https://doi.org/10.56749/annales.elteajk.2018.lvii.1.7
Until 2013, administrative court procedures in Hungary were regulated in a section of the Code of Civil Procedure and were thus a special type of civil procedure. Since then, Hungary has been taking steps to make administrative proceedings independent, both in terms of the court organisation and procedural law. The legislation in this regard has been and continues to be subject to intensive academic monitoring, also by foreign observers. This article by the president of the highest German administrative court analyses central aspects of the new Hungarian Act on Administrative Court Procedure from a comparative law perspective.
Keywords: judicial protection against administration, types of actions, enforcement of administrative court judgments, margin of appreciation, principles of evidence proceedings
Wer als Ausländer zu einem Gesetzgebungswerk Stellung nehmen soll, steht immer im Verdacht der Besserwisserei. Das würde erhärtet, nähme er sein eigenes Recht zum Maßstab und begnügte er sich damit, Differenzen aufzuzeigen - womöglich in solchen Differenzen ein Zurückbleiben des fremden Rechts hinter einem vermeintlichen Standard zu sehen, den das eigene Recht setzt. Eine solche Haltung wäre nicht nur verfehlt; sie vergäbe auch eine Chance.
Natürlich beruht eine Stellungnahme zu einem fremden Gesetz auf einem Vergleich mit dem eigenen Recht. Aber das ist kein Messen, sondern ein Vergleichen - ein Vergleichen, welches in beide Richtungen lernbereit ist. In diesem Sinne handelt es sich
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um Rechtsvergleichung, die beide Seiten in Dialog bringt und für beide Seiten Chancen birgt. Solche Rechtsvergleichung ist im heutigen Europa unverzichtbar.
Eine Inkongruenz besteht gleichwohl. Sie geht aber zu Lasten des Autors: Sein eigenes Recht kennt er vergleichsweise gut, das fremde Gesetz hingegen vergleichsweise schlecht. Das birgt die Gefahr von Missverständnissen und Fehlurteilen. Will man auf den Vergleich nicht von vornherein verzichten, muss dieses Risiko eingegangen werden. Ich bitte insofern von vornherein um Nachsicht.
Ein Vergleich braucht Vergleichskriterien. Diese sind unvermeidlich subjektiv. Sie entstammen der Problemwahrnehmung des Autors, hier also der deutschen prozessrechtlichen Diskussion. Diese kreist derzeit um zwei zentrale Fragen.
Zum einen geht es um die Funktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit. In Deutschland dient sie vornehmlich dem subjektiven Rechteschutz, also dem Schutz der Rechte - im Kern der Grundrechte - des Bürgers gegenüber dem Staat. Diese Funktion ist verfassungsrechtlich verbürgt und damit unverfügbar. Daneben trat und tritt jedoch eine andere Funktion, die regelmäßig als objektive bezeichnet wird und die ich die aufsichtliche Funktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit nennen möchte. Wie die Verfassungsgerichte die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung überwachen, so sollen die Verwaltungsgerichte die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung kontrollieren. Das löst sich von subjektiven Bürgerrechten und überprüft die objektive Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns in jedweder Hinsicht. Insofern stellen sich vornehmlich zwei Fragen: Wer darf eine derartige Überprüfung veranlassen? Und: Kann der kontradiktorische Prozess das überhaupt leisten? Oder anders gewendet: Wie muss der Verwaltungsprozess konzipiert sein, um diese Funktion wahrnehmen, die damit verbundenen Erwartungen erfüllen zu können?
Daneben tritt in jüngerer Zeit eine andere zentrale Frage wieder in den Fokus, die die Institution der Verwaltungsgerichtsbarkeit eigentlich von Anbeginn an begleitet hat: ihr Verhältnis zur öffentlichen Verwaltung, zur Exekutive. Inwieweit darf das Gericht das Verwaltungshandeln überprüfen? Welche Entscheidungen darf das Gericht fällen? Und wie können die gerichtlichen Entscheidungen umgesetzt werden? In Deutschland kommt den Verwaltungsgerichten eine sehr weitreichende Kontrollkompetenz zu; sie dürfen fehlerhafte Verwaltungsentscheidungen nicht nur aufheben oder für unwirksam erklären, sondern die Verwaltung auch zu bestimmtem Handeln verpflichten; und die Vollstreckungsfrage stellt sich im Grunde nicht, weil die Verwaltung zur freiwilligen Umsetzung im Allgemeinen bereit ist. Aber zum einen gerät diese Bereitschaft der Exekutive zu freiwilligem Gehorsam jüngst ins Gerede. Und zum anderen fragt sich, ob all dies auch für die aufsichtliche Funktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit gilt.
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All dies sind in Deutschland bislang offene Fragen. Welche Stellung bezieht die neue ungarische Verwaltungsgerichtsordnung dazu?
Die ungVwGO verfolgt einen integrativen Ansatz: Sie unterscheidet nicht zwischen verschiedenen Verfahrensarten, die sie bestimmten Streitgegenständen oder bestimmten Gruppen von Klägern / Antragstellern zuordnet, sondern stellt eine einzige Verfahrensart zur Verfügung. Natürlich trägt sie bestimmten Besonderheiten von Streitgegenständen oder Klägern usw. durchaus Rechnung, nur geschieht dies durch Variationen innerhalb der einheitlichen Verfahrensart. Unbenommen bleibt, dass für Eil-, Zwischen- und Nebenverfahren besondere Regeln gelten; das ist selbstverständlich und ändert am Grundsatz nichts. Ebensowenig ändert, dass die ungVwGO im Fünften Teil (§§ 124-154) Sondervorschriften für vereinfachte Verfahren, für Unterlassungsoder Zahlungsprozesse, für bestimmte Aufsichtsverfahren über Selbstverwaltungskörperschaften und Gemeinden sowie für die Wiederaufnahme, die Urteilsvollstreckung und für Kompetenzstreitigkeiten vorsieht.
Die Aufgabe der Verwaltungsgerichte wird im Gesetz dahin umschrieben, wirksamen Rechtsschutz zu bieten (§ 2 Abs. 1). Das greift die Vorgabe des ungarischen Grundgesetzes auf (Art. 29 Abs. 7 ungGG) und rückt den subjektiven Rechtsschutz in den Vordergrund. Das ungarische Grundgesetz sieht aber ebenso vor, dass Gerichte "über die Gesetzlichkeit von Verwaltungsbeschlüssen" entscheiden (Art. 25 Abs. 2 lit. b ungGG). Der ungVwGO ist dementsprechend eine Präambel vorgeschaltet, die neben den subjektiven Rechtsschutz gleichrangig die Gewährleistung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung stellt. Tatsächlich kommen als Kläger nicht nur natürliche und juristische Personen in Betracht, deren "Recht oder berechtigtes Interesse" unmittelbar betroffen ist,[1] sondern auch anerkannte Verbände sowie Aufsichtsbehörden und die Staatsanwaltschaft (§ 17). Auch solche institutionellen Kläger müssen in der Klageschrift "die durch die Verwaltungstätigkeit verursachte Rechtsverletzung" darlegen (§ 37 Abs. 1 lit. f). Subjektiver Rechtsschutz und objektive Verwaltungskontrolle stehen insofern gleichrangig nebeneinander. Der Bürgerbeauftragte ist nicht (mehr?) klageberechtigt;[2] eine Popularklage gibt es nicht.
Gegenstand von Verwaltungsstreitsachen kann ein breites Spektrum des Verwaltungshandelns sein. Zwar besteht insofern keine Generalklausel, und bestimmte Hoheitsakte werden justizfrei gestellt (Auswärtiges sowie Militärisches, irritierenderweise
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auch fremdenpolizeiliche Maßnahmen; § 4 Abs. 4, vgl. § 50 Abs. 6). Ansonsten aber sind nicht nur Verwaltungsakte, sondern auch Realakte (einschließlich deren Unterlassung) klagbar, ebenso wie administrative Rechtsnormen (sofern sie "self executing" sind, sonst nur inzident, § 4 Abs. 5)[3] sowie dienstrechtliche Maßnahmen und Verwaltungsvertragsverhältnisse (§ 4 Abs. 1-3). Probleme dürfte die Vorschrift bereiten, dass nur Verwaltungshandlungen klagbar sind, "die auf die Änderung der Rechtslage von [...] Rechtssubjekten gerichtet sind" (§ 4 Abs. 2). Diese Finalität passt bei "Einzelentscheidungen" und zumeist auch bei Rechtsnormen, wird aber auch bei sonstigen "behördlichen Maßnahmen" vorausgesetzt (§ 4 Abs. 3 lit. b ungVwGO), was bei Realakten problematisch erscheint.[4] Vor allem aber bewegt sich die Vorschrift ganz im Umfeld des subjektiven Rechtsschutzes, ist aber der aufsichtlichen Funktion der gerichtlichen Verwaltungskontrolle inkommensurabel. Auch diese auf die Wahrung individueller Bürgerrechte zu beschränken, dürfte nicht beabsichtigt sein und wäre jedenfalls im europäischen Umweltrecht wohl unzulässig.[5]
Der ungarische Verwaltungsprozess steht unter Geltung des Beibringungsgrundsatzes (§ 3 Abs. 3, § 37 Abs. 1 lit. f). Ausnahmen gelten nur in Ansehung schwerer Fehler, die zur Nichtigkeit des Verwaltungshandelns führen können, sowie bei besonderer gesetzlicher Bestimmung (§ 2 Abs. 5, § 85 Abs. 3). Nicht ganz deutlich ist, ob sich die Darlegungspflicht des Klägers nur auf Tatsachen oder auch auf Rechtsgründe bezieht, auf die er seine Behauptung, das Verwaltungshandeln sei rechtswidrig, stützen möchte (vgl. § 37 Abs. 1 lit. f sowie § 48 Abs. 1 lit. k); doch stehe das einmal dahin.[6] Das Regime des Beibringungsgrundsatzes dürfte sich dem Umstand verdanken, dass sich der Verwaltungsprozess in Ungarn erst in jüngerer Zeit aus dem Zivilprozess emanzipiert; dieser Vorgang ist noch nicht abgeschlossen. Ihn beizubehalten, mag für institutionelle Kläger im Rahmen der aufsichtlichen Funktion der Gerichte angemessen erscheinen; diese besitzen selbst Mittel und Wege, sich die nötigen Informationen zu beschaffen, und der Verwaltungsprozess darf durch eine Ubiquität der rechtlichen und tatsächlichen Prüfungspunkte nicht überfordert werden, was bei einer unbeschränkten objektiven Kontrolle drohen würde. Individualkläger aber sind gegenüber der Behörde strukturell im Nachteil. Das wird noch dadurch verstärkt, dass auch das Recht auf Akteneinsicht den Regeln des Zivilprozesses folgen soll (§ 36 Abs. 1 lit. i). Jedenfalls
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in Ansehung subjektiver Rechte empfiehlt sich daher, sich von zivilprozessualen Reminiszenzen zu lösen. Eine amtswegige Sachaufklärung nützt auch der Verwaltung selbst, schon weil die gerichtliche Entscheidung dann ein höheres Maß an Richtigkeit und Verlässlichkeit aufweist - und damit als potenzielles Vorbild für Parallel- und Folgefälle taugt.
Ebenfalls eher zur aufsichtlichen denn zur Rechtsschutzfunktion der Gerichtsbarkeit passt die vergleichsweise zurückhaltende Kontrolldichte. Selbstverständlich beschränkt sich die Beurteilung durch das Gericht auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns und erstreckt sich nicht auf dessen Zweckmäßigkeit (§ 85 Abs. 1). Auch das Verwaltungsermessen ist aber rechtlich gebunden; Ermessensfehler sind Rechtsfehler. Das Gesetz sieht insofern lediglich eine Überprüfung dahin vor, ob das Ermessen überhaupt ausgeübt wurde und ob die angestellten Erwägungen in der gegebenen formellen Begründung mitgeteilt wurden (§ 85 Abs. 5). Man vermisst die zusätzliche Prüfung, ob diese Erwägungen rechtlich in der Sache auch tragfähig sind (oder ob die Verwaltungsentscheidung materiell "begründbar" ist). Diese Zurückhaltung mag der aufsichtlichen Kontrollfunktion des Gerichts genügen; für einen effektiven Rechtsschutz geht sie wohl zu weit. Gerade in die Grundrechtssphäre von Individualklägern darf die Verwaltung nur verhältnismäßig eingreifen; das stellt gerade an die Ermessensausübung erhöhte Anforderungen.
Es ist aber damit zu rechnen, dass sich die künftige Judikatur der ungarischen Verwaltungsgerichte dieser Frage annehmen wird. Gerade der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit etabliert sich mehr und mehr zum gemeinsamen europäischen Grundrechtsbestand. Dabei ist er längst nicht ausjudiziert. So gibt es Stimmen, denenzufolge Deutschland die Intensität der gerichtlichen Verwaltungskontrolle insofern etwas übertreibt. Vermutlich wird man sich in irgendeiner Mitte treffen.
Das System der Klagearten und Entscheidungsmöglichkeiten in der ungarischen Verwaltungsgerichtsordnung erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Die ungVwGO kennt zwar ebenfalls die Feststellungsklage, die Leistungsklage sowie die Gestaltungsklage (§ 38 Abs. 1). Keine Fragen werfen Leistungsklagen auf Erfüllung eines Verwaltungsvertrages sowie auf Schadensersatz aus Vertrag oder aus einem Dienstverhältnis auf (§ 38 Abs. 1 lit. d und e, §§ 130 ff.); hier herrscht ersichtlich große Nähe zum Zivilprozess. Ausgeklammert sei auch die Leistungsklage auf Unterlassung drohenden schlichten Verwaltungshandelns (§ 38 Abs. 1 lit. c). Steht aber förmliches Verwaltungshandeln in Rede, so unterlegt der deutsche Beobachter dem Prozessrecht automatisch die materiell-rechtliche Lehre vom fehlerhaften Staatsakt: Fehlerhafte Normen sind nichtig, fehlerhafte Einzelakte (Verwaltungsakte) sind im Regelfalle wirksam, aber
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aufhebbar. Darauf reagiert das Prozessrecht mit der Klage auf Feststellung der Nichtigkeit oder auf Kassation, bei "lässlichen" (behebbaren) Fehlern auf Unanwendbarkeit oder Unvollziehbarkeit bis zur Fehlerheilung. Unterlässt die Verwaltung hingegen einen Hoheitsakt, auf den ein Anspruch besteht, so steht die Leistungsklage auf Normerlass oder die Verpflichtungsklage auf Erlass des Verwaltungsakts bereit. Es sei versuchs- und ausnahmsweise einmal gestattet, das ungarische Prozessrecht über diesen deutschen Leisten zu schlagen. Dann zeigen sich Übereinstimmungen, aber auch einige Besonderheiten.
Der betroffene Individualkläger kann eine Abwehrklage gegen eine ihn belastende Hoheitsmaßnahme erheben. Das Gesetz unterscheidet insofern nicht zwischen Einzelakt und Norm. Die Abwehrklage hat, wenn das Gesetz es bestimmt, aufschiebende Wirkung, andernfalls kann das Gericht dies anordnen (§§ 50 ff.). Erweist sich die Klage als begründet, so wird die Hoheitsmaßnahme (ex tunc) "vernichtet" oder, wenn Gründe des öffentlichen Interesses oder Drittinteressen dies gebieten, (ex nunc) "außer Kraft gesetzt" (§ 92); "bei Bedarf" wird die Behörde zur Durchführung eines neuen Verfahrens verpflichtet (§ 89 Abs. 1 lit. b), wofür das Gericht einen "Leitfaden" geben kann, der die Behörde bindet (§ 86 Abs. 4, § 97 Abs. 4). All dies gilt freilich nur, wenn die Hoheitsmaßnahme an einem besonders schweren Fehler leidet (§ 92 Abs. 1 lit. a-c; hierher rechnet auch die Angabe einer falschen Ermächtigungsgrundlage) oder die Verwaltungshandlung nicht geändert werden kann (§ 92 Abs. 1 lit. d; dazu sogleich). Die Normenkontrolle gemeindlicher Satzungen führt immer zur rückwirkenden "Vernichtung" (§ 146). Die Beseitigung eines Verwaltungsakts wirkt nur inter partes (§ 96), die einer Satzung inter omnes (§ 146 Abs. 5, vgl. § 147).
Die Ausnahme, dass die Verwaltungshandlung nicht geändert werden kann, zielt auf eine Änderung durch das Gericht selbst. Hierin unterscheidet sich das ungarische vom deutschen Recht: Wenn "die Eigenart des Falles es zulässt" und die Sache spruchreif ist, kann das Gericht einen rechtswidrigen Verwaltungsakt selbst ändern. Das gilt auch und erst recht, wenn das Gericht die Sache schon einmal an die Verwaltung zurückgegeben hatte und die Behörde den vom Gericht mitgegebenen "Leitfaden" ignoriert (§ 90 Abs. 1 und 2).[7] Freilich ist die Änderungsbefugnis des Gerichts recht schmal. Sie besteht nicht bei Billigkeits- oder Ermessensakten, auch nicht bei haushaltswirksamen Entscheidungen, und generell nicht bei administrativen Rechtsnormen (§ 90 Abs. 3, § 4 Abs. 3 lit. c); dann bewendet es bei "Vernichtung" oder "Außerkraftsetzung". Auch in den verbleibenden Fällen muss sich die Änderung im Rahmen des Klageantrags halten (§ 85 Abs. 1). Dem Kläger darf daher nur ein "Minus" zugesprochen werden, aber kein "Aliud". Die Änderungsbefugnis läuft daher bei Anfechtungsklagen
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auf eine Teilstattgabe hinaus. Der Hauptanwendungsfall dürfte die gerichtliche Herabsetzung einer durch Bescheid festgesetzten Abgabe sein (vgl. § 91).
Gravierender ist der Unterschied bei Verpflichtungsklagen, auch bei Drittanfechtungsklagen. Überall stehen Verwaltungsgerichte vor dem Problem, ihre Leistungsurteile bei der Verwaltung durchzusetzen. Das Problem wird in solchen Ländern vermieden, die den Gerichten lediglich eine Kassationsbefugnis zuerkennen; doch wäre dies mit dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewähren, schwerlich vereinbar. Weder Ungarn noch Deutschland gehören deshalb zu diesen Ländern. Deutschland kennt vielmehr die Verpflichtungsklage bei gebundener und die Bescheidungsklage bei Ermessensverwaltung. Ungarn ist rigider: Hier ist das Gericht, wie gezeigt, bei gebundener Verwaltung in bestimmten Fällen befugt, den begehrten Bescheid an Stelle der Behörde selbst zu erlassen (§ 90 Abs. 1). Andernfalls verpflichtet es die Behörde zur Durchführung eines neuen Verwaltungsverfahrens unter Vorgabe eines bindenden "Leitfadens" (§ 89 Abs. 1 lit. b, § 86 Abs. 4, § 97 Abs. 4). Wiederholt die Behörde den Fehler, kommt wiederum ein ersetzender Bescheid des Gerichts in Betracht (§ 90 Abs. 2). Bleibt die Behörde hingegen untätig oder ist die Bescheidersetzung aus den bereits erwähnten Gründen unzulässig, dann verbleibt nur die Erzwingung im Rahmen der Urteilsvollstreckung. Hier sieht das ungarische Recht erhebliche Geldbußen (Zwangsgelder) vor, die nicht nur gegen die Behörde, sondern auch gegen deren Leiter persönlich festgesetzt werden können (§ 152); das Gericht kann auch in die behördliche Kompetenzordnung eingreifen und eine andere Verwaltungsstelle für zuständig erklären (§ 153).
Die gerichtliche Änderung einer Verwaltungsentscheidung stößt in Deutschland sogleich auf Einwände unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung. Freilich ist zu konstatieren, dass auch andere Länder den Gerichten diese Befugnis verleihen, weil sie die Vollziehung gerichtlicher Erkenntnisse effektiver gestaltet (so etwa die Schweiz und Österreich). Ungarn hat diesen Schritt erst mit der Verwaltungsgerichtsordnung von 2017 unternommen. Es kannte zwar die gerichtliche Änderung von Verwaltungsmaßnahmen schon zuvor, jedoch eng beschränkt auf Gegenstände des Statusrechts von Personen (Anerkennung als Staatenloser oder Flüchtling), des Steuer- und Sozialrechts sowie solcher personenstands- und registerrechtlicher Sachen, die in Deutschland als Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit zusammengefasst werden.[8] Jetzt wurde es verallgemeinert.
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Bis zum Erlass des neuen ungarischen Grundgesetzes vom 25. April 2011 war der Verwaltungsprozess in einem Abschnitt der Zivilprozessordnung geregelt und damit ein Sonderfall des Zivilprozesses. Seither betreibt Ungarn die Verselbständigung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, zunächst durch das Gesetz Nr. CLXI von 2011, das am 1. März 2013 in Kraft trat und insb. die Einrichtung besonderer Arbeits- und Verwaltungsgerichte auf der unteren Stufe und eine relative Verselbständigung verwaltungsrechtlicher Spruchkörper in der Mittel- und Oberinstanz brachte,[9] sodann durch das Gesetz Nr. I von 2017 über die Verwaltungsgerichtsordnung, das am 1. März 2017 verkündet wurde. Derzeit werden weitere Reformschritte zur Gerichtsverfassung erwogen, durch welche auch in der Mittel- und Oberinstanz selbständige Verwaltungsgerichte errichtet werden sollen. Damit kann der Sachverstand, den die Richter in den verselbständigten Spruchkörpern schon bislang sammeln konnten, im Sinne einer weiteren Spezialisierung gefestigt und vertieft werden. Die neue Verwaltungsgerichtsordnung gibt ihnen hierzu ein gut geeignetes Verfahrensrecht an die Hand. ■
ANMERKUNGEN
* Referat anlässlich der Arbeitstagung der obersten Verwaltungsgerichte Ungarns und Deutschlands (Budapest, 11. Oktober 2018.).
[1] Damit wurde die vorherige Beschränkung auf solche Kläger, die bereits im vorangegangenen Verwaltungsverfahren formell beteiligt waren [vgl. K. Rozsnyai, Änderungen im System des Verwaltungsrechtsschutzes in Ungarn, (2013) (9) Die Öffentliche Verwaltung, 335-342, 338], aufgegeben.
[2] Vgl. aber § 141 Abs. 1 betr. Normenkontrollverfahren zu Gemeindesatzungen.
[3] Zur Normenkontrolle betr. Gemeindesatzungen vgl. §§ 139 ff., einschließlich eines Zwischenverfahrens zur konkreten Normenkontrolle bei der Kurie, § 144.
[4] Allerdings sind (vorbeugende) Unterlassungsklagen vorgesehen (§ 8 Abs. 3 lit. h ungVwGO), die sich wohl nicht nur gegen drohende Verwaltungsakte, sondern auch gegen Realakte richten können (vgl. § 38 Abs. 1 lit. c ungVwGO).
[5] Vgl. EuGH, Urteil vom 11.05.2011, Trianel - C-115/09 - Slg. 2011, I-3673.
[6] Ein Zwischenverfahren der konkreten Normenkontrolle durch das Verfassungsgericht oder der Vorabentscheidung durch den Europäischen Gerichtshof kann das Gericht auch von Amts wegen einleiten (§ 34); trotz der insofern undeutlichen Formulierung dürften nur Zwischenverfahren und nicht auch eigenständige Verfahren gemeint sein.
[7] Wird das Gericht auf diese Weise erneut mit der Sache befasst, so sind die im ersten Prozess beteiligten Richter ausgeschlossen (§ 10 Abs. 1 lit. h).
[8] Rozsnyai, Änderungen im System..., 339-340.; I. Vadál, J. Zeller, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Ungarn, (2015) 61 (3) Osteuropa - Fragen zur Rechtsentwicklung in Mittel- und Osteuropa, 298-305, 304, https://doi.org/10.5771/0030-6444-2015-3-298
[9] Dazu insb. Rozsnyai, Änderungen im System..., 335 ff.
Lábjegyzetek:
[1] Der Autor ist Prof. Dr. Dr. h.c., Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Leipzig.
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