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Zsidai Ágnes[1]: Der 'freidenkende Christ'[1] (GI, 2019/3-4., 91-109. o.)

Bibó und der Protestantismus

Wer war Stephan Bibó?

In der ungarischen öffentlichen Meinung lebt Stephan Bibó vor allem als Staatsminister der Regierung von Imre Nagy, als ein Held der Revolution von 1956, der während der sowjetischen Invasion allein im Parlamentsgebäude blieb, und eine Verhandlungslösung der ungarischen Frage formulierte. Als Gelehrter - es ist verständlich - war er öffentlich wenig bekannt.

Seine gesellschaftstheoretischen, geschichtssoziologischen, politologischen, sozialpsychologischen Schriften standen während des späten Kádár-Sozialismus der Opposition nur durch westliche Vermittlung und nur in Form von Samisdat zur Verfügung. Seine Arbeiten in Ungarn begannen erst nach seinem Tod an der Schwelle des Systemwechsels zu veröffentlichen, und eröffneten die Gelegenheit für professionelle Analysen und Debatten.

Warum war die bibóische Denk-und Schriftenweise einzigartig? Einerseits wegen seines Inhalts, anderseits wegen seiner ,Botschaft'. Bibó beschäftigte sich mit der Diagnose seiner Zeit, - die voll mit extremen Wendungen beladen war -, der Hysterie der Nationen, dem Elend der Marginalisierten, mit der Natur, Bezähmung und Humanisierung der Macht, mit den Bedingungen der Entwicklung eines ausgewogenen Gemeinschaftslebens. Er tat dies paradoxerweise auf realistisch-naive Weise - aber jedenfalls moralisierend. Als Grundprinzip führte ihn die Moral in der Privatsphäre, in der Wissenschaft und im gemeinschaftlichen Handeln.

Das vielseitige, aber zwangsmäßig Torso-Oeuvre wird durch die überwältigend humane, freiheitliebende Persönlichkeit und menschliche Haltung zusammengehalten. Stephan Bibó wurde zur Symbolfigur der unaufhörlichen Wahrheits- und Kompromisssuche für Wissenschaftlern und Laien, Politikern und Zivilisten, Gläubigen und Atheisten, für Ungarn in Inland und Ausland.

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Seine Kritiker konzentrieren sich oft nur auf eine Seite seines Werkes, aber es gibt einige, die die Synthese des westlichen Liberalismus, des traditionsbewussten Konservatismus und des völkisch-demokratischen Radikalismus (Sozialismus) in ihm sehen. Unter ihnen ist vielleicht die zusammenfassende Bewertung von Péter Kende Politologe der beruflichen und moralischen Qualität von Bibó am nächsten, wenn er sagt: "Stephan Bibó war im Grunde ein christlicher Denker und erkannte die Bedeutung der europäischen Zivilisation, sich allmählich den Lehren in der Lehre Christi zu nähern. Diese ökumenisch-christliche, historische Herangehensweise an den hl. Augustinus und an Luther ermöglicht es, die vormodernen moralischen Werte mit den liberalen Vorstellungen von institutioneller Freiheit zu vereinen, und zugleich mit einem politischen Radikalismus um die gleiche Würde der Menschen - aller Menschen - zu verbinden."[2]

Obwohl Bibós explizit religiöser Text nur etwa ein halbes hundert Seiten umfasst, er hat eine einheitliche Weltanschauung, ein interpretatives Schema, in dem die Beziehung zwischen den Tatsachen der Geschichte, dem Zwang und der Freiheit, dem Individuum und der Gemeinschaft angeordnet ist. Das ist das Christentum, genauer: die protestantische Moral.[3]

Es ist wissenssoziologische und hermeneutische Klischee, dass auch nicht einzelnes Werk von der Persönlichkeit, Weltanschauung des Schöpfers, sowie von der gesellschaftlichen und ideengeschichtlichen Situation der Epoche unabgehangen werden kann. Wegen entweder der Identifikation, oder der Verleugnung, aber die Gründe leiten jedoch zu den Anfängen. Im Folgenden möchte ich die inhaltliche und spezifische Gestaltung der christlich-protestantischen Geistigkeit im Zusammenhang mit dem bibóischen Lebensweg zu traktieren.

1. Anfängen

Bibó wurde in Jahre 1911 in Budapest geboren. Er wurde nach seinem Vater protestantisch, seine Schwester nach der Mutter katholisch getauft. Die Fa-

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milie spielte eine entscheidende Rolle in seiner Persönlichkeitsentwicklung. Auf dem väterlichen Zweig gibt es reformierte Adlige, die in die intellektuelle Karriere eintreten. Sein Vater war Beamter und dann der Direktor der Universitätsbibliothek in Szeged. Er mochte den Bürokratismus nicht, in Bezug auf seine politische Position war er leidenschaftlich unabhängig. Seine Mutter war sozial äußerst sensibel und wahrheitsliebend.[4]

In seiner sog. Neuen-Grundschule wurde der junger Bibó als Schüler geschrieben, der "stark und konsequent in seiner Kraft, lebt für die Gemeinschaft in seinem ethischen und moralischen Glaubensbekenntnis, und kann die intuitive Kräfte des Erkenntnisses in seinem Verstand anwenden."[5] In 1928 wurde ein kleiner Aufsatz von ihm in den ,Kirchen Nachrichten' zum 400. Jahrestag der Reformation mit dem Titel: Was hat die Reformation für die Menschheit bedeutet? veröffentlicht.[6] Der 17-jährige Gymnasiast untersucht leidenschaftlich und mit wissenschaftlicher Gründlichkeit die Grundgedanken der Reformation. Er betrachtet die Rückkehr zur Grundlage des Evangeliums als einen Ausgangspunkt, was bedeutet nicht nur die Heiligen Schrift wieder in die alten Rechte einzuführen, sondern auch die biblischen Übersetzungen den Armen zu vermitteln. Bibó trägt als Motto auch eine andere These der Reformation bei: "die freie Suche nach der Wahrheit anstelle der Gebundenheit der Dogmen", infolgedessen die menschliche und geistliche Welt sowie die Wissenschaft von der 'Gebundenheit unernsthafter Traditionen' befreit seien. Dieser Gedanke erinnert uns unvermeidbar auch in seiner Unentfaltung an die Formulierung von Max Weber über die Entzauberung der Welt.[7]

Im Vergleich zum mittelalterlichen und dem universalistischen Kollektivismus des Kommunismus soll der Mensch der Reformation ein Individuum sein. Zum Erreichen des Heiles braucht man keine magische Zeremonie mehr, sondern die ständige Selbstkontrolle. Dadurch formt sich die - von Weber auch in der Protestantischen Ethik charakterisierte - "einzigartige Zuverläs-

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sigkeit, Bestimmtheit und Charakterfestigkeit" des reformierten Menschen.[8] Und nicht zuletzt betont Bibó den Übertritt zu der 'wirkenden Glaube' statt der 'beschauliche Frömmigkeit'. Im Gegensatz zur isolierenden, einsamen Ausübung des Glaubens im Mittelalter legt der Mensch der Reformation ein Zeugnis mit seinem Beruf[9] vor sich selbst und vor der Welt ab. Die universelle Bedeutsamkeit der Reformation kann man mit einem Wort ausdrücken: Wiedergeburt. Reformation "bedeutet Erneuerung im Glauben, im religiösen Leben, in der Weltsicht"[10]- fasst die Worte der junge Bibó zusammen. In der Folge geht seine These über ,Protestantismus und die gesellschaftsgestaltende Rolle des für seinen Beruf lebenden Bürgers' durch seines Lebenswerk.

Bibó hat in Szeged Jura studiert, besuchte aber auch philosophische und literarische Studien. Erheblichen Einfluss übt die protestantische Philosophen und Theologen dichtende sog. Siebenbürgische Schule auf ihn aus. Zu diesem Kreis hat auch László Ravasz, reformierter Bischof, Bibós späterer Schwiegervater gehört. An der Universität hielt er den Rechtsphilosophen Barna Horváth für seinen Meister, aber als Stipendiat begegnete er auch Wissenschaftlern wie Hans Kelsen, Alfred Verdross, Adolf Merkl, Felix Kaufmann, Paul Guggenheim, Maurice Bourquin, oder Guglielmo Ferrero. Er ist erst 22 Jahre alt, als seine erste große rechtstheoretische Arbeit unter dem Titel: Zwang, Recht, Freiheit[11] veröffentlicht wird, in der er Horváths prozessuale, synoptische Rechtssoziologie weiterentwickelte. Nach seiner Freiheitsauffassung bleibt der Freiheit immer eine Möglichkeit der Wahl, auch in den extremsten Situationen. Er besagte auch das Erfordernis der moralischen Legitimation der Macht und den Glauben an konsensualen Durchsetzung der Ordnung und Gerechtigkeit.[12] Dieses Gefühl wird dann zum zentralen Begriff der bibóischen sog. Humanisierten Macht.

Das Jahr 1935 - nach seinem Aufenthalt in Genf und Paris - bedeutet für Bibó eine entscheidende Wende. "Hier (in Ungarn - Á. Zs.) wird ein

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ehrlicher Mensch entweder zum Politiker, oder verlässt das Land."[13] - schreibt er in einem seiner Briefe. Er engagiert sich in der linksorientierten völkischdemokratischen Politik und schreibt in Jahren 1938-40 die immer wieder aktuelle Offenbarung der sog. Zehn Gebote der freiheitsliebenden Menschen.[14] Während des zweiten Weltkrieges arbeitet er in Justizministerium, und unterrichtet Politikwissenschaft an der Universität von Klausenburg. In seiner Arbeit wird seine Kapitalismuskritik immer ausgeprägter.

2. Der protestantische Mensch

Max Weber zufolge hätte der moderne, rationale Kapitalismus nicht ohne den 'Bürger des protestantischen Ethos' entstanden werden können. Damit behauptet Weber nicht, dass es keinen anderen Kapitalismus geben würde, oder dass die kapitalistische Wirtschaft nur durch die protestantische Ethik in Europa und in der Neuen Welt geschaffen worden wäre. Der Geist des klassischen modernen Kapitalismus musste jedoch die traditionelle Geistigkeit des Feudalismus und seiner katholischen Normen überwinden. "Nach dem bürgerlichen Wertsystem - so Bibó - ist der Reichtum die Belohnung der Arbeit und die Aufgabe des Besitzers ist - auf dem Grund christlicher Parabel der Talenten - das Wirtschaften mit ihm anvertrauten Gütern. Dadurch wurde die kirchliche und ständischen Krise der Werte im Mittealter behandelt, aber das gab eine Anleitung "nur für die Mittel-und Kleinbürgerschaft in Bezug auf ihre Lebensform [...] und nur in solcher glücklichen gesellschaftswirtschaftlichen Lage, wo der Überreichtum der Gesellschaft keine endlosen Kontroversen geschaffen hat, aber die Kapitalbeschaffung für jeden Durchschnittsarbeiter, der arbeiten will, auch wenn er am Anfang überhaupt nichts hat, ist offen."[15] In seiner Studie mit dem Titel Das Geld (1942) bezeichnet Bibó das Geld theoretisch als eines der erstaunlichsten Handlungsmittel der menschlichen Freiheit, aber sein Wert hängt davon ab, wie es unter den Menschen verteilt ist, und wie das Individuum damit lebt. Das Geld ist im Spätkapitalismus jedoch kein Mittel der freien Chancen mehr, sondern es wurde zum 'Wertesymbol' für sich selbst, zu einer Wertillusion. Es wird das Gegenteil von 'großem Vermögen' und 'Pauperismus', der spekulativer Erwerb gebildet. Das Wertsytem des Sozialismus kämpt gegen die "ruinierten Reste der mit-

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telalterlichen feudalen und neuzeitliche-bürgerliche Werte"[16], aber solche neue Gemeinschaftsideen sind auch entstanden, wie der Faschismus und Nationalsozialismus. Sie bieten nun keine Lösung, aber machen die Aufmerksamkeit auf die Ordnung und Werte der Gemeinschaft. Obwohl im Zeitalter herrscht anorganische Verwirrung, trotzdem wäre es nicht unmöglich, ein lebensfähiges Wertesystem aus der Legierung der christlich-mittelalterlichen, kapitalistisch-bürgerlichen, sozialistischen und neuen Gemeinschaftsgedanken schaffen, die von hinsterbenden und doktrinären Elementen gereinigt sind."[17] In dieser Situation sieht Bibó in seinem Aufsatz mit dem Titel Die Elite und soziales Gefühl (1942) das Verhalten der führenden Schichten der Gesellschaft, der Elite, als Vorbildführer, unverzichtbar.[18]

3. Das Erscheinen der Diagnose als Gattung im bibóischen Lebenswerk

Bibós Kritik an seiner Zeit, seine Philosophie der Krise ist mit einem Konzept sog. streitbarer Demokratie verbunden, in dem das Christentum von Bibó eine neue Perspektive bekommt. Im Jahr 1943 schreibt er - sonst mit gleichnamigem Titel - eine Rezension über Karl Mannheims Essaybund: Diagnose unserer Zeit.[19]

Die Sozialdiagnosen - oder mit anderen Worten: Zeitdiagnosen - mit normativem Inhalt als Gattung in expliziter Form erschienen im 20. Jahrhundert, dann nach dem Zweiten Weltkrieg wurden erneut 'modisch'. (Im weiteren Sinne sind sie natürlich von Platon bis zum Christentum und durch Vertragstheorien zum Marxismus und so weiter überall auffindbar.) Sie versuchen herauszufinden, ob es ein 'Muster' in der Entwicklung (Kultur) gibt, das die Handlungen von Menschen in unterschiedlichen Zeiten miteinander verbinden könnte.[20] Die Vergangenheitsanschauung und Interpretation der Analysen gehen aus der Gegenwart aus: sie erforschen die Wurzeln des gegenwärtigen Zustandes in der Vergangenheit, weiterhin ob einen Beweggrund gibt, dessen Kontinuität eine Chance und ein Potential für eine 'schönere Zukunft' bedeutet.

Obwohl die Diagnosen bestrebt sind, eine 'komplexe' Gesellschaft zu beschreiben - und nicht irgendein Teilsystem -, sie wurden auf der mittleren Abstrak-

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tionsebene, zwischen der Fallbeschreibung und der allgemeinen Sozialtheorie, der Deskriptivität und der Theorie ausgearbeitet.[21] Die Dramatisierung der Entwicklung ist mit einem spekulativen Element[22], der Therapie der aufgedeckten Krankheiten der Gesellschaft, einer Verbesserungsabsicht zusammengeknüft. Diese Diagnosen müssen von den wissenschaftlichen soziologischen Theorien unterschieden werden, während wissenschaftliche Theorien sich an die fachlichen Diskussionen richten, die Zeitdiagnose an die breite Öffentlichket und Debatten.

Das Thema der Mannheimer sieben Vorlesungen ist die Krise der sozialen Bewertung, der Gemeinschaftserziehung und die Ausgangsmöglichkeit aus ihr. Nach Bibó liegt das Verdienst des Buches nicht in seinem wissenschaftlichen Bestreben, sondern in der "tiefen und praktischen Wahrnehmung der europäischen Werten und der ermutigenden Umrisse der Entfaltung"[23]. Seine Rezension ist wesentlichen beschreibend-deskriptiver Natur, - es ist fast nicht möglich, die Grenze zwischen Mannheim und Bibó zu ziehen.

Mannheim dramatisiert die allgemeinen Turbulenzen sowohl in den einzelnen menschlichen Praktiken, als auch im Gemeinschaftsleben der Zeit. Es gibt Verwirrung in den Werten von gesundem Egoismus und sozialem Dienst, Arbeit und Freizeit, in den moralischen Regeln von Traditionalismus und Rationalismus, Freiheit und Disziplin, auf dem Gebiet der Geschlechterrollen. Im Vorkapitalismus wurde die weitgehend einheitliche religiöse, soziale und politische Autorität durch eine Vielzahl von Autoritäten ersetzt. Die traditionellen Argumentationen der Autorität (Vorfahren, Bezug auf Gott) wurden durch neue Validierungsmethoden (Rationalität, Nützlichkeit, Glauben an den Führer, Klassenkampf usw.) ersetzt, es gibt kein allgemein anerkanntes Wertesystem, niemand ist für irgendetwas verantwortlich. Die moderne Mittel - wie die Propaganda, das Lernen, der Kinderschutz, die Psychologie usw. - arbeiten Seite an Seite und dagegen. Laut Mannheim besteht aber eine Konkordanz darin, 'nicht gut' in einer solchen Gesellschaft zu leben, deren Normen unklar und unberechenbar sind. Dieser Gedanke wird ergänzt durch Bibó: "Weder der menschliche Körper, noch die menschliche Seele können die völlige Unsicherheit, die absolute Freiheit der Wahl, die unendliche Vielfalt nicht ertragen, aber sie brauchen ein Mindestmaß an Einheitlichkeit und Kontinuität in den grundlegenden Fragen..."[24]

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Aber: woran liegen die Gründe für den Zusammenbruch des Mittelalters? - stellen Mannheim und Bibó die Frage auf. Die kirchlichen Institutionen zerstreuten den Glauben, es wurde zu formal, die Zusammenarbeit der Kirche mit den herrschenden Klassen führte zu Misstrauen. Eines der Symptome ist sich von den endgültigen Werten zu lösen, ist das Verschwinden paradigmatischer Erfahrungen, Archetypen der mittelalterlichen christlichen Welt, wie "der Held, der Weise, die Jungfrau, der Heilige, der Büßer, die Taufe, die Erlösung, die Eucharistie, der Gute Hirte, das Kreuz, der Erlöser"[25], die in der Lage waren, gemeinschaftliche Rollen und dramatische Knoten zu zeigen. Ohne diese ist das menschliche Verhalten bloße Anpassung, die nützlich und wirksam sein kann, aber wir können nicht wissen, was sein Zweck ist.

"Die christliche Tradition, die auf der Idee der Liebe und universellen Brüderlichkeit basiert, die aufgeklärte-liberale Methode der Wertschätzung - basierend auf den Ideen der Freiheit, der freien Persönlichkeit, des Wohlstands, der Sicherheit, des Glücks, der Geduld und der Nächstenliebe -, weiterhin der Sozialismus, der die Gleichheit, die gesellschaftliche Gerechtigkeit, die universale, soziale Sicherheit und die planmäßige Gesellschaftsordnung verkündet, waren immer noch miteinander in einem organischen Kontext."[26] Der Zerfall wurde lange Zeit unübersehbar, wurde nur von dem radikalen Moral des Faschismus (Fruchtbarkeit, Rasse, Macht, Eroberung, blinder Gehorsam) bewusst gemacht.

In den modernen Massengesellschaften muss gefordert werden, die sozialen Wirkungen der Handlungen des Einzelnen zu messen und in Kenntnis dieser Verantwortungsethik zu handeln. Mannheims Analyse wechselt sich an diesem Punkt zu Spekulationen über. Die Wertneutralität und Formalität des Liberalismus (Gesinnungsethik) und die unerträgliche Kontrolle totalitärer Gesellschaften - einschließlich der Nationalsozialismus und der Bolschewismus -, müssen überschritten werden. Die 'Planung für die Freiheit' erfordert die Etablierung eines Dritten Weges, die Schaffung einer neuen sog. streitbaren Demokratie. "Es stellt sich wieder einmal heraus, dass all dies religiöse Integrationskraft erfordert."[27] Es ist ein klares antifaschistisches, antikommunistisches und antikapitalistisches Program zu einer echten dezentralisierten Demokratie. Sollte diese Demokratie nicht erreicht werden, so könnte der Ausbruch des Dritten Weltkriegs drohen - schreibt Bibó am Ende der Analyse.

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Mannheim sieht aber, dass die traditionelle christliche Ethik in der Massengesellschaft nicht die integrierende Kraft liefern kann. "Wenn wir also wollen, dass das soziale Leben wieder mit der Macht der Religion transformiert wird und diese Kräfte christlicher Natur sind, dann ist es nur möglich, wenn diejenigen, die die christliche Tradition repräsentieren, sich nicht mit den gewöhnlichen oder institutionellen Formen der Religion begnügen, sondern fähig sind, in die grundlegenden Ressourcen der ultimativen religiösen Erfahrung im Christentum einzutauchen."[28]

Aber woran liegen die äußersten, tiefsten Erfahrungen des Lebens (basic experience of life)? In der Erbsünde, in der Erlösung, in der befreienden und schöpferischen Kraft der Liebe oder im Kreuz, im tieferen Sinn des Leidens? Dies kann argumentiert werden, aber selbst dann sind sie die ultimativen Wurzeln, die neu interpretiert werden müssen, um das richtige Verhalten in unserer eigenen Zeit zu finden. Im Lichte der christlichen Wahrheit müssen wir die Entfernungen der ökonomischen Organisationsformen, die Pläne für die politische und soziale Struktur der Gesellschaft abwägen. Wir müssen uminterpretieren, was unsere moralischen Werte bedeuten, unsere Konzepte, wie 'Überleben', 'Askese', ,Einsamkeit', 'Massenerfahrung'.

Die säkularisierte Wissenschaft - also die Soziologie - kann Antworten auf die gesellschaftlichen Probleme, auf die endgültigen Auswirkungen sozialer Prozesse bis auf einen Punkt geben. Sie kann die Notwendigkeit eines Konsenses für Grundwerte demonstrieren, die unter anderem in den Bereichen Bildung, Erwachsenenbildung, Sozialarbeit, Jugendgerichtsbarkeit, Bildungsberatungsinstitute und Elternbildung unterstützt werden können. Aber ein Umdenken zu ultimativen Werten ist bereits die Aufgabe des Theologen. Nach Mannheim spielt die protestantische Tradition eine herausregende Rolle in diesem Prozess, weil sie die individuelle Freiheit und Selbstbestimmung, die freiwillige Zusammenarbeit, die Eigenständigkeit und die gegenseitige Unterstützung betont.

Es ist notwendig, den handelnden Menschen gleichzeitig vor dem Zerfall zu bewahren - und Experimente zuzulassen -, um sich an die veränderte Situation anzupassen. Zu dieser Zeit liegt der moralische Standpunkt weder in abstrakten Regeln, noch in einem konkreten Befehl, sondern liegt in der Übertragung der 'Intention Christi' auf eine gegebene Situation. Im diesem Gebiet sollte das theologische Denken und soziologische Wissen stärker in Einklang gebracht werden.

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4. Der 'reif-zusammenfassende' Bibó

4.1. Bibó und die 'Volksdemokratie'

In den Jahren 1943-1944 schrieb Bibó vielleicht sein wichtigstes Werk, das sog. Buch der Friedensschaffenden. Es wurde mit dem Titel Über das europäische Gleichgewicht und den Frieden[29], kurz nach seinem Tod veröffentlicht. Dieses ist die sog. 'Urei', bibóische Topos, in dem der Gelehrte die europäische Geschichte zwischen den beiden Polen des politischen Gleichgewichts und der politischen Hysterie erforscht. Seine historische und politisch-theologische Methoden kombiniert er mit einer besonderen, sozialpsychologischen Sichtweise.

Nach dem Krieg beteiligt sich István Bibó aktiv an der Reorganisation der öffentlichen Verwaltung in Ungarn, aber nach der Monopolisierung der Macht durch die Kommunisten, politischen Säuberungsaktionen, Aussiedelungen verließ er das Innenministerium. Im Jahr 1945 verursachte seine Schrift über Die Krise der ungarischen Demokratie[30] eine große Diskussion. Parallel zur internen Abkehr von der öffentlichen Verwaltung und der Rechtswissenschaft geht er in Richtung der Politikwissenschaft. Im Jahr 1946 erhielt er einen Lehrstuhl in Szeged.

Unter Betonung des christlichen Denkens diskutiert seine akademische Antrittsrede mit dem Titel Die Trennung der Staatsmächte von damals und heute (1947)[31] über die Notwendigkeit der moralischen Legitimität der Macht, die Umwandlung der Staatsmacht in den Dienst für seine Bürger, in eine moralische Aufgabe.

Auch in der Koalitionsperiode wurden seine bedeutendsten und aufschlussreichsten politischen Essays veröffentlicht: Das Elend der kleinen Staaten Osteuropas (1946)[32], die verzerrte ungarische Gestaltung, sackgassenartige ungarische Geschichte (1948)[33], die Judenfrage in Ungarn nach 1944 (1948)[34]

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veröffentlicht. Diese Schriften reifen 'die Urei' weiter: die lähmende Wirkung der Demokratiedefizit, der Beklemmung vor Angst, des Mangels an Freiheit. Die Ausrottung der Demokratie, Freiheit und der Rechtmäßigkeit hatte dann erhebliche Auswirkungen auf Bibós persönliches, existentielles und wissenschaftliches Schicksal. Man wollte ihn pensionieren, aber der 39-jährigen Gelehrte und Offizier mochte lieber eine Stelle in der Universitätsbibliothek von Budapest bekommen. Nach der Revolution von 1956, nach der 'Tatrede'[35], wurde er zur lebenslangen Haft und Vermögenskonfiskation verurteilt. Er wurde in 1963 durch Amnestie freigelassen und dann ins Zentrale Statistische Amt versetzt, wo er bis 1971 arbeitete. Er hält sich fern vom wissenschaftlichen und öffentlichen Leben: seine Studien blieben unveröffentlicht.

4.2. Uchronie

Nach seiner Befreiung aus dem Gefängnis wandte sich Bibó häufiger als bisher den theologischen Fragen zu. Wahrscheinlich seine langjährige Idee war die sog. Uchronie von 1968 zu schreiben. (Vollständiger Titel: Wenn die synodale Bewegung im 15. Jahrhundert gewonnen hätte... Die Gespräche des Kanonikers in Vác, Stephan Bibó, mit seinem Schwiegervater, László Ravasz, Kardinal-Erzbischof über die römisch-katholischen Kirche, insbesondere lutherische und calvinistische Gemeinden. Kirchen- kultur- und politikgeschichtliche Uchronie).[36] Aus Gattungsperspektive bedeutet die Studie einen Bruch mit der gesellschaftlichen Diagnose, aber wir könnten sie eine negative Diagnose nennen. Ein Gedankenspiel, schlechterdings utopisch, besser gesagt: uchronisch. Während die Utopie ein nicht-existierender Ort ist, heißt die U-chronie eine nicht-existierende Zeitreihe. Alternative Sozialgeschichte, die sich von der wissenschaftlichen Zukunftsgeschichte (science fiction) unterscheiden sollte, und deren Grundlage sind schlechthin unhistorisch.

Die Idee von Arnold J. Toynbee wurde von Bibó übernommen. Das Wesen des Denkprozesses von Uchronia besteht darin: was wäre passiert, wenn das

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Papsttum während des Konzils in Basel (der angeblichen Kooperation von Erasmus-Contarini-Melanchthon) unterdrückt worden wäre, das Synodenprinzip triumphiert worden wäre, die Kirche demokratisch organisiert worden wäre.

Man erkennt dann, dass die Einheit nur von einer latitudinalen, mehreren Positionen erlaubenden Grundstellung erstellt werden kann. Nehmen wir an: die katholische Kirche schließt sich der östlichen Orthodoxie an, als Fortsetzung dessen wurden in 16. Jahrhundert auch die von Luther und dann Calvin gegründeten Gemeinden aufgenommen. Dieses tolerante Verhalten wird von die Kirche später mit den Lehren von Kopernikus und Darwin beibehalten. Die Einheit der Kirche wird gerettet, die Demokratisierung des Presbyteriums der Kirche wird ein Vorbild für säkularistische Verfassungsbewegungen sein. Der aufgeklärte Absolutismus blieb aus, unter der Führung des Papstes wird die italienische Einheit geboren, Europa und die Araber vereinen, die Türken auszutreiben. Im Laufe des Vatikanischen Konzils im Jahre 1870 verzichtet der Papst freiwillig auf weltliche Macht und auch die theologische Unfehlbarkeit, die gehört danach zur Kirche. Die politische Unfehlbarkeit kommt dem Papst, aber nur dem Konzil unterliegt. Es wird auch erklärt, dass der Heilige Geist die Kirche nicht verlässt.

Die modernen Freiheitsrechte wachsen organisch aus mittelalterlichen Freiheiten. Die Kirche dient als Rahmen des gesamten europäischen Geisteslebens: der Aufklärung, modernen Wissenschaft, Humanität, Demokratie, des Liberalismus und Sozialismus. Als Ergebnis der oben genannten gestaltet sich in Urchronie auch die Geschichte des 20. Jahrhunderts anders: die Weltkriege, der Holocaust bleiben aus (obwohl fünf oder sechs Menschen Opfer des Antisemitismus in Deutschland sind), und die Atombombe wird nicht geworfen.

Es ist eine umgekehrte Welt. Hier sind John Locke und Montesquieu Kardinäle, Rousseau ist ein Abt, Danton ist Kanoniker. Pater Karl Marx schreibt in 1848 eine soziale päpstliche Enzyklika: 'Ein Gespenst geht um in Europa' ('Spectrum pervadit Europam'). Ulyanov - alias Lenin - und Jugashvili (Stalin), Chruschtschow sind Kardinäle.

Wie der lange Titel der Schrift setzt Bibó die Fiktion 1963[37] in den Rahmen einer Debatte zwischen sich selbst als ein imaginärem Kanoniker und seinem Schwiegervater László Ravasz (1882-1975) als Kardinal-Erzbischof, der in der Wirklichkeit ein protestantischer Bischof war. Wie im 16. Jahrhundert, steht die Kirche noch immer an einem Scheideweg, aber jetzt geht es um das sog. 'Freidenken' und den Sozialismus. Das Bild wird durch die Tatsache gefärbt,

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dass Bibó diese Arbeit in 1968 schrieb, als die sowjetischen Truppen in Prag einmarschierten, in dem wurden die Studentenbewegungen in Westen untergedrückt. "Das Jahr der Hoffnung und Enttäuschung ist dieses. [...] Was hat sich hierher geführt? Gab es auch eine andere historische Gelegenheit? "- wird die Frage aufgestellt.[38]

Bibó klagt seinen Schwiegervater des Konservatismus an, aber Ravasz "erklärt, dass er in seiner pädagogischen Arbeit nie den geringsten Zweifel daran gelassen hat, dass er kein Fundamentalist ist, dass er das Wunder nicht für ein wesentliches Element des christlichen Glaubens hält. Er hält an der Lehre der Kirche fest, dass die Dogmen nicht absolut sind, sondern die menschlichen Formulierungen der Wahrheiten, die über die menschlichen Formulierbaren sind. Er meint jedoch, dass andere Dinge die theologische Ausbildung und zu predigen sind. [...] Die Predigt ist keine Stellungnahme zwischen Theorien, sondern die Weitergabe der Botschaft von gekreuzigten Christus"[39], und es ist nicht erlaubt, die Gläubigen mit Theorien zu stören. Allein die Nähe von Christi macht das primitive Wunder und den theologischen Dogmatismus ohne jede Weisheit überflüssig. Die Frage der sozialistischen Revolution wirft auch die 'Versuchung' auf, dass die Kirche - der ideologische Träger der gesellschaftlichen Transformation - selbst zum Teil der politischen Macht wird.

In der unmöglichen Geschichte nimmt Bibó noch eine andere Wendung. "Die spöttische Idee geht ihm durch den Kopf, eine Uchronie (»Uchronie in Uchronie«) darüber zu schreiben, was es gewesen wäre, wenn die Synodenbewegung versagt hätte."[40] Bibó beschreibt dann detailliert die Wiederherstellung des päpstlichen Absolutismus, den Kirchenbruch, den Sieg des Dogmatismus und den Ausschluss des freien Denkens, der Demokratisierung von der Kirche - also alles, was in Wirklichkeit geschah. Ravasz hält Bibós Rede als 'Eselei', bloßen Blödsinn. Er fühlt die Gedankenfolge geschmacklos und absurd. Das anstößigste ist die Vorstellung, dass die Kirche im 16. Jahrhundert wirklich auf den Orthodoxie, machtzentrierten Katholizismus und den atomisierten Protestantismus zerfällt. Das gilt nach Ravasz für die Annahme, dass der Heilige Geist die Kirche verlassen kann. "Bibó fragt, ob das nicht möglich ist? Mit dieser respektlosen Frage und verblüfftem Kopfschütteln von Ravasz endet das Werk."[41]

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Aber was kann die Botschaft dieser witzigen, komischen, absurden Geschichte sein? Meiner Meinung nach liegt dies tief in Bibós Persönlichkeit und Moralität. Sie zeigt und demonstriert, dass ein sanftes, trotzdem kritisches, polemisches freidenkendes Christentum möglich ist, ohne Dogmatismus und veralteten Konservatismus.

4.3. Zurück in die Zukunft

In den Jahren 1971-72 nimmt Bibó seinen Essay auf Tonbandgerät mit dem Titel Der Sinn der europäischen Gesellschaftsentwicklung auf.[42] Seine Gattung ist Zeitdiagnose, aber nicht nur wegen scharfer Kapitalismuskritik, sondern weil er offen dazu steht, dass sein Werk keinen klassischen, wissenschaftlichen Ansatz hat und keine Methodik der Konzeptformulierung nutz um seine Thesen zu beweisen oder zu widerlegen. "In der Politik erscheinen diese Experimente in Form von Revolutionen, Kriegen, Reformen, Staatsversuchen, Konstitutionen, Massenbewegungen, die sich genau auf die gleiche Weise wiederholen fast unmöglich ist"[43]. Auch politische Praxis und Theorie haben immer intuitive, suggestive, künstlerische, also irrationale Elemente - ähnlich wie das individuelle und institutionelle religiöse Handeln.

Bibó übt seine Krisentheorie durch die Kritik des liberalen und modernen Kapitalismus, des bestehenden Sozialismus, des offiziellen Marxismus und sogar des Christentums aus, betont er aber trotz aller Schwierigkeiten auch die Humanisierung der Macht im europäischen Modell. Er warnt, dass die europäische Bildungselite ihre Funktion in der Gesellschaft verlöre, und durch die vertane Möglichkeiten in einer 'Sackgasse' landen könnte. Es reicht aus nur um den Faschismus, die Massenhysterie des Nationalsozialismus, den Antisemitismus, den heftigen und gewalttätigen Kult des Marxismus zu denken. Bibó hätte wegen der Krise der Demokratie in Ungarn, der Revolution und der darauffolgenden Repressalien, seinem eigenen Schicksal Pessimist sein können, überraschenderweise war er in der Lage frei von Ressentiment das Bild einer herrschaftsfreien Gesellschaft in seiner Gesellschaftsdiagnose zu skizzieren. Diese erstaunliche Leistung war möglich wegen seiner moralischen Haltung als Mensch und Wissenschaftler.

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Er geht von dem existentialistischen Ansatz aus, dass der Mensch seiner Sterblichkeit bewusst ist, und davon in ständiger Angst lebt. Die Angst objektiviert sich als herrschende Macht über den Menschen. Der Mensch sucht und findet mehr oder weniger die Möglichkeiten der Überwindung von Naturgewalten, Lebensbedrohungen, aber er hat die grösste Angst von der anderen Personen. Diese Angst versucht er zu überwinden, indem er anderen Menschen seinem Willen unterwirft. Letztlich entstehen auf der Erde überall Tyrannien, die sich in Wechsel von Dynastien, oft in gewalttätiger Macht, in Einzel- und Massenhysterien münden. Gleichzeitig tauchen religiöse Ideologien auf, die ihre Sakralisierung, Humanisierung und moralisierte und rationalisierte Staatseinrichtungen visieren, und versuchen Genügsamkeit bei den Mächtigen, bzw. Ergebung bei den Unterworfenen zu erreichen. Dieses Experiment funkzionierte nur in zwei Kulturen: griechisch-römisch und chinesisch, mit großem Erfolg.

Anlässlich des aktuellen Themas möchte ich zwei Gedanken aus dem Essay hervorheben. Bibó betrachtet die westliche Christenheit und hält auch darin das Verhältnis zur der Person von Christi als die Säule der europäischen gesellschaftlichen Entwicklung. Der Christus von Bibó ist in erster Linie der Mensch-Christus, der durch seine Beispielgeste, Aussagen und Kommunikation aus den Evangelien erkennbar ist. Christus war eine historisch existierende Person, die "im Kreis einer kleinen, asketischen, weltendesverkündigenden, lebensfeindlichen Sekte aufgewachsen ist."[44] Obwohl er das nahe Weltende, die Eitelkeit des weltlichen Lebens nicht ausdrücklich leugnete, ist es doch das Hauptmerkmal seines Verhaltens, dass es "Manifestationen des Verstehens der einfachsten Dinge im Leben, der menschlichen Zärtlichkeit, die örtlich und zeitlich greifen über die relativ kleine Sekte, derer er offenbar ein Mitglied war."[45] Für Bibó ist daher in der Persönlichkeit Christi die "Dualität von partikulär- lokalem Engagement und Allgemeingültigkeit"[46] verkörpert sich. Es ist klar, dass für Bibó nicht der historische Jesus im Zentrum ist, sondern seine Persönlichkeit und Personalität: die persönliche Beziehung zu ihm. Nur dies kann von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft führen.

Bibó stellt die durch den Apostel Paulus formulierte 'Gottheit' von Christi in Klammern, trennt sich aber sowohl vom Dogmatismus als auch von der Lebensfremdlickeit des Katholizismus, auch der lutherischen und calvinistischen

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(evangelischen) Kirche. Dies ist der Kern, der es den Zeitgenossen ermöglicht, die Persöhnlichkeit und Intention ('Absicht') von Jesu zu vermitteln. Das heißt: sola scriptura (nur durch die Schrift) und solus Christus (nur durch Christus) - lautet die beiden, bis heute auch geltende Eckpfeiler der Lehren des Reformations.

Der Glaube - wie Christus davon spricht - ähnelt dem Vertrauen des Kindes in die verborgenen Fähigkeiten der menschlichen Seele. Er hat einfache Sätze und Parabel über die Kraft der Sanftmut, die Vergeblicheit des Zorns: 'Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar' (Matthäus 5,39) - zitiert Bibó. Es ist keine Geste eines angsterfüllten Mensch, der die Aggression mit Aggression behandelt. Die Darbietung der linken Backe ist die "Entwaffnungsgeste, vor denen die sinnlose Aggression einmal ihren eigenen Unsinn findet."[47]

Der Christus von Bibó - weil er ein menschliches Wesen ist -, ist gemäß seiner grundlegenden Natur ungeduldig, aggressiv (siehe zum Beispiel, die Schacherer aus dem Tempel zu vertreiben), "Wenn er von der Kraft der Sanftmut spricht und sich den Bösen widersetzt, vermittelt er der ganzen Menschheit die Sinnlosigkeit der bediegten Hitzigkeit als Lehre"[48]. 'Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!' (Johannes 8, 7) oder 'Dann gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.' (Matthäus 22,21), findet den Herd der Furcht, des Hasses, dar Kampf, das - laut Bibó -, die Essenz des Sündenfalles des Menschen ist.

Nun, stellt sich die Frage: sie Sanftheit, die Selbstbesiegung sind 'individualetische Taten', oder sind sie fähig die Vergeblichkeit der Aggression universal, für die ganze menschliche Welt aufzuzeigen, um sich von der Angst zu befreien, eine gesellschaftsgestaltende Kraft zu sein? Bibó schaltet hier in die Analyse die klerikalen Intellektuellen ein, die eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der westeuropäischen Entwicklung spielte und eine moralische Funktion in der Machtlegitimation ausübte. In den von germanischen Stämmen erorberten Teilen des zersplitterten Römischen Reiches lebte der Pragmatismus der römischen Gesellschaftsorganisierung, der Staatsorganisation und der Rechtspragmatik, bzw. der Alphabetisierung weiter. Die Stammeskönige allein waren nicht in der Lage, mit der rationalen Verwaltung einer komplexeren Kulturen fertig zu werden.

Dieses Bedürfnis ist verbunden mit der Verpflichtung der richtigen, moralischen, kritisierbaren Macht im Werk von Augustinus 'De Civitate Dei', das

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den Untertanen ein gewisses Selbstvertrauen gab. Diese Lehre wurde vom Priestertum und den Mönchsorden den Herrschern übergeben, indem sie auch soziale organisatorische Funktionen ausübte, wie die Verbreitung von Anbautechniken, die Pflege der Landwirtschaft, die Errichtung von Krankenhäusern, heilende Aktivitäten, soziale Tätigkeiten, die Versorgung der Armen usw. - all das mit administrativen und Verwaltungstätigkeiten.

Bibó analysiert detailliert den europäischen Feudalismus und das Lehnswesen, aber nicht als eine notwendige (!) Station der menschlichen Entwicklung, sondern als eine "grosse kollektive Anstrengung einer ganzen Kultur"[49], als ein einmaliges Unternehmen. Er beschäftigt sich besonders mit der Rolle der Reformation in der europäischen Gesellschaftsentwicklung. Auf der religiösen Ebene bedeutete die Reformation die Befreiung des Christentums vom Heidentum, vom Respekt der Heiligen, der magischen Würdigung der Jungfräulichkeit und politisch aber den Widerstand gegen das Machtzentrum des Papsttums, bzw. den herrschenden Absolutismus. Gleichzeitig argumentiert er, dass der Gedanke, dass die Reformation Verkündigung der Freiheit gewesen wäre sei, lediglich eine neue Vorstellung. Der Kapitalismus wurde einerseits auf mittelalterliche Institutionen der Freiheit aufgebaut, anderseits diese Freiheit weder die lutherische noch die calvinistische Form gezeigt. Dessen wirklichen Einfluss liegt nicht darin, dass er direkt politische Freiheit entfaltete, lieber das, dass er half, eine moralisch anspruchsvolle menschliche Art zu schaffen, die dann größere Bedarf an politischer Freiheit hatte. Hier kommt das protestantische Ethos von Max Weber wieder.

Die bedeutendste Errungenschaft des Christentums als gesellschaftsorganisierende Kraft ist ein ausgedehntes System europäischer Freiheiten. "Die entscheidenden Elemente davon sind die Gewaltenteilung, das durch die allgemeinen Wahlen gewählte Volksparlament, die exekutive Gewalt, die entweder dem Parlament verantwortlich und abberufbar, oder in irgendeiner Weise vom Volk auf eine bestimmte Zeit delegiert ist, eine vor der Exekutiv unabhängige Justiz, derer Kompetenz erstreckt sich auf sich selbst die vollziehende Gewalt; die freie Presse, Gedanken,- Versammlungs- und andere Freiheiten, eine umfassende lokale Selbstverwaltung, die alle ein kettenartig miteinander zusammenhängendes, kohärentes System bilden, von denen kein einzelnes Element hervorgehoben werden kann, damit die gesamte Kette und das ganze System keine Schaden erleiden. [...] Die letztendlichen Wurzeln des Chistentums wurzeln in der griechisch-römischen politischen Praxis, aber sie

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wurden von einer christlich inspirierten Gesellschaftsorganisation weitergebaut, und in diesem Sinne ist dieses System von Freiheiten vielleicht die einzige ernsthaft erfolgreiche Form der Verwirklichung des moralischen Programms der Gewaltlosigkeit des Christentums. Die Geschichte kennt noch kein System, das die Welt der Politik und das Leben der Gesellschaft als Ganzes von der ständigen Angst vor der Gewalt der Oberen und des Anderen befreit hätte, und den Machthabern ermöglicht hätte, ihre Platz friedlich ohne Meuchelmord und der Schafott an diejenigen weiterzugen, die im Moment besser geeignet sind, um den Menschen zu ermöglichen, die politisch Mächtigen im entscheidenden Moment loszuwerden."[50]

Die Essay mit dem Titel Der Sinn der europäischen Gesellschaftsentwicklung von Bibó kann selbst als eine säkularisierte Version der Theologiegeschichte auf der Grundlage des evolutionären Schemas der Unschuld - Sündenfall - Erlösung betrachtet werden. Obwohl der Zustand im Paradies nicht gerechtfertigt werden kann, setzt er dennoch eine Störung im Gleichgewicht voraus. In der Geschichte Europas kann es jedoch ein Ausweg aus der Krise sein: die Weiterentwicklung der parlamentarischen Demokratie, die sich vom ökonomischen Kapitalismus (Freiheit) abhält - aber nicht seine Verleugnung (!) - in die Richtung eines nicht-staatlichen, den Eigentum verteilenden (partizipative Unternehmen), den Vorhut und Technokratie überwältigenden, herrschaftslosen (anarchisch), selbstverwaltenden Sozialismus: die Gesellschaft der gegenseitigen Leistungen. In diesem Prozess ist es unerlässlich, die Möglichkeiten des zeitgenössischen Christentums zu suchen, das nicht im kirchlichen Rahmen, nicht in Dogmen, sondern in der 'Intentionen von Christus', worin eine stärkeren Humanisierung der Macht liegt. "Ohne Gewalt gegen Gewalt."[51]

Er hat eine Sehnsucht dahingehend, "wo die aktive Liebe und den Primat der gleichen menschlichen Würde ankündigende imago Dei entscheidet."[52] Das ist eine utopische Vision in Uchronia - kann man sagen. Aber der alte Wissenschaftler schreibt immer noch optimistisch-naiv. Über sein Werk, das

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im Jahre 1976, in England in englischer Sprache unter dem Titel: Die Lähmung der internationalen Gemeinschaft und ihrer Heilmittel[53] veröffentlicht wurde, sagte Bibó: dies sei eine reale Utopie.

Das Moratorium, das gegenüber Bibó in Ungarn angewendet wurde, wurde niemals aufgehoben. Auf seine Bitte hin wurde er 1978 rehabilitiert, stirbt aber für ein Jahr später. Einige Wochen vor seinem Tod sagte er einem Freund gegenüber: "Mit meiner Glaubwürdigkeit mag ich keinen Probleme haben, wohl aber mit meinem Glauben."[54]

Ich meine, Gott mag seine Rechenschaft akzeptiert haben. Er starb wie er lebte: skeptisch und erhobenen Hauptes. ■

ANMERKUNGEN

[1] Laut seinem Sohn von Bibó (István Bibó v. Jüngere) nannte sich sein Vater einen freidenkenden Christen'.

[2] Kende Péter: 1956 és a bibói örökség. In: Gyarmati György - Tar Ferenc (Hrsg.): A szabadságszerető ember. Hévíz, Bibó István Alternatív Gimnázium és Szakközépiskola, 2003, 27.

[3] Siehe die Meinungen von Péter Kende, György Litván und Árpád Göncz bei einer Gedenkfeier mit dem Titel 'Bibó-est, Ráday-kollégium. 1989. okt. 23.' Confessio. 1990. (1), 5-30; Gegen sie weist Ferenc Donáth darauf hin, dass Bibos Ethik ,nicht protestantisch-konfessionell' ist, sondern sie ein universellen christlichen Charakter hat. Siehe dazu Donáth Ferenc: 'Nektek barátaim mondom: Ne féljetek...!' In: Dénes Iván Zoltán (Hrsg.): A hatalom humanizálása. Pécs, Tanulmány Kiadó, 1993, 233.

[4] Litván György - S. Varga Katalin (Hrsg.): Bibó István (1911-1979). Életút dokumentumokban. Budapest, 1956-os Intézet, Osiris-Századvég, 1995, 24.

[5] LengyeL András: Egy szabadság ideológia megformálódása. Jelenkor, 1990 (február), 149.

[6] Litván - S. Varga op. cit. 85-86.

[7] Im Zusammenhang mit dieser kleinen Arbeit lernte er Bibó Max Webers 'Protestantische Ethik' kennen. "Was Max Weber angeht, musste ich als reformierter junger Mann eine reformatorische Gedenkrede halten, und ich hielt sie nach einem berühmten Artikel Max Webers, der mir von meinem Vater überreicht wurde." Litván - S. Varga op. cit. 216.; Siehe Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Tübingen, J.C.B. Mohr, 1934; Weber, Max: Wissenschaft als Beruf. München, 1919.

[8] Litván - S. Varga op. cit. 86.

[9] Bibó weist darauf hin, dass die Absicht des Apostols Paulus ('Wer nicht arbeitet, soll nicht essen!') die gültige Bedeutung in Luthers Bibelübersetzung für das ganze Protestantismus gewinnt. In Litván - S. Varga op. cit. 86.

[10] Litván - S. Varga op. cit. 86.

[11] Bibó István: Kényszer, jog, szabadság. In: Vida István - Nagy Endre (Hrsg.): Válogatott tanulmányok. Budapest, Magvető Könyvkiadó, 1986, I. kötet, 7-147. [nachfolgend bezeichnet als: Vida - Nagy (1986a)]

[12] Über die Werke des jungen Rechtsphilosophen siehe Zsidai Ágnes: Jogbölcseleti torzó. Bibó István jogelméletének rekonstrukciója. Budapest, Szent István Kiadó, 2005.

[13] Bibó István - Erdei Ferenchez írott levele, 1935. december 15. Litván - S. Varga op. cit. 132.

[14] Litván - S. Varga op. cit. 191-192.

[15] Bibó István: A pénz. Vida - Nagy (1986a) op. cit. 215.

[16] Vida - Nagy (1986a) op. cit. 217.

[17] Vida - Nagy (1986a) op. cit. 220.

[18] Bibó István: Elit és szociális érzék. Vida - Nagy (1986a) op. cit. 221-242.

[19] Mannheim, Karl: Diagnosis of Our Time. London, Kegan Paul, 1943.

[20] Siehe Karácsony András: Lélek - Élet - Tudás. A fiatal Mannheim útja a szociológiához. Szociológiai Szemle, 2009. (3), 26-42.

[21] Siehe Neun, Oliver: Zur Theorie der soziologischen Gesellschaftsdiagnose. https://webapp.uibk.ac.at/ojs2/index.php/oegs-publikation/article/view/28/708 (2019.12.06.)

[22] Mannheim weigert sich ausdrücklich, es eine 'Prophezeiung' zu nennen.

[23] Bibó István: Korunk diagnózisa. Vida - Nagy (1986a) op. cit. 215.

[24] Vida - Nagy (1986a) op. cit. 249.

[25] Vida - Nagy (1986a) op. cit. 260.

[26] Vida - Nagy (1986a) op. cit. 247-248.

[27] Vida - Nagy (1986a) op. cit. 260.

[28] Vida - Nagy (1986a) op. cit. 261.

[29] Bibó István: Az európai egyensúlyról és békéről. Vida - Nagy (1986a) op. cit. 295-635.

[30] Bibó István: A magyar demokrácia válsága. A magyar demokrácia válsága cikk vitája. In Vida István - Nagy Endre (Hrsg.): Válogatott tanulmányok. Budapest, Magvető Könyvkiadó, 1986, II., 13-118. [nachfolgend bezeichnet als: Vida - Nagy (1986b)]

[31] Bibó István: Az államhatalmak elválasztása egykor és most. Vida - Nagy (1986b) op. cit. 367-397.

[32] Bibó István: A kelet-európai kisállamok nyomorúsága. Vida - Nagy (1986b) op. cit. 185-266.

[33] Bibó István: Eltorzult magyar alkat, zsákutcás magyar történelem. Vida - Nagy (1986b) op. cit. 569-620.

[34] Bibó István: Zsidókérdés Magyarországon 1944 után. Vida - Nagy (1986b) op. cit. 621-798.

[35] Nagy Endre: Tettbeszéd. Bibó István 1935-ös 'megtérése'. In: Dénes Iván Zoltán (Hrsg.): Megtalálni a szabadság rendjét. Budapest, Új Mandátum Könyvkiadó, 2001, 111-144.

[36] Bibó István: Uchrónia. Ha a zsinati mozgalom a 15. században győzött volna... Bibó István címzetes váci kanonok beszélgetései apósával, Ravasz László bíboros érsekkel a római katolikus egyház újkori történetéről, különös tekintettel a lutheránus és kálvinista kongregációkra. Egyház-, kultúr- és politikatörténeti uchrónia. In: Bibó István v. Jüngere (Hrsg): Válogatott tanulmányok. Budapest, Magvető, 1990, 265-282. [nachfolgend bezeichnet als: Bibó v.J.]

[37] Bibó wurde dieses Jahr aus dem Gefängnis entlassen geworden.

[38] Kovács Gábor: Az európai egyensúlytól a kölcsönös szolgáltatások társadalmáig. Bibó István, a politikai gondolkodó. Budapest, Argumetum-Bibó István Szellemi Műhely, 2004, 393.

[39] Bibó v.J. op. cit. 274-275.

[40] Bibó v.J. op. cit. 281.

[41] Bibó v.J. op. cit. 282.

[42] Bibó István: Az európai társadalomfejlődés értelme. In: Vida István - Nagy Endre (Hrsg.): Válogatott tanulmányok. Budapest, Magvető Könyvkiadó, 1986, III., 5-123. [nachfolgend bezeichnet als: Vida - Nagy (1986c)]

[43] Vida - Nagy (1986c) op. cit. 7.

[44] Vida - Nagy (1986c) op. cit. 19.

[45] Vida - Nagy (1986c) op. cit. 19-20.

[46] Csepregi András: Bibó István Krisztus-képe, mint politikai kísérlet. http://www.evangelikus.hu/csepregi-bibo-krisztuskep (2019.22.08.)

[47] Vida - Nagy (1986c) op. cit. 20.

[48] Vida - Nagy (1986c) op. cit. 85.

[49] Vida - Nagy (1986c) op. cit. 25.

[50] Vida - Nagy (1986c) op. cit. 61-62.

[51] So wurde das bibóischen Lebenswerk von einem Freund, András Szesztay in einem Interview mit dem Titel Glaube und Glaubwürdigkeit charakterisiert. Confessio, 2011(3), 8. [nachfolgend bezeichnet als: Szesztay]

[52] Ludassy Mária: Bibó István és Félicité Lamennais. In: Dénes Iván Zoltán (Hrsg.): A hatalom humanizálása. Tanulmány Kiadó, Pécs, 1993, 231.

[53] Bibó István: A nemzetközi államközösség bénultsága és annak orvosságai. Önrendelkezés, nagyhatalmi egyetértés, politikai döntőbíráskodás. In: jüng. Bibó op. cit. 283-681.

[54] Szesztay op. cit. 11-12.

Lábjegyzetek:

[1] Der Autor ist Dozentin, ELTE ÁJK.

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