten gegangen. Natürlich haben wir es auch in Westeuropa nicht mit völliger Homogenisierung zu tun. In heutiger Zeit können wir auch dort das Wiederaufleben kultureller Vielfalt feststellen.

Unsere Region weist noch weitere Eigentümlichkeiten auf: in Mittel- und Osteuropa bildeten sich - aus vielen Gründen - multiethnische, vielsprachige und multikulturelle Reiche heraus, so das habsburgische, das türkische und das russische. Im 20. Jahrhundert vollzog sich der Zerfall, die schnelle Auflösung dieser Imperien. Aber Nation und Staat decken einander weiterhin nicht. Die Zahl der Angehörigen von Minderheiten ist kaum zurückgegangen. Obendrein verbinden sich mit der Zugehörigkeit zu einer Minderheit in unserer Region häufig direkte politische Inhalte und Programme.

Deshalb meinen wir, daß der Anerkennung der Rechte, und zwar der kollektiven Rechte der nationalen Minderheiten für die Ruhe in unserer Region - und nun auch schon für die Funktionstüchtigkeit der Union - herausragende Bedeutung zukommt. Wir könnten auch sagen, ohne diese Anerkennung sei die Europäische Union auf ihre Erweiterung nicht vorbereitet. In gewissem Maße hat dies auch die Europäische Union erkannt, als sie die Respektierung der Rechte der nationalen Minderheiten bei den politischen Bedingungen der Erweiterung festhielt. Dies hat sie aber zunächst nur halb und halb getan: dieses Kriterium formulierte sie nur für die Beitrittskandidaten. An sich selbst, in Bezug auf das Unionsrecht, stellte die Union eine solche Anforderung nicht.

Die Anerkennung der Rechte der Angehörigen von Minderheiten im geplanten Verfassungsvertrag der Europäischen Union kann nur ein erster, wenngleich zweifellos bedeutender Schritt zur Vervollkommnung des europäischen Minderheitenschutzes sein. Ungarische Politiker haben jederzeit die verfassungsmäßige Pflicht, für die Ungarn jenseits der Landesgrenzen - und nicht nur für die einzelnen, sondern auch für die Gemeinschaft der Ungarn - Verantwortung zu tragen. Wir glauben, daß wir in Europa für dieses unser Bestreben Partner finden. Anlaß zu dieser Hoffnung gibt auch eine Äußerung von Herrn Präsidenten Prodi, der berechtigter Weise die ganze Europäische Union als "Gemeinschaft von Minderheiten" bezeichnet hat.

Schließlich sollte Solidarität auch unter den Mitgliedstaaten Geltung haben. Wenn die alten Mitgliedsstaaten ihren Arbeitsmarkt vor Arbeitnehmern aus den neu beigetretenen Ländern schützen, so läßt sich darin nicht gerade Solidarität erkennen. 75 Prozent des Exports aus Ungarn gingen bereits vor dem Beitritt in die alten Mitgliedstaaten, während 58 Prozent des Imports aus EU-Ländern kamen. Große europäische Unternehmen haben sich in Ungarn niedergelassen

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und erstellen einen nicht unwesentlichen Anteil des Bruttoinlandsprodukts. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, die Öffnung des Markts in allen Aspekten der Marktgemeinsamkeit konsequent durchzuführen. Im Zeichen der Solidarität ist es ebenso wünschenswert, die Kohäsionspolitik so zu gestalten, daß die neuen Mitgliedstaaten für ihren wirtschaftlichen Aufholprozeß ähnliche Hilfe erhalten wie die früheren Beitrittsländer. Und wenn gelegentlich die Befürchtung groß wird, daß Arbeitsplätze in neue Mitgliedstaaten verlagert werden, erscheint es als umso mehr angebracht, die Niveauangleichung zu fördern.

Als letztes meiner Stichwörter habe ich Hoffnung gewählt. Natürlich ist sie eine allgemeine Haltung gegenüber dem Weltgeschehen. Insoweit ist sie nicht landesspezifisch. Aber die Erfahrungen der letzten 14 Jahre und der vor vier Tagen erfolgte Beitritt unseres Lands zur Europäischen Union können uns Ungarn nur mit Hoffnung erfüllen. Der Zerfall der Diktatur erschien unerträglich lange Zeit als unmöglich, die Erweiterung der Gemeinschaften und später der Union war ein großer, aber schwer erfüllbarer Traum, und doch ist dies alles wahr geworden. Neigte das ungarische Volk infolge seiner wechselhaften Geschichte oft zum Pessimismus, so befinden wir uns heute in einer neuen Ära, in der wir unsere Fähigkeiten ungehindert, frei entfalten können.

Ich bin sicher, daß Europa den historisch bedingten Optimismus Ungarns, ja aller neuen Mitgliedsstaaten gut gebrauchen kann. In manchen Fragen liegen die Interessen der Mitgliedstaaten so weit auseinander, daß eine Einigung zur Zeit kaum in Sicht ist. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gehört zweifelsohne zu den Bereichen, wo Europa seine gemeinsamen Interessen noch wirksamer definieren und vertreten muß. Für die Erreichung dieser Ziele können die Beitrittsländer ihren Mut und ihren Optimismus anbieten. Als Präsident Ungarns bin ich tief davon überzeugt, daß die Europäischen Union eine feste Region des Wohlstands und der Rechstaatlichkeit bleibt, die diese Werte in die ganze Völkergemeinschaft ausstrahlt und das Wohl aller Völker der Welt in einer multilateralen Weltordnung fördert. ■

Lábjegyzetek:

[1] Der Autor ist Präsident der Republik Ungarn.

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