Nachstehend werde ich einige Punkte der systemtheoretischen Auffassung des Niklas Luhmann - einer neuen Version der Systemtheorie - untersuchen, welche die Husserl'sche Phänomenologie berühren. Man braucht im Luhmann'schen Lebenswerk nicht besonders tief zu graben, um diese Schnittpunkte zu finden. Ein kurzer Blick auf seine Publikationsliste, und drei Studien springen sofort ins Auge, die bereits von ihrem Titel her eindeutig auf die Begriffswelt von Husserl hinweisen.[1] Denken wir nur an die Husserl'sche Analyse der Lebenswelt, der Intersubjektivität und der neuzeitlichen Wissenschaften.
Wir können aber unsere Aufmerksamkeit jenen Bemerkungen schenken, die sich auf die Anfangsperiode der wissenschaftlichen Laufbahn Luhmanns beziehen. In einem Interview hat Luhmann - von den auf ihn einwirkenden Einflüssen sprechend - Folgendes gesagt: "In den Zetteln habe ich die Literatur, mit der ich mich vorwiegend beschäftige, verarbeitet, also Soziologie und Philosophie. Damals habe ich vor allem Descartes und Husserl gelesen".[2] Wie stark sich Luhmann in dieser Zeit von Husserl beeinflußen ließ, wird durch die Erinnerungen des Franz-Xaver Kaufmann bekräftigt. Auf dem - nach dem Tod Luhmanns veranstalteten - Gedenkkolloquium ließ Kaufmann aufleben, wie er im Wintersemester 1964/65 an der Universität Münster zum ersten Mal den Herrn Luhmann traf, der dort gerade als Gastprofessor einen Vortrag hielt. Kaufmann hat folgende Erinnerungen behalten: "Ich gestehe, daß ich mich an den Inhalt des Vortrags nur noch dunkel erinnere; doch ist mir geblieben, daß Luhmann damals seinen Komplexitätsbegriff unter Bezugnahme auf die Phänomenologie Edmund Husserls entwickelte."[3]
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Außer den oben aufgezählten - eher äußerlichen - Zeichen gibt es aber auch gewichtigere Argumente, die dafür sprechen, den Einfluß Husserls ernst zu nehmen. Dazu müssen wir uns in die Begriffswelt der Luhmann'schen Theorie Eintritt verschaffen. Es gibt zwei Möglichkeiten. Die erste, die am naheliegendsten erscheint, besteht darin, die oben erwähnten Luhmann-Analysen (über Lebenswelt, Intersubjektivität und neuzeitliche Wissenschaften) zu untersuchen, da hier die wirkungsgeschichtlichen Kontakte zwischen Luhmann und Husserl in ihrer expliziten Form erforscht werden können. Andererseits können wir versuchen, die Spuren der Husserl'schen Phänomenologie in den Grundbegriffen der Luhmann'schen Systemtheorie aufzuspüren. Im letzteren Fall haben wir uns auf die Sozialen Systeme Luhmanns zu konzentrieren, da die allgemeinen Grundzüge seiner ausführlichsten Theorie hat er in diesem Buch zusammengefaßt. Ich werde jetzt diesen zweiten Weg beschreiben. Ich werde natürlich nicht nur die Sozialen Systeme untersuchen, dieses Buch steht jedoch im Zentrum meiner Nachforschungen. Allerdings, die erwähnten beiden Untersuchungsmöglichkeiten schließen sich gegenseitig nicht aus. Auf die Darlegung der Beziehungen auf der Ebene der begrifflichen Grundstruktur könnte eine konkrete Untersuchung der Lebenswelt, der Intersubjektivität und der Deutung der neuzeitlichen Wissenschaften folgen. So könnte man die wirkungsgeschichtliche Beziehung zwischen Luhmann und Husserl umfassend und vollständig darstellen. Da ich aber für so lange Ausführungen keinen Platz habe, werde ich von dieser zweiten Phase absehen.
Im Grunde genommen kann die Luhmann'sche Theorie als Systemtheorie definiert werden. "Im Grunde genommen" nur, weil in der Gesamtheit dieser Theorie spielen auch kommunikations- und evolutionstheoretische Überlegungen eine wichtige Rolle. Bleiben wir jedoch bei der Systemtheorie, hier ist nämlich der breiteste Kontext für die theoretische Architektur gegeben. Wie allerdings allgemein bekannt ist, gibt es ganz unterschiedliche Systemtheorien. Um genau beschreiben zu können, welchen Platz die Luhmann'sche Betrachtungsweise in einer fast hundert Jahre alten systemtheoretischen Tradition einnimmt, müssen wir erst kurz die Bedeutungsgeschichte des Systembegriffs untersuchen. Ich darf hier mindestens auf zwei Elemente dieser Bedeutungsgeschichte Bezug nehmen. Erstens darauf, wie der Systembegriff vor der Erscheinung der Systemtheorien benutzt wurde, und zweitens auf die unterschiedlichen Sinngebungen, die nach der Erscheinung der Systemtheorien, innerhalb desselben Paradigmas zum Vorschein kamen.
1) Die Benutzung des Wortes 'System' reicht in die griechische Geschichte des Denkens zurück. Der Begriff trug von Anfang an zwei verschiedene mögliche Inhalte in sich. Er deutete einerseits darauf hin, daß das System aus Elementen besteht, die sich "von innen" ineinander fügen, er drückt eine innere Ordnung aus, in welcher die Verbundenheit aus den Dingen selbst herrührt. Andererseits
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gab es eine andere Vorstellung, wonach das System eine Art "externe" Zusammenstellung ist.[4] Dementsprechend besteht die Verbindung nicht innerhalb der Dinge, sondern sie wird von einem außenstehenden Beobachter hergestellt. Die wirkungsgeschichtliche Kraft dieser beiden Betrachtungsweisen zeigt sich auch darin, daß diese Differenz selbst in den Systemtheorien des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck kommt, nämlich in der Verschiedenheit der "realen" und "analytischen" Systembegriffe. Um einen realen Systembegriff geht es im Kontext jener Theorien, denen es zugrunde gelegt wird, daß es Systeme gibt. Bei den Anwendern des analytischen Systembegriffs heißt es dagegen, daß das System durch die Theorie geschaffen wird.
Wir sollten aber in der Zeit nicht so plötzlich nach vorne springen! In der Theoriegeschichte, wie gesagt, hatte man den Systembegriff schon lange benutzt, bevor jene Theorien erschienen, die sich als Systemtheorie bezeichnet haben. Es gab schon viel früher eine ganze Reihe von Abhandlungen über philosophische Systeme', oder gar über,das System der Wissenschaften'. In dieser Tradition ging es eindeutig darum, Kenntnisse zu systematisieren, und wurde daher eher der analytische Systembegriff benutzt. Die frühen Philosophen hatten diese Art von Systematisierung erheblichen Teils aus jenem Grund für sehr wichtig gehalten, weil sie eine bei dem Unterricht leicht übermittelbare Form des Wissens suchten. Sie gingen davon aus, daß ein systematisiertes Wissensmaterial von Lesern besser verstanden und angenommen wird. Diese Einstellung wurde von dem neuzeitlichen Rationalismus weiter gestärkt, und die Systematisierung anstrebende Vernunft siegte über die Realität. Damit wurde der Übergang zum "realen" Systembegriff vollzogen. In dem das Absolute suchenden deutschen Idealismus (Kant, Fichte, Schelling, Hegel) bedeutete der Begriff ,System' eine Systemmäßigkeit der Phänomene der realen Welt. Der Triumph des realen Systembegriffs rief aber sehr verschiedene Reaktionen hervor. Im Bereich der Philosophie erschien eine sehr entschiedene ablehnende Haltung, im Bereich der Wissenschaften dagegen entstand eher eine große Anhängerschaft. Sowohl Kirkegaard als auch Nietzsche haben, zwar aus verschiedenen Gründen, aber sehr spektakulär gegen die Systemschöpfung protestiert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch hat der Begriff System - vor allem unter Naturforschern sowie jenen Philosophen, die voller Zuversicht und Hoffnung auf die Wissenschaft blickten (Spencer, Mill) - eine immer wichtigere Rolle eingenommen. Spencer schrieb zum Beispiel, daß Systeme in der Interaktion zwischen System und Umwelt die innere Vielfältigkeit erhöhen und sich in Richtung Perfektion entwickeln. In dem Bereich der Wissenschaften datiert sich die methodologische Wende aus jener Zeit, wann Forscher die mechanische, auf Teile konzentrierende Betrachtungsweise als nicht mehr an-
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nehmbar beurteilten, und diese durch eine das Ding als Ganzheit nehmende Betrachtungsweise zu ersetzen gedachten. Besonders in der Biologie, die eine Erklärung für das Leben suchte, entstand ein ausgeprägter Gegensatz zwischen jener Betrachtungsweise, welche die Teile mechanisch zusammenstellte, und jener anderen, die - aus der Ganzheit ausgehend - die Teile von vornherein in die Ganzheit einordnete. Die mechanistische Richtung gab physisch-chemische Erklärungen für die Eigenschaften und das Verhalten der Organismen. Prozesse jedoch, wie Anpassung, Selbstregulierung, Selbstregenerierung waren in dieser Weise nicht zu erklären. Diese wurden einfach für metaphysische Prozesse gehalten, für welche es keine wissenschaftlichen Erklärungen gibt. Gerade von dieser Strömung hat sich Dreisch losgesagt: dadurch, daß er den Organismus durch die "Lebenskraft" erklärte, wurde er einer der ersten Vertreter der totalen Anschauung in der Biologie. In der - im 19. Jahrhundert, im Sinne des Positivismus entstandenen - Soziologie beharrte man schon allein deswegen auf die Systemtheorie, weil sie im Bereich der Biologie und der klassischen Mechanik bereits beachtliche Erfolge verbuchen konnte.
2) Als selbständige Disziplin wurde die Systemtheorie jedoch erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren. Die Entstehung dieses Wissenszweiges wurde eindeutig durch den Drang vorangetrieben, ein Gegengewicht für die auf isolierte Fachbereiche zerstückelte Wissenschaft zu finden. Die damals erschienen Grenzwissenschaften (wie z.B. physische Chemie, Sozialpsychologie, Biochemie, Biophysik, wirtschaftswissenschaftliche Psychologie) zeigten ebenfalls in diese Richtung. In den Dreißigern hat Ludwig von Bertalanffy für die allgemeine Systemtheorie eine Pionierarbeit geleistet. Einige Jahrzehnte später, im Jahre 1954 ist die Society for General Systems Research gegründet worden. In dieser Gesellschaft fanden nicht nur systemtheoretische Forscher zusammen, sie hat auch im Bereich der Forschungsorganisation bedeutende Aufgaben erfüllt. Dieses Jahrzehnt war die erfolgreichste Periode der Systemtheorie und der daran anknüpfenden Kybernetik. In der zweiten Hälfte der Sechziger, wann Luhmann seine wissenschaftliche Laufbahn startete, hat die Systemtheorie bereits viel an ihrer Anziehungskraft eingebüßt, konnte sich jedoch in der Soziologie - dank dem Einfluß Parsons - als bedeutender Faktor aufrechterhalten.
In den Debatten dieser Zeit erscheint stufenweise - außer der Differenz zwischen dem analytischen und dem realen Systembegriff - die zwischen geschlossenen und offenen Systemen bestehende Differenz in dem Vordergrund. Bei den letzteren Systemen wurde von einer Interaktion, bei den ersteren von einer Trennungslinie zwischen System und Umwelt ausgegangen. Über die Luhmann'sche Systemtheorie können wir - unter Berücksichtigung dieser beiden Differenzschemen - feststellen, daß sie in dem realen Systembegriff seinen Ausgangspunkt nahm, und die Geschlossenheit des Systems betonte.
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Auf den ersten Seiten der Sozialen Systeme lesen wir nämlich Folgendes: "Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt. [...] Der Systembegriff bezeichnet also etwas, was wirklich ein System ist."[5] Darauf folgt aber schnell eine genauere Beschreibung: "Unsere These, daß es Systeme gibt, kann jetzt enger gefaßt werden: es gibt selbstreferentielle Systeme:"[6] Und mit diesem Ausdruck ("selbstreferentielle Systeme") hat Luhmann den Schlüsselbegriff des Konstruktivismus (Maturana, Varela, von Foerster), die Autopoiesis in seine Untersuchungen miteinbezogen. Wenn wir auf die Luhmann'sche Theorie zurückblicken - die bereits Mitte der Sechziger Gestalt nahm - und seine frühen Werke mit den Publikationen der Achtziger vergleichen, so können wir eher eine Kontinuität feststellen. Wie es scheint, führt von den "reflexiven Mechanismen" vor drei Jahrzehnten fast ein geradliniger Weg durch die Kategorien der Selbstreferenz, der Selbstthematisierung, der Selbstorganisation und der Autokatalisis, bis zur "Autopoiesis". Diese Begriffe gliedern sich zwar in eine Kette ein, es kann hier jedoch keineswegs von Unveränderlichkeit die Rede sein. Dies wird aus der Unterschiedlichkeit der strukturbezogenen Selbstorganisation und der auf die Elemente der Struktur bezogenen Selbstreferenz klar ersichtlich. "Der Begriff Selbstorganisation bezog sich jedoch - zurückblickend muß man sagen 'nur' - auf die Strukturen eines Systems. [...] Die Theorie selbstreferentieller Systeme behauptet, daß eine Ausdifferenzierung von Systemen nur durch Selbstreferenz zustande kommen kann, das heißt, dadurch, daß Systeme in der Konstitution ihrer Elemente und ihrer elementaren Operationen auf sich selbst (sei es auf Elemente desselben Systems, sei es auf Operationen desselben Systems, sei es auf die Einheit desselben Systems) Bezug nehmen."[7] Johannes Berger hat übrigens diese begriffliche Änderung als eine bedeutende konzeptionelle Änderung wahrgenommen. In seiner Meinung hat Luhmann damit den strukturellen Funktionalismus verlassen und hier kam die Wende in Richtung Phänomenologie. Der phänomenologische Charakter der Wende bedeutet nicht, daß Luhmann Husserl und Schütz folgte, sondern sie deutet darauf hin, daß sein theoretisches Interesse von den Funktionsweisen der Systeme auf die Analyse der Konstruktion der sozialen Realität verschoben hat[8].
Autopoietische Systeme schaffen ihre Elemente durch Ihr Netz, in einem Netz bereits vorhandener Elemente. In dieser Hinsicht werden sie also von einer operativen Geschlossenheit charakterisiert. Diese rekursive Geschlossenheit sorgt für die Einheit der strukturellen Identität aller autopoietischen Netze.
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Dadurch kann man die miteinander verbundenen (systeminternen) und die nicht verbundenen (zur Umwelt gehörenden) Operationen unterscheiden. Hier ist es besonders zu betonen, daß bei der Feststellung der Systemzugehörigkeit vor allem die Verbundenheit von Bedeutung ist. Es reicht also nicht aus, daß Operationen einander womöglich ähnlich sind. Denken wir nun daran, daß das Rechtswesen typischerweise von einer normativen Kommunikation charakterisiert wird, aber in dem Umfeld des Rechtssystems - in der Ethik und in den Religionen - eine ähnliche normative Kommunikation ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Es wäre jedoch falsch darauf zu schließen, daß alle Arten normativer Kommunikationen zum selben integrierenden System gehören. Ganz im Gegenteil: die erwähnten Systeme (Ethik, Religion, Rechtswesen) haben sich eher abgegrenzt. Sie haben sich abgegrenzt, weil die normative Kommunikation in dem einen Bereich nicht mit der normativen Kommunikation der anderen beiden Bereiche verbunden ist. Sollte so eine Verbindung zustande kommen, so kann dies nur durch Vermittlung geschehen. Die einzelnen Systeme können sich nämlich nur im Netz ihrer eigenen Normen, d.h. durch die Vermittlung ihrer eigenen Elementstruktur mit der normativen Kommunikation eines anderen Systems verbinden. Wenn im Rechtswesen zum Beispiel eine Generalklausel von Treu und Glauben festgelegt wird, dann geht es hier um die rechtliche Relevanz einer ethischen Norm. Diese Relevanz entspringt nicht aus einer ethischen Norm, sondern ausschließlich aus der Tatsache, daß in einem rechtlichen Normtext auf diese Norm Bezug genommen wird. Die beiden Normen (Recht und Ethik) werden also nicht durch ihren normativen Charakter verbunden, sondern dadurch, daß das eine Normsystem (das Recht) ausdrücklich auf die Norm eines anderen Systems (Ethik) Bezug nimmt, und sie damit in das eigene Normsystem einhebt.
Den Begriff der Autopoiesis hat Luhmann aus der theoretischen Biologie übernommen (aus den Werken von Maturana und Varela). In diesem Übernahmeverfahren hat er die Begriffsbildung in zwei Stufen vollzogen. Erst hat er die Kategorie generalisiert, und dann respezifiziert. Was bedeutet dies konkret in Bezug auf die Autopoiesis? Im ersten Schritt hat er die in der Biologie benutzte Bedeutung des Begriffs verallgemeinert und die Autopoiesis als Form der geschlossenen Selbstproduzierung erfaßt, diese Form dann auf den Sinn bezogen konkretisiert, und Sozialität als Netz rekursiver Kommunikationen, Bewußtsein als Netz rekursiver Gedanken definiert. Da es bei den autopoietischen Systemen um die Reproduktionsweise von Elementen geht, die Definition des Begriffs Element scheint unerlässlich zu sein. Bei Luhmann ist das Element kein Synonym für die letzte ontologische Gegebenheit oder irgendeine Substanz, und es wird auch nicht von irgendeinem externen Beobachter konstituiert, sondern das Element funktioniert in dem System als eine nicht weiter dekomponierbare Einheit.
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Niklas Luhmanns Versuch den Begriff der Autopoiesis auf die Erklärung der Sozialität zu übertragen war kein einsamer Versuch im deutschen gesellschaftstheoretischen Denkens. Wir brauchen nur an die zahlreichen Vertreter der konstruktivistischen Strömung zu denken. Aber die Verschiedenheiten dürfen ja auch nicht vernachlässigt werden. Innerhalb des KonstruktivismusParadigmas finden wir zum Beispiel Siegfrid Schmidt, der das "soziale System" ausschließlich für eine theoretische Konstruktion, also für ein Beobachtungsinstrument hielt, das ausschließlich aufgrund seiner wissenschaftlichen Brauchbarkeit (also seiner Fähigkeit Probleme zu lösen) beurteilt werden kann. Aus dieser radikalen konstruktivistischen Position gesehen - die wir aufgrund der systemtheoretischen Tradition auch "analytisch" nennen dürfen - hat Luhmann den Systembegriff ontologisiert.[9] Luhmann begann ja seine Ausführungen mit folgender Feststellung: "es gibt Systeme". Gerade an diesem Punkt kann ein Novum der Luhmann'schen Theorie erfaßt werden. Es geht hier um das Verhältnis von Faktizität und Konstruktion. Um dies genau deuten zu können, müssen wir die Grundkonstruktion der Luhmann'schen Theorie untersuchen.
Beginnen wir mit einer vielleicht überraschend wirkenden Bemerkung: in der Luhmann'schen (System-) Theorie geht es nicht um Systeme, sondern um die Welt, und zwar aus einer konkreten Beobachtungsperspektive, unter Anwendung der Unterscheidung von System/Umwelt. Die Beobachtung ist immer eine operative Anwendung der Unterscheidung zwecks Einholung von Informationen. Und in der darauf folgenden Beschreibung wird ein "Text" aufgrund von Beobachtungen aufgesetzt, um eine Struktur zu erfassen, die für weitere Beobachtungen und Beschreibungen als Orientierungsgrundlage dienen kann. Die Beobachtung hat immer einen Kontingenzfaktor, da der Beobachter auch andere Differenzen wählen kann. Wenn er sich jedoch auf ein bestimmtes Differenzierungsschema festlegt, danach gibt es keine Kontingenz mehr, weil er in dem gerade ausgewählten Schema alles nur durch die gegebene Unterscheidung sehen kann. Z.B.: wenn das Rechtssystem - ein Subsystem der Gesellschaft - durch die Unterscheidung 'Recht/Unrecht' die Gesellschaft beobachtet, dann kann in diesem System durch diese Unterscheidung keine Schönheit, Wahrheit oder Liebe nachvollzogen werden. Diese Reduktion schließt aber eine externe Beobachtung des gegebenen Beobachtungsschemas durch eine andere Unterscheidung nicht aus. Durch die Beobachtung von Beobachtungen - von Luhmann als Beobachtung zweiter Ordnung genannt - kann durchaus die Kontingenz der beobachteten Beobachtung aufgedeckt werden. Die wissenschaftliche Beobachtung kann zum Beispiel aufschließen, daß eine Gesellschaft nicht nur durch die Unterscheidung ,Recht/Unrecht', sondern auch durch andere Differenzierungsschemen beobachtet werden kann.
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Die Unterscheidung rührt nicht "selbst aus dem Ding" her. Das Unterscheidungsschema ist immer dem Beobachter Eigen. Das ontologische Wissen gibt dementsprechend keine Auskunft darüber, wie die Welt ist, sondern darüber, welche Rolle das auf die Unterscheidung des Seins und Nichtseins fundierte Wissen im Prozeß unseres Denkens und Kommunizierens spielt. Bei Luhmann wird dadurch nicht die Realität der Außenwelt negiert, sondern nur so viel festgestellt, daß Unterscheidung und Benennung systemrelative Operationen sind. Die Unterscheidung, System/Umwelt' wird immer von Systemen angewendet. Dadurch lassen sich Systeme von der Umwelt absondern. Die Unterscheidung von System und Umwelt ist immer die Konstruktion des gegebenen Systems. Für das System ist diese Unterscheidung jedoch faktisch. "Alles Beobachten findet real in der Realität statt und produziert diesen Unterschied, indem es unterscheidet."[10] Das Wissen ist keine Abbildung der Umwelt in dem System, sondern der Aufbau einer eigenen Konstruktion, und ist gerade daher real - für das System.
Mit dem auf die Faktizität bezogenen Operationsbegriff der Luhmann'schen Theorie wird uns ein Beobachtungsinstrument zur Verfüguchtungsinstrument zur Verfügu der von der Beobachtung unabhängigen Realität verwendet werden kann. Die Unterscheidung der von der Beobachtung "abhängigen" und "unabhängigen" Realität setzt in der selbstreflexiven Theorie wiederum einen Beobachter voraus. Einen Beobachter, der diesmal durch ein Schema "von der Beobachtung abhängige Realität/ von der Beobachtung unabhängige Realität" die Welt beobachtet. Die Selbstreflexivität der Beobachtungen läßt eine Unendlichkeit der Zirkularität erahnen. Gibt es einen Ausweg aus dieser Zirkularität? Luhmann sagt, ja. Es gibt einen faktischen Ausweg. Es gibt Realität. Die Gewißheit der Realität wird für ein System durch die tatsächliche Durchführbarkeit der eigenen Operationen begründet. Hierbei kann das System sich selbst oder die eigene Umwelt oder sogar die ganze Welt negieren, die Negierung bleibt jedoch eine reale Operation innerhalb des Systems, sie ist eine reale Konstruktion für das System.
Die sozialen Systeme sind nur zur Durchführung kommunikativer Operationen fähig (wie dies aus unseren weiteren Ausführungen ersichtlich ist), und das Thema der Kommunikation hat nicht viel Ähnlichkeit damit, worüber kommuniziert wird - bzw. nur in jenen seltenen Fällen, wenn über die Kommunikation selbst kommuniziert wird. Die Kommunikation schafft eine eigene Welt, und die Realität bekommt einen Sinn in diesem Zusammenhang. Ein System erfährt die Realität "in dem Widerstand". "Der Widerstand kann nicht in der Außenwelt, sondern nur im System selbst liegen. /... / Das Bewußtsein glaubt nicht an alles, was es denken kann /... / Und Kommunikation widerspricht Kommunika-
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tion. Jeder Fall von Widerstand ist ein Problem im Verhältnis systemspezifischer Operationen zueinander."[11] Die "Konstruktion" ist daher kein Gegenbegriff der "Realität", sondern eines ihrer Merkmale.
Und damit sind wir bei einem der Grundbegriffe der Luhmann'schen Theorie angelangt, und zwar bei dem Weltbegriff. In dieser Hinsicht hat sich Luhmann immer entschieden gegen die Philosophie Husserls Stellung genommen, und darauf bestanden, daß die Welt nicht auf das Bewußtseinkorrelat reduziert werden kann, wie dies von Husserl definiert wurde:[12] "Wir setzen den Weltbegriff hier als Begriff für die Sinneinheit der Differenz von System und Umwelt ein, und benutzen ihn damit als differenzlosen Letztbegriff."[13] Diese "Differenzlosigkeit" bedeutet, daß die Welt als unfaßbare Einheit gegeben ist. Die Welt ist also unbeobachtbar. Beobachtung bedeutet nämlich die Anwendung eines Differenzschemas und diese Differenzschemas sind nur in der Welt anwendbar, sie können jedoch nicht auf die Welt projiziert werden, da es keine Beobachtungsposition außerhalb der Welt gibt, die von der Welt unabhängig wäre und in welcher die Unterscheidung von "Welt/nicht Welt" angewendet werden könnte. Alle Beobachtungen sind in die Welt eingeschlossen. Wenn die Welt die letzte Gegebenheit ist, dann schließen wir gerade damit die Beobachtbarkeit der Welt aus. Die Autopoiesis der Sinnsysteme bedeutet die Ausdifferenzierung von der Umwelt. Das System, das mit der Unterscheidung, System/Umwelt' arbeitet, schneidet sich aus der Welt heraus, und ordnet alles außerhalb seines selbst zur Umwelt. Daher ist die Welt nicht anderes, als eine Einheit, die alle 'System/Umwelt' Differenzen zusammenfaßt. Alle Beobachtungen bleiben innerhalb des Welthorizonts[14]. Und an diesem Punkt wird eindeutig eine Anknüpfung an Husserls Horizontbegriff ertappt. In der Luhmann'schen Theorie trägt der Horizont folgende Bedeutung: der Horizont "symbolisiert einerseits die Endlosigkeit des Und-so-weiter möglicher Aktuali-
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sierung und andererseits die Unergiebigkeit des aktuellen Vollzugs dieser Unendlichkeit. Der Horizont ist keine Grenze, man kann ihn nicht überschreiten. Irgendwann muß man umkehren, und der Gegenhorizont gibt dafür die Richtung an."[15]
Der zweite Grundbegriff der Luhmann'schen Theorie ist der Sinn. Wie es bereits aus der Habermas-Luhmann Debatte vom 1971 eindeutig herausstellte, Luhmann hält den Sinnbegriff für einen Grundbegriff der soziologischen Untersuchungen. Und hier ist wiederum eine klare Verbindung mit Husserl zu finden. Bei der Definierung des Sinnbegriffs nimmt Luhmann explizit auf Husserl Bezug. "Das Phänomen Sinn erscheint in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns. Etwas steht im Blickpunkt, im Zentrum der Intention, und anderes wird marginal angedeutet als Horizont für ein Und-so-weiter des Erlebens und Handelns. Alles, was intendiert wird, hält in dieser Form die Welt im ganzen sich offen, garantiert also immer auch die Aktualität der Welt in der Form der Zugänglichkeit."[16]
Die Erfassung des Sinns wird dadurch erschwert, daß er nicht wie ein Ding betrachtet werden kann. Der Sinn ist ein Verweisungsüberschuß, der Vorbehalt des auch anders möglich Seins. Kurz: eine Kontingenz. In Luhmanns Sicht kann es gerade darum über einen externen "Träger" nicht die Rede sein. "Sinn trägt sich selbst, indem er seine eigene Reproduktion selbstreferentiell ermöglicht."[17] Wenn wir schon einen "Träger" suchen, dann ist der Träger die Differenz in den Sinnverweisungen. Luhmann hat den Sinnbegriff von der philosophischen Tradition abgelöst, in welcher der Sinn als Leistung des Subjekts erschien. In Luhmanns Sicht ist Sinn ein charakteristisches Merkmal sowohl für das psychische als auch für das soziale System. Im psychischen System kann der Sinn als Netz aufeinander verweisenden Gedanken, im sozialen System als Netz aufeinander verweisenden Kommunikationen begriffen werden. Sinn verweist auf weiteren Sinn, und damit sind wir bei einem - in Zusammenhang mit dem Weltbegriff bereits angesprochenen - Problem angelangt. Hier geht es wiederum um die Frage der Beobachtung. Sinnsysteme können nur sinnhafte Operationen durchführen. Sie können zwar bestimmte eigene Operationen als sinnlos bezeichnen, aber solche Bezeichnungsoperationen sind wiederum sinnhaft geformt. Der Sinnverlust ist eine Aussage über das Nichtvorhandensein des Sinns, die nur im Licht des Sinns einen Sinn hat. "Für sinnkonstituierende Systeme hat alles Sinn; für sie gibt es keine sinnfreien Ge-
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genstände"[18] Wenn es so ist, dann darf der Schluß nicht überraschend wirken, daß der Sinn - wie die Welt auch - für die Sinnsysteme unbeobachtbar ist. Der Sinn wäre nämlich nur dann zu beobachten, wenn es eine Beobachtungsposition außerhalb des Sinnes gäbe, wo die Unterscheidung von Sinn und Unsinn anzuwenden möglich wäre. So eine Beobachtungsposition gibt es aber für die Sinnsysteme - gerade weil sie Sinnsysteme sind - nicht.
Die Autopoiesen der Organismen und deren Elemente sind verhältnismäßig beständig, die in der Autopoiesis der Sinnsysteme reproduzierbaren Elemente (Kommunikationen, Gedanken) sind dagegen "temporisiert", das heißt, sie haben einen Ereignischarakter. Und Ereignisse pflegen zu erscheinen und zu verschwinden. Wenn Verbindungen trotzdem zustande kommen, dann ist dies dem Sinn zu verdanken, der Erinnerungsvermögen und Vorstellungskraft hat und imstande ist zu negieren. In der sozialen Welt sind die zwischen System und Umwelt gezogenen Grenzen immer Sinngrenzen. Bei Luhmann wird die Sinnproblematik in drei Dimensionen behandelt: Sachdimension, Zeitdimension und Sozialdimension.
- Sachdimension': In den Kommunikationen und Gedanken geht es immer um etwas, wodurch alles andere aktuell ausgeschlossen wird. Wenn wir "über etwas" kommunizieren, bzw. nachdenken, dann begreifen wir die Welt als eine Möglichkeit der Dinglichkeit, das heißt, im Zusammenhang der Sachdimension benutzen wir das auf die Dinglichkeit der Realität vereinfachtes Schema.
- Zeitdimension: Aus dieser Sicht geht es nicht nur darum, daß eine Kommunikation immer "von einem gewissen Zeitpunkt bis zu einem gewissen Zeitpunkt" dauert, sondern auch darum, daß die Gedanken "nach vorne und nach hinten verweisen". Durch diese Verweisungen werden die Horizonte der Vergangenheit und der Zukunft eröffnet. Die zwischen Vergangenheit und Zukunft eingekapselte Gegenwart ist irreversibel, aber gleichzeitig auch reversibel, das heißt, unsere Gegenwart ist zweierlei. Wir können sie in der als irreversibler Fluß apperzipierten Zeit als Punkthaftigkeit erleben, aber auch als Ausdehnung (wenn wir z.B. eine Antwort erwarten), d.h. als Zeitdauer, in welcher die für Kommunikation und Gedanke im Laufe der irreversiblen Geschehnisse noch sichtbare Vergangenheit und bereits ersichtliche Zukunft zur Gegenwart wird.
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- Sozialdimension: In diesem Zusammenhang geht es um das Verhältnis zwischen "Ego" und "Alter" und ihre gegenseitige Erfahrung übereinander. Diese Dimension wird in der Verdoppelung der aufeinander bezogenen Weltapperzipierungen von "Ego" und "Alter" verwirklicht. Die Sozialität der Sinnthemen wird als Verweisung auf verschiedene Anschauungen erfahren, und die Sozialität wird durch die fortwährende Möglichkeit des "Konsenses und Dissenses" jener Kommunikationen laufend neugeschaffen, in welchen die verschiedenen Anschauungen zum Ausdruck kommen.
Die soziale Dimension des Sinnes erscheint also nicht in dem letztendlichen Konsens (wodurch ja alle verschiedene Perspektiven ausgelöscht würden), sondern in den bifurkativen Kommunikationsformen von Konsens und Dissens. Vorbedingung der Kommunikation: es sollen verschiedene Beobachtungen, ungleiche Perspektiven und Situationen vorhanden sein, und das alles soll sich laufend reproduzieren. Wenn es das alles nicht mehr gibt, dann gibt es nicht mehr, worüber man kommuniziert.
Der Sinn, wie erwähnt, drückt sich in der Kommunikation und im Gedanken aus. Suchen wir die Spuren der Husserl'schen Phänomenologie erst im Bereich der Kommunikation. Aus Luhmanns Sicht ist die Kommunikation die selektiv aufeinander bezogene Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen. "Die Differenz von Information und Mitteilung, auf die das Verstehen sich bezieht und die sich ihrerseits auf Verstehen projiziert, erscheint in den logischen Untersuchungen Husserls als Differenz von Anzeichen und Ausdruck."[19] Außer der Verbindung sind die Unterschiede zwischen der Husserl'schen Phänomenologie und der Luhmann'schen Systemtheorie ebenfalls sehr wichtig. Dies ist - unter anderem - aus dem folgenden Zitat von Luhmann genau ersichtlich: "In unsere Begriffssprache übersetzt, meint ,Ausdruck' nichts anderes als die Autopoiesis des Bewußtseins, und ,Sinn' bzw. ,Bedeutung' meint die Notwendigkeit, hierfür in der Form einer intentionalen Beziehung auf etwas Struktur zu gewinnen. Es gibt demnach Zeichen mit Ausdruckswert und Zeichen ohne Ausdruckswert, und es gibt Ausdruck mit Zeichenverwendung und Ausdruck ohne Zeichenverwendung (letzteres beim bloßen Vollzug des ,einsamen Seelenlebens', bei innerer Rede) Nur im Falle von Kommunikation fällt beides zwangsläufig zusammen: in der kommunikativen Rede fungieren alle Ausdrücke als Anzeichen. Husserls philosophisches Interesse gilt jedoch nicht dem Anzeichen, sondern dem Ausdruck, das heißt, dem, was das Bewußtsein in sich selbst für sich selbst vollzieht."[20]
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Als Hintergrund für diese philosophische Aufmerksamkeit hat Luhmann die unzureichende Erfassung der Kommunikation genannt. In einer Reduktion, wo Kommunikation nur als Handlung, oder als Rede, oder als Mitteilung aufgefaßt wird. Kommunikation ist aber in Luhmanns Sicht eine Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen. Die Grundlage der reduktiven Erfassung der Kommunikation sah Luhmann in den - bis heute lebendigen - Auswirkungen jener philosophischen Tradition (Husserl gehörte ja auch zu dieser Tradition), in welcher dem Eigenleben des Bewußtseins ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. Die soziale Dimension des Sinnes - wie bereits früher erwähnt - setzt einen gegenseitig aufeinander bezogenen Doppelhorizont von Ego und Alter voraus, und dies drückt sich in der Kommunikation aus. Gerade darum wird die Intersubjektivitätstheorie Husserls von Luhmann nicht akzeptiert.[21] "Soziales läßt sich nicht auf die Bewußtseinsleistungen eines monadischen Subjekts zurückführen. Daran sind alle Versuche einer Theorie der subjektiven Konstitution von 'Intersubjektivität' gescheitert."[22]
Luhmann zieht eine klare Trennungslinie zwischen das soziale und das psychische System. Während in den sozialen Systemen der Sinn sich durch Kommunikation ausdrucken läßt, wird in den psychischen Systemen (in anderen Worten: im Bewußtsein) diese Funktion von Gedanken erfüllt. Auch in der Deutung von psychischen Systemen kann der Einfluß Husserls ertappt werden. Luhmann unterstreicht, daß Denken keine "innere Rede" sei, da es kein innerer Adressat gibt, und dabei lehnt er sich ausdrücklich an die Husserls'sche Argumentation. Husserl argumentierte wie folgt: "Die innere Rede würde Zeichengebrauch erfordern und das sich selbst präsente Bewußtsein ist darauf gerade nicht angewiesen"[23] Wenn wir dem Selbst unser Selbst beschreiben, dann kommunizieren wir nicht mit einem, alter Ego'. Dem eigenen Selbst braucht man nicht durch Zeichengebrauch zu erklären, was das "Ich" ihm mitteilen will. Luhmann meint, daß Husserls Argument gerade die Geschlossenheit des Bewußtseins beweist, und dies spricht ebenfalls dafür, in der Konstitution der Sozialität uns nicht an das Bewußtsein zu lehnen.
Zusammenfassend können wir feststellen, daß die Husserl'schen Einflüsse in Luhmanns theoretischen Werken dauernd präsent waren. Diese Einflüsse beschränken sich nicht nur auf die Anfangsperiode, die ersten Jahrzehnte seiner Laufbahn, sondern sie lassen sich auch später aufspüren.[24] Husserl diente mit wichtigen Ausgangspunkten, und die Bedeutung dieser Tatsache wird auch
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dadurch nicht vermindert, daß Luhmann sich in seinen theoretischen Lösungen bereits von Husserl entfernte. Trotz aller Distanz hat Luhmann die theoretische Verwandtschaft nie zu leugnen versucht. Ganz im Gegenteil, er hat sogar mehr gesagt: "Meine Vermutung ist, daß man beide Theoriesprachen (transzendentale Theorie von Husserl und Systemtheorie von Luhmann - Autor) mehr, als es zur Zeit gesehen wird, ineinander übersetzen kann."[25]
Husserl hat eine ähnliche Rolle in der Gestaltung der Luhmann'schen Systemtheorie gespielt, wie Parsons. Parsons war eine Inspiration im Bereich der Soziologie, Husserl im Bereich der Philosophie. Aber 'Inspiration' ist nicht der richtige Ausdruck. Es ging hier um mehr: diese beiden Denker haben in der wissenschaftlichen Strenge sowie in ihr Bestreben, das eigene Bereich zu erneuern als Vorbild für Luhmann gedient. Die Verbindung zu Husserl ist aber leider weitaus weniger bekannt und erforscht, wie die Parson'schen Einflüsse. Wahrscheinlich ist der Grund darin zu suchen, daß die Philosophen sich weniger für die Luhmann'sche Theorie interessieren. Diese kurze Zusammenfassung sollte als bescheidene Korrektion dienen.
Husserl played similar part in the development of the Luhmannian systems theory as Parsons did. While Parsons gave inspiration to Luhmann in the domain of sociology, Husserl did so in that of philosophy. But it is not exact to speak of inspirations only, there was more than that. The two thinkers simultaneously served for Luhmann as models of scientific rigorousness and of determination to renew their own fields of science. Unfortunately, the Husserlian influence is not as much explored as Parsons' influence. That's the reason for that can presumably be found in philosophers being less interested in Luhmann's theory than in Parsons'. This brief writing wishes to correct that to a little degree. ■
ANMERKUNGEN
[1] Niklas Luhmann: Die Lebenswelt - nach Rücksprache mit Phänomenologen, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 72 (1986). S. 176-194.
Niklas Luhmann: Intersubjektivität oder Kommunikation: Unterschiedliche Ausgangspunkte soziologischer Theoriebildung, Archivio di Filosofia 54 (1986), S. 41-60. Niklas Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie. Wiener Vorlesungen; Wien, Picus Verlag, 1996.
[2] Niklas Luhmann: Archimedes und wir. Berlin, Merve Verlag, 1987. S 132.
[3] Franz-Xaver Kaufmann: Ein Wittgenstein'sches Schweigen. In: Rudolf Stichweg (Hg.): Niklas Luhmann - Wirkung eines Theoretikers. Transcript Verlag, Bielefeld, 1999. S.11.
[4] Siehe z.B.: Martin Heidegger: Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809). Tübingen, Max Niemeyer Verlag, 1971.
[5] Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1985. S.30.
[6] Ibid: S. 31.
[7] Ibid: S.24-25.
[8] Johannes Berger: Autopoiesis: Wie "systemisch" ist die Theorie sozialer Systeme, Hans Haferkamp - Michael Schmidt (Hg.): Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Frankfurt a.M., Suhrkamp Verlag, 1987. S. 129-154.
[9] Siegfried Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems, Literatur im 18. Jahrhundert, Suhrkamp, Frankfurt a.M., S. 28. Eine ähnliche Kritik wird bei Armin Nassehi dargelegt: Wie wirklich sind Systeme? Werner Krawietz - Michael Welker (Hg.): Kritik der Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag, 1992. S. 48.
[10] Niklas Luhmann: Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag, S.92.
[11] Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 4., Frankfurt a.M., Suhrkamp Verlag, 1995. S. 168.
[12] Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Bd. I. Husserliana Bd. III. Den Haag, Nijhoff, S. 114.
[13] Niklas Luhmann: Soziale Systeme, Frankfurt a.M., Suhrkamp Verlag, 1985. S. 283.
[14] Laut der Kritik von Thomas hat Luhmann den Weltbegriff in verschiedenen Kontexten mit verschiedenen Bedeutungen benutzt, daher ist seine Theorie inkonsequent. Thomas unterscheidet folgende Kontexte:
a) Welt als systemrelative Sinneinheit der Differenz 'System/Umwelt', d.h. die Welt, wie sie aus der Perspektive des Systems erscheint,
b) Welt als Letzthorizont - und diese Bedeutung überschreitet die Perspektive des Systems,
c) die "wirkliche Welt", mit ihrer alltäglichen Definition.
Günther Thomas: Welt als relative Einheit oder als Letzthorizont? In: Werner Krawietz -Michael Welker (Hg.): Kritik der Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a.M., Suhrkamp Verlag, 1992. S. 327-354. Eine ähnliche Kritik wird bei Zolo artikuliert. Daniel Zolo: Reflexive Selbstbegründung der Soziologie und Autopoiesis. Soziale Welt 36. (1985/4), S. 519-534.
[15] Niklas Luhmann: Soziale Systeme.,Frankfurt a.M., Suhrkamp Verlag, 1985. S. 114.
[16] Ibid. S. 93. Vgl.: Edmund Husserl: Ideen zu einer Phänomenologie und phänomenologischen Philopsophie Bd. I. Husserliana Bd. III. Den Haag, Nijhoff, S. 57 ff., 100 ff.
[17] Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag, 1985. S. 141.
[18] Ibid.: S. 110.
[19] Ibid: S. 201. Edmund Husserl: Logische Untersuchungen Bd. II. § 1. 1-8. Halle, 1922
[20] Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt a.M., Suhrkamp Verlag, 1985. S. 201-202.
[21] Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen, Husserliana Bd. I. Den Haag, Nijhoff, 1950. S. 122., Edmund Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Husserliana Bd. 13-15.
[22] Niklas Luhmann: Soziale Systeme, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 195. S. 120.
[23] Edmund Husserl: Logische Untersuchungen II. § 1, 8. Halle, 1922. S. 35 ff.
[24] In den siebziger Jahren hat Scholz ganz genau die Verbundenheit mit Husserl beschrieben. Frithard Scholz: Freiheit als Indifferenz. Frankfurt a.M., Suhrkamp Verlag, 1982.
[25] Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung 6. Westdeutscher, Opladen, 1995. S. 171.
Lábjegyzetek:
[1] Lehrstuhl für Philosophie, Telephonnummer: (36-1) 411-6500, e-mail: karacsony@ajk.elte.hu
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