https://doi.org/10.56749/annales.elteajk.2022.lxi.17.225
In the Hungarian law, the purpose of criminal proceedings is to find out the "material truth". The possibility of the double appeal serves to achieve this goal. There is no guarantee of achieving the "perfect" decision, so there must be a limit for the correction of court decisions. This appears in the regulation of procedure on the second and third instance, as well as extraordinary legal remedies.
Keywords: legal remedies, material justice, rule of law, appeal, repeal (in absolute procedural infraction), review of the court decision, extraordinary legal remedies, legal force
Die Funktion von Rechtsmitteln ist im Allgemeinen die Korrektur einer fehlerhaften Entscheidung und damit die Herstellung von Richtigkeit oder Gerechtigkeit. Nachteile von Rechtsmitteln sind die überlange Prozessdauer und damit eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit des strafprozessualen Systems. Zur Lösung dieses Konflikts werden einerseits Schlichtungsmöglichkeiten und einvernehmliche Verfahrenslösungen im Strafprozess verstärkt genutzt. Anderseits ist es wichtig die Balance zwischen den konkurrierenden Interessen - die Erreichung der richtigen, fehlerfreien Entscheidung aber innerhalb einer absehbaren Zeit in einem fairen Verfahren - zu finden.
Es ist auch wichtig zu berücksichtigen, dass das Recht auf Rechtsmittel national und international anerkannt ist. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) garantiert im Artikel 13 das Recht auf eine wirksame Beschwerde, aber dieser Artikel sieht nur ein allgemeines Recht auf Rechtmittel vor. Das Protokoll Nr. 7 zur EMRK[1] garantiert in Artikel 2 Rechtsmittel in Strafsachen. Dieser Artikel regelt speziell das Recht
- 225/226 -
auf Rechtmittel in Strafsachen.[2] Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht darin, dass Artikel 13 EMRK das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nicht ausdrücklich gegen gerichtliche Entscheidungen vorsieht. Artikel 13 schreibt nicht ausdrücklich vor, dass das Recht auf eine wirksame Beschwerde auch das Recht den Fall vor einer zweiten Instanz, einem Berufungsgericht, verhandeln zu lassen beinhaltet.[3]
Artikel 2 des Zusatzprotokolls Nr. 7 zur EMRK erkennt das Recht einer verurteilten Person an, dass ihr Urteil von einem höheren Gericht sowohl im Hinblick auf Schuld als auch auf die rechtlichen Konsequenzen, die Sanktionen, überprüft werden kann. Die Gründe und die ausführlichen verfahrensrechtlichen Regelungen der Urteilsprüfung sind in den nationalen Rechtsordnungen geregelt. Es liegt im Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten[4] die Rechtsvorschriften über die Urteilsprüfung zu erlassen, deshalb können die Rechtsmittel von Land zu Land und von Rechtssystem zu Rechtssystem unterschiedlich sein. In einigen nationalen Rechtsordnungen behandelt die Urteilsprüfung hauptsächlich Rechtsfragen, in anderen Rechtsordnungen können neben der Prüfung der Rechtsfragen auch die Sachverhalte revidiert und neue Tatsachen oder Tatsachenelemente durch Beweiserhebung festgestellt werden. Nach der Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss das Recht auf Einlegung eines Rechtsmittels allen zugänglich sein. Die verfahrensrechtlichen Regelungen und Fristen müssen klar und eindeutig sein.[5] Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass das Rechtsmittel effektiv und wirksam sein muss.[6] Der Verurteilte hat jedoch nicht immer das Recht, die Überprüfung seines Urteils zu beantragen. Die Beschränkung muss einem legitimen Zweck dienen und darf den Wesensgehalt des Rechts auf Einlegung eines Rechtsmittels nicht beeinträchtigen. Das Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs kann in bestimmten Fällen beschränkt werden. Der erste Fall ist beispielsweise, wenn der Gegenstand des Strafverfahrens eine geringfügige Straftat war.[7] Eine andere Beschränkungsmöglichkeit
- 226/227 -
liegt vor, wenn der Fall des Beklagten in erster Instanz vor dem obersten Gerichtshof verhandelt wurde. Da das Recht auf Rechtsmittel bei einem höheren Gericht in diesem Fall nicht gewährleistet werden kann, kann das Recht auf Rechtsmittel auch in einem solchen Fall eingeschränkt werden.
Nach der kurzen theoretischen Einführung möchte ich kurz vorstellen, wie die oben beschriebenen Grundsätze im ungarischen Strafprozess gelten. Mein Ziel ist nicht die Darstellung der detaillierten Regelungen des Rechtsmittelsystems im ungarischen Strafverfahren, sondern den Zusammenhang zwischen der Rechtsstaatlichkeit und dem strafprozessualen Rechtsmittelsystem zu illustrieren.
Zu Beginn der Darstellung des ungarischen strafprozessrechtlichen Rechtsmittelsystems ist es erforderlich die erforderlich, die Frage zu beantworten, was das Ziel des Strafverfahrens ist. Grundsätzlich existieren zwei konkurrierende Grundprinzipien, die den Aufbau und das Funktionieren des Rechtsmittelsystems im Strafverfahren beeinflussen. Das eine Grundprinzip ist die Rechtssicherheit, nach der das Strafverfahren innerhalb einer angemessenen/vorhersehbaren Zeit beendet werden soll. Das ist ein grundlegendes Interesse aller am Strafprozess Beteiligten, also nicht nur des Angeklagten, sondern auch der Opfer oder Zeugen. Das andere Grundprinzip ist die materielle Gerechtigkeit. Das Ziel des Strafverfahrens ist die Herbeiführung einer gerechten Entscheidung. Am Ende des Strafverfahrens soll ein Urteil stehen, was die echte Wahrheit enthält. Beide Grundprinzipien knüpfen sehr eng an die Rechtsstaatlichkeit an. Rechtssicherheit ist ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips. Die Herstellung der materiellen Gerechtigkeit im Strafverfahren ist die Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Es ist eine rechtspolitische Frage welches Grundprinzip der Gesetzgeber "wählt".
Im Folgenden möchte ich den Zusammenhang zwischen der Rechtsstaatlichkeit und dem System des strafprozessualen Rechtsmittels illustrieren. Wenn die Rechtssicherheit im Mittelpunkt steht, bedeutet dies, dass die Verletzungen oder die Verfahrensfehler in geringerem Maße korrigiert werden können. Im Gegensatz dazu: wenn die Erforschung der materiellen Gerechtigkeit, der materiellen Wahrheit, und die fehlerfreie Entscheidung Priorität ist, dann setzt es ein umfassendes Rechtsmittelsystem voraus. Der ungarische Gesetzgeber betrachtet das zweite Grundprinzip als bedeutsamer,
- 227/228 -
weshalb die Verfahrensverletzungen weitgehend korrigiert werden können. Die ungarische StPO[8] regelt ein sehr kompliziertes und komplexes Rechtsmittelsystem.
Die Priorität der materiellen Gerechtigkeit beeinflusst das Verhältnis zwischen den ordentlichen und außenordentlichen Rechtsbehelfen. Auch wenn die Verletzungen des Verfahrens mit den ordentlichen Rechtsmitteln weitgehend korrigiert werden können, ist die Möglichkeit der Überprüfung von rechtskräftigen Urteilen nur begrenzt möglich. Umgekehrt: wenn die ordentlichen Rechtsmittel nur begrenzt angewendet werden können, bedarf es mehrerer Möglichkeiten das rechtskräftige Urteil zu korrigieren.
Nach diesen theoretischen Grundlagen muss dargestellt werden, wie das ungarische strafprozessuale Rechtsmittelsystem aussieht. Durch die Beantwortung der sog. grundlegenden Fragen des Rechtsmittelsystems, kann ein Bild über die allgemeinen Merkmale des Rechtsmittelsystems herauskristallisiert werden. Die grundlegenden Fragen sind die Folgenden: Gibt es eigentlich Rechtsmittel? Wenn diese Frage mit "ja" beantwortet werden kann, muss klargestellt werden wie viele Rechtsmittel in der ungarischen Strafprozessordnung geregelt sind. Das nächste entscheidende Kriterium bei der Prüfung des Rechtsmittelsystems ist die Grundlage des Rechtsmittels, d.h. Art des Fehlers im Strafverfahren. Eine weitere Frage ist, in welchem Umfang die Fehler überprüft und korrigiert werden können. Diese Fragen können durch den Umfang der Urteilsprüfung und die Entscheidungskompetenz der Gerichte beantwortet werden.
Nach Art. XXVIII Abs. 7 des ungarischen Grundgesetzes hat jede Person das Recht Rechtsmittel gegen Gerichts-, Behörden-, und andere Verwaltungsentscheidungen einzulegen, die ihr Recht oder berechtigtes Interesse verletzen. Diese Bestimmung des Grundgesetzes sieht - in Übereinstimmung mit den internationalen Dokumenten -das Recht auf Rechtsmittel im Allgemeinen vor. Demzufolge muss die Anfechtungsmöglichkeit der strafrechtlichen Entscheidungen garantiert werden.
- 228/229 -
Das ungarische Strafprozessgesetz regelt ein zweistufiges ordentliches Berufungssystem. Das ungarische Verfassungsgericht hat in seiner Entscheidung 9/1992. (I. 30.) festgestellt, dass die Erfordernisse des Rechts auf Rechtsmittel auch durch eine einstufige Berufung erfüllt würden, jedoch noch weitere Rechtsbehelfe gewährt werden können.
Gegen das erstinstanzliche Urteil kann in Rechtsfragen und Tatsachenfragen Berufung eingelegt werden. Die Möglichkeit der ersten Berufung ist weitgehend; Grenzen gibt es nur im Bereich der Beweiserhebung. Die zweite Berufung ist aber nur bei der Erfüllung der in dem Gesetz festgestellten Kriterien möglich. Das Strafverfahren dauert bis zu "zwei gewonnenen Spielen". Gegen ein zweitinstanzliches Urteil kann eine zweite Berufung nur dann eingelegt werden, wenn das erstinstanzliche und das zweitinstanzliche Urteil in der Schuldfrage (ob der Angeklagte schuldig ist oder nicht) unterschiedlich sind. Wenn es keinen Unterschied in der Schuldfrage zwischen der ersten und zweiten Instanz gibt, sind eine zweite Berufung und eine dritte Instanz nicht möglich. Die unterschiedliche Behandlung von den ersten und zweiten Berufungen entspricht der oben dargestellten Balance zwischen der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit.
Die Frage, ob die zweite Berufung wirklich erforderlich ist oder nicht, ist nicht neu. Historisch hat schon die erste Strafprozessordnung im Jahre 1896 ein zweistufiges ordentliches Berufungssystem geregelt. In 1949 wurde eine einstufige Berufung eingeführt. Das zweistufige Berufungssystem wurde nur im Jahre 2006 wiedereingeführt, und es wird bis heute diskutiert, ob das zweistufige ordentliche Rechtsbehelfsystem in dem Strafverfahren wirklich notwendig ist.
Grundlage des Rechtsmittels ist der Fehler des Strafverfahrens. Drei Arten von Fehlern können unterschieden werden. Erstens der "error in jure", die Verletzung der materiellstrafrechtlichen Regelungen; zweitens, der "error in facte", die Verletzung der Tatsache; und drittens, der "error in procedento", die Verletzung der strafprozessrechtlichen Regelungen. Die Grundlage des Rechtsmittels, die Art und Weise der Verletzung, bestimmt die Entscheidungskompetenz des zweit- und drittinstanzlichen Gerichts.
Die Grundregel ist die vollumfängliche Urteilsprüfung sowohl in der zweiten- als auch der dritten Instanz. Das bedeutet, dass das Gericht das gesamte Urteil und Strafverfahren überprüft, und zwar unabhängig von den in der Berufung angegebenen Gründen.
- 229/230 -
In den im Gesetz ausdrücklich geregelten Ausnahmefällen ist die Urteilsprüfung nur zum Teil möglich. In diesen Fällen unterliegt das Urteil der gerichtlichen Überprüfung nur soweit es angefochten ist, zum Beispiel wenn von mehreren Angeklagten nur eine Berufung einlegt; in diesem Fall prüft das Gericht nur das Urteil dieses Täters. Ein anderes Beispiel betrifft die Zusatzfragen: wenn nur das Maß der Strafe angefochten wird, prüft das Gericht nur diese Frage beziehungsweise nur diesen Teil des Urteils (und nicht die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, da dies nicht angefochten war).
Die Urteilsprüfung kann aber auch in den Ausnahmefällen vollständig werden, wenn mit dem Urteil eine schwerwiegende Rechtsverletzung einhergeht. Eine schwerwiegende Rechtsverletzung kann beispielsweise in der Verletzung sog. absolut prozessrechtlicher Garantien liegen sein (die sog. absolute Revisionsgründe), wenn das Urteil automatisch aufgehoben werden muss. Beispiele für absolute Revisionsgründe sind sowohl der nicht erfolgte Ausschluss eines befangenen Richters, oder wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft stattgefunden hat; oder wenn das Gericht der ersten Instanz zu Unrecht seine Zuständigkeit angenommen hat.
Zwei Arten der Entscheidungskompetenzen können unterschieden werden. Eine ist die kassatorische Entscheidungskompetenz, die andere ist die Reformation der Entscheidungen. Die kassatorische Entscheidungskompetenz bedeutet, wenn das Urteil aufgehoben und die Sache an das zuständige Gericht zurückverwiesen wird. In diesen Fällen muss das Verfahren wiederaufgenommen werden, weil die Verletzungen nicht in dem Rechtsmittelverfahren korrigiert werden können. Das andere ist die reformatorische Entscheidungskompetenz, wenn das Gericht der zweiten oder dritten Instanz das angefochtene Urteil selbst korrigieren kann. Es gibt aber Grenzen bei der Änderung zum Nachteil des Angeklagten.
Die Entscheidungskompetenz des Gerichts der zweiten und dritten Instanz hängt davon ab, welche Fehler die angefochtene Entscheidung hatte. Die folgende Tabelle zeigt, mit welcher Entscheidungskompetenz die verschiedenen Verletzungen korrigiert werden können.
Tabelle 1. Die Entscheidungskompetenz der Gerichte in dem Rechtsmittelverfahren
Verletzungen | Kassatorische Entscheidung | Reformatorische Entscheidung |
1. Materielles Strafrecht | - | + (aber: Grenze) |
- 230/231 -
Verletzungen | Kassatorische Entscheidung | Reformatorische Entscheidung |
2. Tatsache | + (unbegründet) | + (teilweise unbegründet) |
3. Strafprozess- recht | + | - |
Grundsätzlich sind nur Rechtsmittel "(teilweise) unbegründet" beziehungsweise "begründet"; Tatsachenbehauptungen vor Gericht müssen substantiiert werden. Das Strafverfahrensgesetz regelt ausdrücklich, wann die Tatsache völlig oder teilweise unbegründet ist. Die Art und Weise der Fehler in der Tatsache sind darum wichtig, weil die verschiedenen Fehlerarten verschiedene Rechtsfolgen haben. Wenn die Tatsache völlig unvollständig geblieben ist oder das Gericht keine Feststellungen zur Tatsache gemacht hat, muss das Urteil aufgehoben werden und die Sache an das zuständige Gericht zurückverwiesen werden. Wenn die Tatsache nur teilweise unbegründet ist (z.B. wenn die Tatsache teilweise ungeklärt ist, oder die Tatsache dem Inhalt der Verfahrensdokumente widerspricht), kann die zweite oder dritte Instanz die Tatsache mit einer reformatorischen Entscheidung korrigieren.
Die Änderung der Tatsachen hat aber Grenzen. Die Beweisaufnahme in zweiter Instanz ist möglich, aber nur in Bezug auf neue Beweise. Das bedeutet, dass, wenn die Tatsache korrigiert werden müsste aber in der Berufung keine neuen Beweise bezeichnet werden, das Urteil aufgehoben werden und die Sache an das zuständige Gericht zurückverwiesen werden muss. Die Beweisaufnahme in der dritten Instanz ist nicht möglich. Das Gericht der dritten Instanz beschäftigt sich grundsätzlich nur mit rechtlichen Fragen und nicht Fragen zur Tatsache, demzufolge können diese Fehler nicht in dritter Instanz korrigiert werden.
Die prozessrechtlichen Verletzungen haben zwei Arten: die absoluten und die relativen Verletzungen. Beiden Typen ist gemeinsam, dass die Verletzung nicht korrigiert/reformiert werden kann. Es hängt aber von der Art der Verletzung ab, ob das Gericht eine kassatorische Entscheidung trifft oder nicht.
Die sog. absolut prozessrechtlichen Verletzungen können nicht reformiert oder korrigiert werden, deshalb ist das Urteil aufzuheben und die Sache an das zuständige Gericht zu verweisen. Wichtig ist zu betonen, dass bei den absoluten Rechtsverletzungen die Kassation gesetzlich automatisch ist. Das Gericht hat keinen Entscheidungsspielraum.
Bei den relativen prozessrechtlichen Verletzungen ist die Kassation nicht automatisch. In diesen Fällen muss geprüft werden, ob die Verletzungen eine tatsächliche Wirkung auf die Hauptfragen des Strafprozesses (z.B. strafrechtliche Verantwortlichkeit,
- 231/232 -
Schuldfähigkeit, Art und Weise der Sanktion) haben. Wenn ja, muss das Urteil aufgehoben und die Sache an das zuständige Gericht verwiesen werden. Demzufolge kann festgestellt werden, wenn die Verletzung nicht wesentlich ist, bleibt es außer Acht. Beispiele für die relativen Verletzungen sind die Verletzung der Regelungen der Gesetzlichkeit bei der Beweisaufnahme, oder wenn das Gericht seiner Urteilbegründungspflicht nicht nachgekommen ist.
Bei Verletzungen von materiell-rechtlichen Regelungen kommt die reformatorische Entscheidung in Betracht. Sowohl die zweite als auch die dritte Instanz kann die materiell-rechtlichen Fehler korrigieren.
Es gibt aber Grenzen bei der reformatorischen Entscheidung: das sog. Verbot der Verschlechterung. Nach dem Verschlechterungsverbot darf das Urteil nicht zum Nachteil des Angeklagten geändert werden, wenn nur zu seinen Gunsten Berufung eingelegt wurde. Das Urteil kann nur dann verschlechtert werden, wenn eine Berufung zum Nachteil des Angeklagten eingelegt wurde. Es ist ein sehr wichtiger Ausdruck des Prinzips "favor defensionis".
Die außerordentlichen Rechtsmittel ermöglichen die Überprüfung des rechtskräftigen Urteils. Hier gibt es auch einen Widerspruch zwischen zwei Grundprinzipien: der Rechtskraft und der materiellen Gerechtigkeit. Beide Grundprinzipien sind Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips. Es ist eine rechtspolitische Frage, ob, und wenn ja, wie viele außerordentliche Rechtsmittel es gibt.
Bei den außerordentlichen Rechtsmitteln können wir zwei zeitliche Dimensionen unterscheiden. "Ex tunc" bedeutet, wenn die Verletzung während des Prozesses passierte. "Ex nunc" ist die Verletzung, wenn etwas nach der Beendigung des Prozesses passierte. Daneben ist noch die Richtung des Rechtsmittels wichtig: ist das Rechtsmittel zugunsten oder zulasten des Angeklagten eingelegt worden.
In dem ungarischen Rechtsmittelsystem können die rechtskräftigen Urteile nur bei schwerwiegenden Rechtsverletzungen, prozessrechtlichen und materiell-rechtlichen Verletzungen vollumfänglich überprüft werden. Demzufolge ist die Korrektur bei der Verletzung der Tatsache durch außerordentliche Rechtsmittel nur "ex nunc" möglich. Wenn der Fehler schon während dem Strafprozess vorgekommen ist, kann es nur durch ordentliche Rechtsmittel beanstandet werden. Die tatsächlichen Fehler der rechtskräftigen Urteilen können nicht korrigiert werden.
Die folgende Tabelle zeigt - abhängig von der zeitlichen Dimension und der Art der Verfahrensverletzungen - die verschieden außerordentlichen Rechtsmittel im ungarischen Strafprozess.
- 232/233 -
Tabelle 2. Das System der außerordentlichen Rechtsmittel
Rechtsverletzungen | Ex tunc | Ex nunc | |||
Tatsache | keine | Wiederaufnahme | |||
Materielles Strafecht | Revision Vereinfachte Revision Rechtsmittel für die Gesetzmäßigkeit (Verfassungsbeschwerde) | Revision Verfahren zur Wahrung der Rechtseinheit | |||
Strafprozess- recht | |||||
Die Wiederaufnahme dient dem Ziel der Erforschung der materiellen Gerechtigkeit. Sie ist nur bei der "Verletzung" der Tatsachen anwendbar, und nur dann, wenn die "Verletzung" nach der Beendigung des Strafverfahrens passiert ist. Die Voraussetzungen der Wiederaufnahme sind: a) neue Tatsachen oder Beweismittel werden beigebracht, die geeignet sind eine geringere Bestrafung oder eine wesentlich andere Entscheidung zu begründen; oder b) die Beweismittel unecht oder verfälscht waren; oder c) die Begnadigung durch den Präsidenten.
Der Wiederaufnahmeprozess hat zwei Teile. Zuerst muss die Begründetheit geprüft werden: das heißt, ob die Voraussetzungen der Wiederaufnahme erfüllt sind oder nicht. Wenn die Begründetheit festgestellt ist, kommt die nächste Phase, die eigentliche Wiederaufnahme des Verfahrens und die Wiederholung der Hauptverhandlung an.
Bei Verletzungen der materiell-rechtlichen und prozessrechtlichen Regelungen kann gegen das rechtkräftige Urteil Revision eingelegt werden. Revisionsgründe sind beispielsweise: die schwerwiegende Verletzung des Strafgesetzbuches; die absoluten prozessrechtlichen Verletzungen; wenn der EGMR eine Verletzung der EMRK festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht; oder wenn das Verfassungsgericht die im Strafverfahren angewandte Rechtsnorm für verfassungswidrig erklärt.
Das Verfahren läuft vor dem Obersten Gerichtshof. Es gibt keine Beweisaufnahme.
- 233/234 -
Die vereinfachte Revision ist nicht wirklich ein "außerordentliches" Rechtsmittel. In diesem Verfahren können nur die materiell-rechtlichen Verletzungen des rechtskräftigen Urteils korrigiert werden. Diese Verletzungen beeinträchtigen aber nicht die Hauptfragen des Strafverfahrens (die strafrechtliche Verantwortlichkeit, die Schuldfrage oder die Sanktionen).
In diesem Verfahren kann es keinen Durchbruch der materiellen Rechtskraft geben, sondern nur die Rechtmäßigkeit der "Zusatzfragen" kann korrigiert werden. Die vereinfachte Revision kann zum Beispiel beantragt werden, wenn das Gericht über die Verfahrenskosten nicht oder nicht rechtmäßig entschied.
Dieses nicht typische außerordentliche Rechtsmittel ist subsidiär, was bedeutet, dass das Verfahren nur dann beantragt werden kann, wenn die Anwendung anderer Rechtsmittel nicht möglich ist. Weitere Voraussetzung ist, dass es nur bei Verletzung der Gesetze anwendbar ist. Ausschließlich der Generalstaatsanwalt kann dieses Verfahren beantragen (natürlich kann es der Verteidiger oder der Angeklagte dem Generalstaatsanwalt vorschlagen), und darüber wird der Oberste Gerichtshof entscheiden.
Dieses Verfahren dient auch dem Prinzip "favor defensionis", weil das Urteil nur zugunsten des Angeklagten geändert werden kann, also nur der Freispruch oder die Einstellung des Verfahrens erwirkt werden können. Wenn das Urteil zum Nachteil des Angeklagten geändert werden sollte, wird der Oberste Gerichtshof nur die Verletzung des Gesetzes feststellen, sonst das Urteil bleibt unverändert.
Das Ziel des Verfahrens zur Wahrung der Rechtseinheit ist die Vereinheitlichung und Orientierung/Weiterentwicklung der Rechtsprechung. Dieses Verfahren kann nur von bestimmten Personen (z.B. Präsident des Obersten Gerichtshofs, Generalstaatsanwalt, Strafkammer des Obersten Gerichtshofs) beantragt werden.
Das Verfahren kann beantragt werden, wenn es erforderlich ist, eine Entscheidung, die die Rechtspraxis in grundlegenden Fragen beeinflussen kann, zu treffen, um die Rechtsprechung weiterzuentwickeln oder eine einheitliche Rechtsprechung zu gewährleisten. Diese Entscheidungen sind für die Gerichte bindend. Dieses Verfahren kann zudem in solchen Fällen beantragt werden, wenn eine Strafkammer des Obersten Gerichtshofs von dieser "einheitlichen" Entscheidung abweichen will.
Grundsätzlich handelt es sich bei diesem Verfahren um eine Entscheidung über eine Grundfrage und es dient zur Orientierung der Rechtsprechung aber hat keine Auswirkung auf Einzelfälle. Es ist eine Ausnahme, wenn aus der Entscheidung der
- 234/235 -
Freispruch des Angeklagten oder die Einstellung des Verfahrens folgt. Der Oberste Gerichtshof kann im Einzelfall solche Entscheidungen treffen. Diese Regelung ist auch eine Ausprägung des Prinzips "favor defensionis".
Zuerst möchte ich mit den folgenden Tabellen illustrieren wieviel Prozent der strafrechtlichen Fälle in der ersten Instanz rechtskräftig werden und wie hoch die Anzahl der mit den Rechtsmitteln beeinträchtigten Fälle ist.
Tabelle 3. Zahl der rechtskräftigen Urteile
Instanz | Gericht | 2019. I. | 2020. I. | 2021. I. | 2022. I. |
I.[9] | Amtsgericht | 76,3 | 74,2 | 73,9 | 71 |
Landgericht[10] | 48 | 49,4 | 49,8 | 42,6 | |
II. | Landgericht | 98,2 | 98 | 97,7 | 97,9 |
Aus der Tabelle folgt, dass mehr als 70 Prozent der Entscheidungen in erster Instanz rechtskräftig werden. In zweiter Instanz liegt diese Nummer bei circa 98 Prozent. Daraus folgt, dass nicht mehr als 1 Prozent der Fälle in dritter Instanz verfolgt werden können. Eine Erklärung dafür mag natürlich die begrenzte Möglichkeit der zweiten Berufung sein. Anderseits können diese Daten auch mit den Zielsetzungen und Tendenzen erklärt werden - im ungarischen Strafprozess ist der Zweck des Strafverfahrens die Erforschung der materiellen Gerechtigkeit. Allerdings deuten die neuen Beweisregeln im Strafverfahrensgesetz in Richtung der "strafverfahrensrechtlichen" Gerechtigkeit. Eine solche Beweisregel ist zum Beispiel: was der Staatsanwalt, der Angeklagte und der Verteidiger für die Wahrheit halten braucht nicht zu bewiesen werden. Diese Regelung steht eindeutig der materiellen Gerechtigkeit entgegen.
Das Rechtsmittelsystem dient durch die Möglichkeit der Korrektur von Verfahrensverletzungen einerseits der materiellen Gerechtigkeit. Anderseits kann aber nicht jede Verletzung korrigiert werden, was der Rechtssicherheit dient, da das Verfahren innerhalb eines bestimmten Zeitraums beendet werden muss. Die Rechtssicherheit ist
- 235/236 -
Kerngehalt des Rechtsstaatsprinzips, aber die materielle Gerechtigkeit ist ebenfalls eine Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit.
Nach der Darstellung des ungarischen Rechtsmittelsystems kann man sich die Frage stellen, ob dieses komplizierte Rechtsmittelsystem im Interesse der materiellen Gerechtigkeit noch gerechtfertigt ist. ■
ANMERKUNGEN
[1] Vom 22. November 1984.
[2] In diesem Zusammenhang stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass die Rechtsmittel auf der Grundlage von Artikel 2 des Zusatzprotokolls Nr. 7 EMRK geprüft werden könnten, wenn das Verfahren einen strafrechtlichen Charakter hätte, und nicht Artikel 13 Grundlage für die Prüfung ist. Ravnsborg v. Sweden, den 23. März 1994., no. 14220/88.
[3] Kopczynski v. Poland, den 1. Juli 1998., no. 28863/95; Csepyová v. Slovakia, den 14. Mai 2002., no. 67199/01.
[4] Hubner v. Austria, den 31. August 1999., no. 34311/96.
[5] Kakabadze and Others v. Georgia, den 2. Oktober 2012., no. 1484/07; Galstyan v. Armenia, den 15. November 2007., no. 26986/03.
[6] Der Gerichtshof stellte fest, dass ein Verstoß gegen die Konvention vorlag, wenn über die Berufung eines verurteilten Angeklagten nach Vervollständigung seines Urteils entschieden wurde, was nach Auffassung des Gerichts keine wirksame Berufung darstellte. Shvydka v. Ukraine, den 30. Oktober 2014., no. 17888/12; Tsvetkova and others v. Russia, den 10. April 2018., no. 54381/08; Martynyuk v. Russia, 2019. október 8., no. 13764/15. Der Gerichtshofstellte jedoch keinen Verstoß gegen die Konvention fest, wenn die Vollstreckung der verurteilten Person angeordnet wurde, weil die verurteilte Person Ausländer war und keinen Wohnsitz in dem Land hatte, in dem sie verfolgt wurde. Firat v. Greece, den 9. November 2017., no. 46005/11.
[7] Was eine geringfügige Straftat darstellt, sollte allgemein und nicht von Fall zu Fall definiert werden. Daraus folgt, dass nicht die gegen den Einzelnen verhängte Sanktion entscheidend ist, sondern die in dem Strafgesetzbuch festgestellte Strafe für die dem Verfahren zugrundeliegende Handlung. Ein sehr wichtiges Kriterium ist, ob eine Tat mit Gefängnisstrafe bestraft werden kann oder nicht. Die Bewertung der Schwere der Geldstrafe ist von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat sehr unterschiedlich. Grecu v. Romania, den 30. November 2006., no. 75161/01.
[8] Das Gesetz Nr. XC. von 2017 über das Strafverfahren.
[9] In erster Instanz entscheidet allgemein das Amtsgericht, aber in im Gesetz bestimmten Fällen (z.B. schweren Straftaten) entscheidet das höhere Landgericht.
[10] Bei der Anzahl muss beachtet werden, dass die Zahl der Verfahren, wo das Landgericht in erster Instanz entscheidet, sehr gering ist. Die Prozentangaben sind hier nur für die Beachtung der Tendenz geeignet.
Lábjegyzetek:
[1] Der Autor ist (PhD) is assistant professor at University of Eötvös Loránd, Faculty of Law, Department of Criminal Procedures and Correction.
Visszaugrás