Bei Diskussionen über die Dauerhaftigkeit von Strafverfahren ist die Behauptung fast klischeehaft, die meissten Verfahren seien ich in Ungarn die Interessen der Gesellschaft befährdend lang hinausgezögert.[1] Bei langwierigen Strafverfahren wird der Fall kompliziert und schwer behandelbar, eventuell fallen erhebliche Kosten an und der Zweck der Prävention wird schwer erreichbar, beziehungsweise kann sogar die Strafbemessung ihre Bedeutung verlieren. Man stellt dann immer fest, dass wir unser Strafprozessrecht modernisieren und es von steifen Formalitäten, wenig oder nichts garantierenden Regeln befreien müssen, welche - ergänzt mit Bestimmungen, die eine vorsätzliche Verzögerung des Verfahrens, also den Missbrauch mit den Verfahrensrechten ermöglichen - die Zeitgerechtigkeit der Verfahren verderben.
Wenn wir über die Notwendigkeit der Beschleunigung des Strafverfahrens sprechen, beziehen wir uns gerne auf europäische Rechtssysteme mit langer Vergangenheit und signifikanten rechtsstaatlichen Traditionen, besonders auf das deutsche und österreichische System. Nicht selten werden deutsche und österreichische Rechtsinstitutionen oder Rechtsnormen komplett übernommen. Wobei dies auch verständlich ist, da das deutsche, österreichische und ungarische Rechtssystem in die selbe - römisch-germanische -Rechtsfamilie gehört. Die deutsche und österreichische, beziehungsweise generell die westeuropäische und angelsächsische juristische Lösungen werden oft ohne Kritik gelobt und die Bezugnahme auf diese ist sehr populär. Die Autorität einer rechtlichen Konstruktion wird oft befestigt, in dem man sie mit ihren deutschen und österreichischen Äquivalenten vergleicht. Es wäre jedoch notwendig, die Lösungen von Rechtssystemen mit unbestreitbar signifikanten und entwickelten Traditionen mit erforderlicher Kritik zu betrachten. Besonders wichtig wäre dies jetzt, wo die Idee eines neuen Strafverfahrenskodexes aufgetaucht ist,[2] in welchem das Hauptmotiv, neben der Sicherung von den verfassungsmäßigen Garantien und Verfahrensrechten, die Beschleunigung der Verfahren sein sollte.[3] Bei den Diskussionen über die Beschleunigung der Verfahren in Ungarn bezieht man sich oft auf die westliche Muster, nach der west-europäische Staaten große Fortschritte gemacht haben. Man sollte jedoch mit dem nötigen Vorsicht vorgehen und vor allem prüfen, welchen Preis die Beschleunigung der Verfahren haben kann. Bei den Debatten werden oft konkrete Beispiele genannt. "Im Fall des in Norwegen im vergangenen Sommer begangenen Massenmordes ist es zuletzt zu einer Entscheidung gekommen, von der Straftat bis zur Beurteilung ist kaum mehr als ein Jahr vergangen, davon nahm der Strafprozess selbst ca. zwei Monate in Anspruch. Es ist nicht zu erdenken, wie lange dies in Ungarn gebraucht hätte (...)" - so die Bezugnahme auf den Fall des norwegischen Massenmörders[4] im Artikel. Es gibt einiges zu bedenken, wie es in einer Sache, wo der Fall des Täters von mehr als 70 Mordtaten verhandelt wird, innerhalb eines Jahres zu einer sachlichen Entscheidung kommen kann?[5] Um sich der Frage gutmütig zu nähern, ist die Zusammenarbeit seitens des Täters während der ganzen Verhandlung nicht fraglich, er hat seine Tat bis zum kleinsten Detail enthüllt, nachdem er das Begehen stolz erkannt hat. Damit ist von einem Leugnen, also einer aktiven Verteidigung, welche die Beweisführung am meisten komplizieren kann, von Anfang an keine Rede. Wir können annehmen, dass es im Fall relativ wenige Zeugen gegeben hat, da der Täter das Leben der meisten potenziellen Zeugen ausgelöscht hat. Es kann mit Sicherheit angenommen werden, dass die am Leben gebliebenen Zeugen unter besonderen Zeugenschutz gekommen sind und diese so an der Verhandlung nicht teilnehmen mussten, sie wurden separat vernommen. Demzufolge wurde auf Gegenüberstellungen und Fragestellungen durch den Staatsanwalt und Anwalt, die alle die Verhandlung länger machen, verzichtet. Ich nehme an, dass die norwegische Gerichtssachverständigen und die Justiz in Norwegen nicht überlastet sind, die Verhandlung konnte also außer der Reihe stattfinden.[6] All diese Umstände haben zu einer schnellen Beurteilung beigetragen. Wenn man den Fall aber eher kritisch betrachtet, wird der Zweifel stark, dass eine oberflächliche, gehudelte Ermittlung von einer ebenfalls groben Verhandlung und einem groben Urteil gefolgt war. Die Arbeitsumstände und Statistiken der Arbeitsbelastung in Norwegen können noch so ideal sein, trotzdem ist es schwer zu glauben, dass es zu einem, den hohen qualitativen Erwartungen der ungarischen Justiz entsprechenden Prozess
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gekommen ist. Obwohl die rechtliche Beurteilung des Falles nicht kompliziert ist, würden das Volumen und das Ausmaß des Falles sowie die Einhaltung der zahlreichen Verfahrensgarantien keine solch schnelle Beurteilung in Ungarn ermöglichen. Allein dies ist jedoch kein nach einer Lösung schreiendes Problem. Ich denke nicht, dass die Tendenz der Rechtsentwicklung eine oberflächliche, mittelmässige und unbegründete Rechtssprechung sei. Ich glaube nicht, dass man die Begründung und das Niveau der Urteile auf dem Altar der Schnelligkeit opfern sollte. Es ist nicht schwer einzusehen, dass der ansonsten wichtige Zweck der Schnelligkeit nicht absolutisiert werden kann, er kann nicht so priorisiert werden, dass dabei wichtige strafverfahrensrechtliche und strafmateriellrechtliche Prinzipien beschädigt werden. "(...) die Beschleunigung der Verfahren betreffend wurden fast alle Optionen ausprobiert, man sollte aber diesen Aspekt so und so nicht absolutisieren, da die Begründung und Rechtlichkeit der Entscheidung mindestens so wichtig sind."[7] Das norwegische Beispiel ist nicht einzigartig, was die Dauer des Verfahrens angeht. Die Frage stellt sich auch bei Martin M., von den deutschen Medien nur als "Maskenmann" genannten pedophilen Serienmörder, welcher etwa 20 Jahre lang in nord-deutschen Sommercamps eine Straftatserie gegen das Leben und Sittlichkeit von Kindern begangen hat. Wie konnte bei diesem Täter binnen einem Jahr nach Besorgung des kardinalen Beweises - einer zum Täter führenden Zeugenaussage - die Ergreifung des Verdächtigten und ein Urteil von lebenslanger Freiheitsstrafe gesprochen werden?[8] Wobei der Fakt bekannt ist, es wurden während dieser ca. 20 Jahre langen Phase[9] in Nord-Deutschland fünf Kinder mit ähnlichen Methoden[10] umgebracht und fast vierzig Kinder vergewaltigt. Meine Annahme ist wahrscheinlich nicht ohne jeglichen Grund, dass die Anklage auf die Auswahl einiger, beweisbarer Verbrechen gegen das Leben und Sittlichkeitsverbrechen basierte, welche Straftäte auch vom Täter eingestanden wurden und der Rest der Fälle einfach nicht untersucht wurde.[11] Wir haben Grund anzunehmen, dass ein, mit ungarischem Auge betrachtet unglaublich schnelles Verfahren durch ein, bis zum primitiven Niveau vereinfachtes Verfahren, eine oberflächliche und grobe Ermittlung und Rechtssprechung ermöglicht wird, wobei nicht einmal unbedingt die geringsten Garantien sichergestellt sind. Die Frage ist, ob wir es benötigen oder nicht.
Ich versuche es durch die Vorführung eines in Deutschland, in Bayern passierten Verkehrfalls zu demonstrieren, welche grobe Fehler durch die west-europäische, gezielte Anstrebung der Vereinfachung und Beschleunigung der Strafverfahren entstehen können. Nach Recherchen meinerseits komme ich zur Konsequenz, dass es sich um keine außerordentlichen Einzelfälle handelt. Ich halte im Voraus fest: im Folgefall waren eine sehr gründliche und ausdauernde juristische Arbeit und eine außerordentlich entschlossene Verteidigung nötig, um die, durch die Praktiken eines vereinfachten und beschleunigten Prozesses entstandene Fehler zu beheben. Demzufolge wurde die Absicht des Gesetzgebers nicht erfüllt und der Vorgang bei diesem, ansonsten als einfach angesehenen Fall bis zu zehn Monate hinausgezögert.
Es passierte am 4. August 2011 ein Unfall auf dem Serviceweg einer Tankstelle neben einer bayerischen Autobahn. Ein Mercedes Geländewagen, welcher den Parkplatz ohne Rundschau verlassen hat, fuhr von rechts in den auf dem Serviceweg fahrenden LKW. Es wurden keine Personen verletzt, jedoch ergab sich im PKW ein Schaden von 19.000,- EUR, der LKW wurde nur leicht beschädigt. Der LKW war von einem ungarischen, der Mercedes von einem deutschen Staatsbürger gefahren. Es kam zu polizeilicher Massnahme des Vorfalls. Der an der Unfallstelle vorgehender Polizist rief keinen Dolmetscher zum Ort, die ungarische Botschaft wurde über den Unfall nicht verständigt. Gegenüber den ungarischen LKW-Fahrer und seinen Mitfahrer wurde ein ausdrücklich arroganter Ton, gegen den deutschen PKW-Fahrer und dessen Begleitung ein auffällig höflicher Ton angewandt. Während der Massnahme wurde ein deutschsprachiges Dokument - ohne übersetzt zu sein - dem LKW-Fahrer vorgelegt und ihm unterschrieben lassen, danach teilte der Polizist dem LKW-Fahrer mit, er hätte ein schweres Verbrechen begangen, wofür gegen ihn demnächst eine Anzeige erstattet wird.[13] Am 14. November 2011 wurde der LKW-Fahrer vom Ortsgericht, ohne eine Verhandlung abgehalten zu haben, aufgrund der zur Verfügung stehenden Dokumente in einem sogenannten Strafbefehlsverfahren schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe von 1.200,- EUR wegen fahrlässiger Gefährdung des Strassenverkehrs verurteilt, sowie wurde dem Fahrer das Fahren für zwei Monate untersagt. Der Strafbefehl wurde dem Angeklagten am 6. Januar 2012 als einfache Postsendung zugestellt. Das heißt, der Strafbefehl wurde nicht durch einen Postbeamter ausgehändigt, der LKW-Fahrer musste keinen Rückempfangsschein unterschreiben. Später wurde klar: das Gericht hat den Strafbefehl trotz vorhandene Wohnanschrift des Angeklagten und die durch das EU-Recht ermöglichte direkte
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Zustellung der Gerichtsdokumente nicht an den LKW-Fahrer, sondern an den, im Vorgang vorgehenden Polizisten versendet, dieser sei der Zustellungsbevollmächtigte des Angeklagten. Demzufolge wurde der Strafbefehl vom Polizisten als Zustellungsbevollmächtigten an den Angeklagten zur Verständigung als einfacher Brief weitergeleitet. Als der Strafbefehl als einfacher Brief den Angeklagten erreicht hat, war der für das Rechtsmittel festgelegte Zeitraum von 14 Tagen schon abgelaufen.[14]
Nach dem Erhalt des Strafbefehls am 6. Januar 2012 hat der LKW-Fahrer die Mitwirkung von Rechtsspezialisten beansprucht und am 9. Januar einen Einspruch, samt von ihm selbst gefertigter Aufzeichnungen vom Unfall und die Aussage des Mitfahrers in ungarischer und in deutscher Sprache mit Rückempfangsschein dem Gericht zugesandt.
Das Gericht hat den Einspruch am 12. Januar 2012 entgegengenommen und mit der Begründung abgelehnt, er sei zu spät angekommen. Der Beschluss, datiert am 26. Januar 2012, wurde wiederum an den im Fall vorgehenden Polizisten als Zustellungsbevollmächtigten übergeben. Der Zustellungsbevollmächtigte hat diese Postsendung am 13. Februar, also die Berufungsfrist weit überschrittend und als einfachen Brief an den Angeklagten weitergeleitet.
Als der Angeklagte den Beschluss erhielt, hat er wegen der Ablehnung unverzüglich eine Beschwerde per Post und Telefax eingereicht. Zur gleichen Zeit wandte er sich mit einer Eingabe an den bayrischen Ombudsmann und an Amnesty International. Die Amnesty International hat die Eingabe abgelehnt, da es sich dabei um keine politische Sache handelte.
Am 24. März 2012 wurde der Angeklagte vom Amt des bayrischen Parlaments darüber informiert, dass der Verfassungs- und Rechtsausschuss die Dokumente vom Gericht einfordern und die Angelegenheit verhandeln wird. Währenddessen wurde die Beschwerde zur zweitinstanzlichen Beurteilung dem Landgericht vorgelegt. Das Landgericht hat den Beschluss über die Ablehnung des Einspruchs durch das örtliche Gericht vernichtet und die Durchführung der Verhandlung angeordnet, da es den früher abgelehnten Einspruch und die Beschwerde für rechtmäßig erhielt.
Demnach beraumte das Ortsgericht die Verhandlung an und lud den Angeklagten zur Verhandlung diesmal direkt, nicht über den Zustellungsbevollmächtigten vor. Außer den Angeklagten wurden der Geschädigte (der Fahrer des Geländewagens) und der vorgehende Polizist als Zeugen eingeladen. Die an den Angeklagten verschickte Sendung beinhaltete die Information, dass das Verbot der Straferhöhung im Fall der Abhaltung der Verhandlung im Sinne des deutschen Rechtes nicht ausgeschlossen wird. Dies ist vor allem deswegen interessant, weil die Abhaltung der Verhandlung nur vom Angeklagten beansprucht wurde, der Staatsanwalt hat es nicht beantragt. Der durch den Angeklagten bezeichnete Zeuge wurde zur Verhandlung nicht vorgeladen und trotz Antrag des Angeklagten wurde kein Verteidiger beigeordnet. Genauso wurden die Anklageschrift und die in der Sache entstandenen andere Dokumente trotz mehrmaligem Ersuchen des Angeklagten nicht zu seiner Verfügung gestellt.
Bei der Verhandlung wurden nur der Angeklagte und der Geschädigte verhört. Auf die Vernehmung des durch das Gericht vorgeladenen Polizist-Zeugen und des durch den Angeklagten eingebrachten Zeugen wurde mit der an der Verhandlung vorgetragene Begründung verzichtet, dass die Anklage nicht bewiesen werden kann, deshalb wird das Strafverfahren eingestellt. Seitens des LKW-Fahrers kann eine Ordnungswidrigkeit des Schnellfahrens festgelegt werden und dieser muss deswegen eine Geldstrafe von 100 EUR bezahlen. Der Beschluss des Gerichts über die Einstellung des Verfahrens, beziehungsweise über die Beurteilung der Ordnungswidrigkeit wurde durch den Staatsanwalt und den Angeklagten ebenfalls zur Kenntnis genommen und trat auf diese Weise in Rechtskraft.
Im deutschen Recht ist das Strafbefehlsverfahren eine vereinfachte Verfahrensform, ein vom allgemeinen abweichendes Sonderverfahren, dessen Vorschriften in den leicht beurteilbaren Sachen angewandt werden können. Der Vorgang entspricht dem ungarischen Rechtsinstitut "Verzicht auf die Verhandlung". "Laut § 407 I. 1. 1. StPO[15] ist dieses Verfahren bei Straftäten angebracht, bei denen die Entscheidung von einem Einzelrichter (StGB[16] § 12 II.) getroffen wird".[17] Eine Sache kann auf den Antrag vom Staatsanwalt auf diese Weise verhandelt werden. In diesem Fall wird die Ausgabe des Strafbefehls beim Gericht beantragt, wobei die Anwendung einer bestimmten Rechtsfolge auch angeregt wird. "Die Anklageerhebung passiert durch den Antrag auf den Strafbefehl. Das Gericht hat insbesondere die folgende Entscheidungsmöglichkeiten: der Richter lehnt den genügenden Verdacht des Verbrechens und die Ausgabe des Strafbefehls ab (StPO § 408 II), gibt den Strafbefehl aus, wenn sich keine Zweifel erheben (StPO § 408 III. 1.), also wird dem genügenden Verdacht des Verbrechens stattgegeben und die Sanktion als angemessen ersehen. (.) Der Richter beraumt die Verhandlung an (StPO 408 § III. 2.)."[18] Der Angeklagte kann
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gegen den Strafbefehl einen Einspruch erheben und um die Abhaltung einer Verhandlung bitten. Dazu muss der Einspruch innerhalb von zwei Wochen nach der Mitteilung in deutscher Sprache beim Gericht eingereicht werden. Der Einspruch wird vom Gericht im Falle einer Verspätung abgelehnt, ansonsten wird eine Verhandlung anberaumt. Sollte die Sache in die Verhandlungsphase kommen, so wird diese gemäß den allgemeinen Vorschriften verhandelt. "Bei Abschluss der Verhandlung wird ein vom Strafbefehl vollkommen unabhängiges Urteil getroffen,[19] wenn ein Einspruch eingereicht worden war (StPO§ 411 IV.). Sollte kein Einspruch gegen den Strafbefehl erhoben werden, wird der Strafbefehl mit dem rechtskräftigen Urteil gleich."[20].
Am Strafbefehlsverfahren gibt es nichts auszusetzen, das ungarische Strafverfahrensgesetz kennt auch den Vorgang wobei auf die Verhandlung verzichtet wird. Wichtig ist aber, dass dieser Vorgang laut der ungarischen Verfahrensregeln nur dann angewendet werden kann, wenn sich der Beschuldigte auf freiem Fuss befindet, die Tat mit einer Freiheitsstrafe unter fünf Jahren bestraft werden kann, der Sachverhalt nicht kompliziert ist, der Angeklagte das Begehen der Straftat gestanden hat[21] und der Zweck der Strafe auch ohne Verhandlung erreicht werden kann. Die Abhaltung einer Verhandlung kann also ausschließlich dann umgegangen werden, wenn der Beschuldigte das Begehen der Straftat zugegeben hat. Laut der Rechtssprechung ist das Geständnis mit dem faktenmäßigen Geständnis nicht gleich, das muss sich auf die Schuldigkeit erstrecken, das heisst, der Beschuldigte muss gestehen, dass er die Rechtsnorm verletzt und eine Straftat begangen hat. Ohne das darf die Strafsache mit Abstandnahme von der Verhandlung nicht beurteilt werden, nicht mal unter dem Bestand aller anderen Bedingungen, da jeder das Recht zur Verhandlung hat. Grundlegendes Verfahrensrecht ist das Recht zur Vernehmung und jeder hat das Recht, dass das unabhängige und unparteiische Gericht im Rahmen eines anständigen Verfahrens in seiner Sache entscheidet. Die ungarische Rechtssprechung ist darin auch einig, dass der Angeklagte den Beschluss, den das Gericht mit Abstandnahme von der Verhandlung gefasst hat, nur persönlich übernehmen darf, so darf also der Beschluss weder dem Zustellungsbevollmächtigten noch einem anderen stellvertretenden Empfänger übergeben werden. Insofern, sollte der Beschluss auf das Gericht mit der Postbemerkung "der Empfänger hat es nicht gesucht" zurückkommen, heisst das, dass der Postbeamter den Empfänger in seinem Zuhause nicht gefunden hat, beziehungsweise für ihn den Beschluss unmittelbar nicht übergeben konnte und der Empfänger die Postsendung im Postamt nicht gesucht hat. So ist der Beschluss - abweichend von den allgemeinen Zustellungsvorschriften - als "nicht zugestellt" zu betrachten. In diesem Fall muss das Gericht die Sache nach den allgemeinen Vorschriften zur Verhandlung ansetzen. Laut den ungarischen strafverfahrensrechtlichen Vorschriften sowie der ungarischen Judikatur ist es ein absoluter und unbedingter Grund zur Außerkraftsetzung, wenn das Gericht den durch Abstandnahme von der Verhandlung gefassten Beschluss nicht direkt dem Beschuldigten, sondern zum Beispiel dem Zustellungsbevollmächtigten zugestellt hat. Gemäß den ungarischen Verfahrensvorschriften ist es ausgeschlossen, dass die ungarische Verwaltungsoder Ermittlungsbehörde bzw. deren Vertreter als Zustellungsbevollmächtigte auftreten. Es ist komplett unvorstellbar, dass der in der Sache an der Unfallstelle vorgehende Polizist, der sogar die Strafanzeige gegen den Beschuldigten erstattete, die Rechtsstellung des Zustellungsbevollmächtigten besetzt.
Meinem Standpunkt nach haben die deutsche Behörden und das Gericht durch Anwendung der spezifischen Vorschriften des deutschen Strafverfahrensrechtes den Beschuldigten um die grundlegenden Verfahrensrechten gebracht, so wie das Recht zur Verhandlung, das Recht zum anständigen Verfahren, das Recht zum wirksamen Rechtsmittel, das Recht zur Anwendung der Muttesprache, das Recht zur Akteneinsicht und das Recht zum Verteidigen. Es muss betont werden, wie sich das Verhalten des Gerichts geändert hatte, nachdem es von dem Angeklagten eine außergewöhnlich intensive Verteidigung getroffen hat, derentfolge das Gericht die wichtigste Verfahrensrechte dem Beschädigten gesichert und das Strafverfahren eingestellt hat.
Der Angeklagte hat sich in seinem Einspruch und in der zum Ombudsmann von Bayern geschriebenen Beschwerde über das Mittel und Wege der Durchführung des Verfahrens, das Ausbleiben der Zustellung des Strafbefehls und des Einspruch ablehnenden Beschlusses, das Berauben der Rechte zur Verteidigung und zum anständigen Verfahren, die Diskriminierung sowie über den Inhalt des Strafbefehls wegen Unbegründetheit beschwert. Er hat die Überprüfung seiner Sache und die Beseitigung der Rechtsverletzungen beantragt.
Der Ombudsmann wurde vom Angeklagten darum gebeten, bei fehlender sachlichen Zuständigkeit die Beschwerde an die zuständigen deutschen Behörden wegen Beurteilung zu verweisen. Er hat den Ombudsmann ferner gebeten
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ihn zu informieren, welche Rechte und Möglichkeiten er in dieser Sache hat.
Der Angeklagte hat in seiner Beschwerde dargelegt, dass das Gericht ihn ohne Verhandlung, in einem Strafbefehl wegen fahrlässiger Gefährdung des Strassenverkehrs schuldig gesprochen und eine Strafe über ihn verhängt hat. Den Beschluss des deutschen Gerichts hat er per einfache Postsendung ohne Rückempfangsschein erhalten. Vorangehend hatte er vom Beschluss des Gerichtes keine Kenntnis. Früher hat ihm das deutsche Gericht den Beschluss nicht zugestellt, obwohl dem Gericht seine Wohnanschrift zur Verfügung stand. Statt dessen hat das Gericht den Beschluss einem deutschen Zustellungsbevollmächtigten, einem Polizeikommissar zugestellt, den der Angeklagte nicht kennt. Der Angeklagte hat im Verfahren niemandem, so keinem Polizeikommissar eine Vollmacht erteilt, darüber wüsste er nicht Bescheid. Als er den Brief mit dem Beschluss übernommen hatte, schrieb er sofort den Einspruch und gab ihn unverzüglich per Post auf. Er erfuhr über den Strafbefehl ohne sein Verschulden nicht, infolgedessen konnte er darauf nicht fristgerecht reagieren. Darum hat er beantragt, seinen Einspruch als termingerecht eingereicht zu betrachten, eine Verhandlung zu halten und die im Einspruch vorgetragenen Sachbezogen zu beurteilen. Dazu bemerkte er jedoch, dass beim Unfall ausschliesslich deutsch gesprochen wurde und er leider kaum diese Sprache versteht, der Polizist besorgte jedoch während der Massnahme keinen Dolmetscher und ohne diesen hat er den Angeklagten ein deutschsprachiges Dokument - ohne übersetzt zu sein - unterschreiben lassen.
Der von der deutschen Behörde bestimmte Zustellungsbevollmächtigte hat in der Sache gar nichts getan, er hat nur den Strafbefehl und den Einspruch ablehnenden Beschluss verspätet, als einfacher Brief befördert. Er hat gegen den für den Angeklagten schwer nachteiligen und unbegründeten Beschluss kein Rechtsmittel eingelegt,[22] obwohl das Interesse des durch ihn "vertretene" Beschuldigten es offensichtlich gewünscht hätte. Der Zustellungsbevollmächtigte hat den Strafbefehl dem Angeklagten nicht rechtzeitig übergeben, über das Dasein und den Inhalt des Strafbefehls hat er den Angeklagten innerhalb der für den Einspruch zur Verfügung stehenden Frist nicht informiert. Im wesentlichen hat der ohne Wissen und Zustimmung des Angeklagten bestimmten Vertreter die Interessen des Angeklagten effektiv nicht vertreten, er hat sogar dem Angeklagten einen Schaden verursacht, was mit seiner Rechtsstellung als Zustellungsbevollmächtigte unvereinbar ist.
Der Angeklagte hat sich darauf berufen, dass er nach dem Verkehrsunfall auf dem Schauplatz geblieben ist, er ist nicht davon geflüchtet, er hat dem vorgehenden Polizisten seine Ausweise übergeben, so konnten diese seine Personalien - einschließlich seine Wohnanschrift - niederlegen. Er lebt seit 1981 an der in seinem Ausweis angegebenen Wohnanschrift, von dort ist er nicht fortgegangen, seinen Wohnsitz hat er nicht verändert. Er war ununterbrochen erreichbar.
Aufgrund der oben geschriebenen ist eindeutig feststellbar, dass das vorgehende deutsche Gericht einen Strafbefehl gegen ihn getroffen hat, ohne es ihm mitgeteilt zu haben. Das Gericht hat ihm den Beschluss nicht zugestellt, dennoch hat der Beschluss Rechtskraft erlangt, obwohl er darauf nicht reagieren konnte und er wurde um das Recht zur Verteidigung, zur anständigen Verhandlung und zum Rechtsmittel gebracht. Es kann auch die Frage gestellt werden, ob das deutsche Gericht gegenüber deutsche Staatsbürgern auch ähnliche Verfahren durchführt oder dieses Verfahren nur gegenüber Ausländern anzuwenden ist. An der Unfallsstelle hat der deutsche Polizist auf Deutsch gesprochen, er besorgte für den Beschuldigten keinen Dolmetscher, obwohl er hat bemerken können, dass der Beschuldigte die deutsche Sprache kaum versteht. Noch dazu war der Beschuldigte in einem sehr geplagten Nervenzustand, der für ihn das Verständnis der Fremdsprache vielmehr erschwert hat. Demnach hat das Gericht seine Eingaben ausschließlich auf Deutsch entgegengenommen, so hat er eine Diskriminierung erlitten. Es ist nicht schwer einzusehen, dass die Übersetzung der Eingaben eine präzise Arbeitsorganisation und bedeutende Kosten von dem Angeklagten erfordert hat.
Das obige Verfahren des deutschen Gerichtes ist mit den Grundwerten und Grundprinzipien der Europäischen Union unverträglich, es ist besonders mit den Bestimmungen zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten der Europäischen Konvention vom 4. November 1950 in Rom und den dazu gehörigen acht Zusatzprotokolle inkompatibel, wie folgt:
(1) Jedermann hat Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat.
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(2) Bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet, dass der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist.
(3) Jeder Angeklagte hat insbesondere die folgenden Rechte:
a) unverzüglich in einer ihn verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden;
b) über ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu verfügen;
c) sich selbst zu verteidigen oder den Beistand eines Verteidigers seiner Wahl zu erhalten und, falls er nicht über die Mittel zur Bezahlung eines Verteidigers verfügt, unentgeltlich den Beistand eines Pflichtverteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d) Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken;
e) die unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers zu verlangen, wenn er (der Angeklagte) die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder sich nicht darin ausdrücken kann.
Sind die in der vorliegenden Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten verletzt worden, so hat der Verletzte das Recht der Beschwerde bei einer nationalen Instanz einzulegen, selbst wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.
Der Genuß der in der vorliegenden Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten muss ohne Unterschied des Geschlechts, der Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauungen, nationaler oder sozialer Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status gewährleistet werden.
Das deutsche Gericht hat die Rechtsvorschriften der Europäischen Union bezüglich der Zustellung außer aller Acht gelassen, da Artikel 5 des Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 29. Mai 2000 aussagt: (1) Jeder Mitgliedstaat übersendet Personen, die sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhalten, für sie bestimmte Verfahrensurkunden unmittelbar durch die Post. (2) Die Verfahrensurkunden können nur dann durch Vermittlung der zuständigen Behörden des ersuchten Mitgliedstaats übersandt werden, wenn a) die Anschrift des Empfängers unbekannt oder nicht genau bekannt ist, b) die entsprechenden Verfahrensvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats einen anderen als einen auf dem Postweg möglichen Nachweis über die Zustellung der Urkunde an den Empfänger verlangen, c) eine Zustellung auf dem Postweg nicht möglich war, oder d) der ersuchende Mitgliedstaat berechtigte Gründe für die Annahme hat, dass der Postweg nicht zum Ziel führen wird oder ungeeignet ist.
Aus den oben stehenden Regelungen stellt sich heraus, dass die deutsche Behörde den Beschluss auf die ungarische Wohnanschrift des Beschuldigten hätte zustellen müssen, wäre es doch nicht erfolgreich gewesen, hätten es die ungarische Behörden im Rahmen der EU-Rechtshilfe wegen der Zustellung ersuchen müssen.
Der Angeklagte hat während des Verfahrens dem Gericht und dem Ombudsman von Bayern mitgeteilt, dass insofern seine ungerechte und grundlegende Menschenrechte schwer verletzende Lage in Deutschland aufgrund des deutschen Recht entsprechend nicht gelöst wird, reicht er eine Schadenersatzklage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegenüber des deutschen Staates ein.
Es lässt sich gut herausnehmen, dass die deutsche Behörde den Beschuldigten, der ausländischer Staatsbürger ist und die deutsche Sprache kaum versteht, durch Entzug eines grundlegenden Rechtes - das Recht zum Gebrauch der Muttersprache -, getäuscht hat, als sie ihn eine solche Vollmacht unterschreiben lassen hat, laut deren als Zustellungsbevollmächtigte des Beschuldigten der an der Unfallstelle vorgehende Polizist bestellt wird. Es ist gut zu sehen, wie die deutsche Ermittlungsbehörde und das Gericht die Verfahrensrechte des Angeklagten durch die Anwendung einer einfachen rechtlichen Lösung, eines offenbar passiven und gegnerischen Zustellungsbevollmächtigten ausgeleert haben, auf welche Weise sie den Angeklagten an die Verteidigung gehindert haben. Dass sich der Angeklagte doch verteidigt hat und zwar sehr intensiv, lag nicht an ihnen. Zwei Rechtsmittel und
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das Ersuchen des Ombudsman von Bayern waren notwendig, damit das Amtsgericht sich zum Anberaumen der Verhandlung und zur sachlichen Prüfung des Einspruchs willig zeigte.
Neben den Eigenartigkeiten des Strafverfahrens kann die materiellrechtliche Beurteilung der Sache auch interessant sein. Der ungarische Beschuldigte verkehrte mit dem von ihm gelenkten LKW auf der Autobahn. Er wurde von einem PKW Typ Audi mit deutschem Kennzeichen überholt. Die Audi ist nach der Überholung in das äußere Verkehrsband vor den LKW zurückgefahren und hat seine Geschwindigkeit so vermindert - nach der Meinung des Angeklagten offensichtlich mit Vergnügen -, dass der erforderliche Abstand zum LKW hinter ihr nicht mehr gesichert war. Deswegen war der LKW-Fahrer gezwungen, die Notbremse zu ziehen und seine Fahrrichtung zu ändern. Danach versuchte der LKW-Fahrer - da es die Verkehrsverhältnisse erlaubt haben - die Audi zu überholen, was der Fahrer der Audi mit der Beschleunigung seines Wagens verhinderte. Diese Szene wiederholte sich mehrmals. Aus diesem Grunde entschloss sich der LKW-Fahrer die Autobahn neben einer Tankstelle zu verlassen, um den weiteren Verkehrskonflikt zu vermeiden. Er hat die Geschwindigkeit verlangsamt, die Autobahn verlassen und ist danach auf dem Serviceweg einer Tankstelle zum Parkplatz gefahren. Direkt nach der Ablenkung betrug die Geschwindigkeit des LKW-s 69 km/h statt der zulässigen 60 km/h und der LKW-Fahrer war wegen des auf der Autobahn passierten Zwischenfalls in einem sehr verstörten Nervenzustand. Er fuhr auf dem Serviceweg, der eine zweispurige, bis zum Unfallort ca. 250 Meter lange, gerade, gut einsehbare Fahrbahn ist. An der rechten Seite des Servicewegs - aus der Fahrtrichtung des LKW-Fahrers betrachtet - gab es Parkplätze, die fast in einem Winkel von 90° zum Serviceweg lagen. Aus einem solchen Parkplatz rollte die Mercedes aus, deren Fahrer die Vorfahrt dem LKW, der auf der geschützten Straße fuhr, nicht gegeben hat. Deshalb ist die Vorderseite der Mercedes gegen die zweite Achse an der rechten Seite des Sattelschleppers gestoßen, obwohl der LKW-Fahrer den Lastzug schnell auf die innere Spur gelenkt und gleichzeitig Gas gegeben hat (beim Zusammenstoß betrug seine Geschwindigkeit 73 km/h), damit er mehr getan hat als zu erwarten ist.[23] Danach hat er den Wagen mit Notbremsen sofort gestoppt. Beim Unfall wurden keine Personen verletzt, jedoch ergab es sich im Mercedes Geländewagen nach Aussage des PKW-Fahrers ein Schaden von 19.000,- EUR, nachdem das "angetriebene" Rad des LKW-s die Vorderseite der Mercedes abgerissen hat.
Der Angeklagte hat sich im Verfahren immer darauf berufen, dass er das Schnellfahren bekennt, er hat sich wegen der Ordnungswidrigkeit Schnellfahren für verantwortlich erklärt, er hat jedoch geleugnet, dass er eine Straftat begangen hat. Auf der Autobahn hat er mit seinem Verkehrsverhalten das Leben und die körperliche Unversehrtheit von anderen nicht gefährdet, ganz im Gegenteil! Zu seinem Schaden hat der Fahrer der Audi auf der Autobahn die Gefährdung des Straßenverkehrs begangen, gerade darum hat er die Autobahn verlassen. Der Unfall bestand darin, dass der Fahrer der Mercedes unaufmerksam, die Regeln der Abfahrt und die Vorfahrt verletzend gefahren ist. Nach der Aussage des Mitfahrers des LKW-s hat der Fahrer der Mercedes beim Ausfahren nach hinten geschaut und wahrschein-lich mit den im Auto hinten sitzenden Personen gesprochen. Er hat den LKW aus einem ihm anzulastenden Grund nicht wahrgenommen und deswegen ist er gegen die Seite des Sattelschleppers gestoßen. Der Angeklagte konnte den Unfall nicht mehr vermeiden, der Geländewagen war schon innerhalb des Bremswegabstandes. Der LKW-Fahrer hat vergeblich den Lastzug in Zehntelsekunden auf die innere Spur gelenkt und Gas gegeben, damit konnte er den Zusammenstoß auch nicht vermeiden.
Es kann also zusammenfassend, von materiellrechtlichem Standpunkt aus betrachtet die Konsequenz gezogen werden, dass der Beschuldigte auf der deutschen Autobahn zum Opfer eines Verbrechens - der Gefährdung des Straßenverkehrs -geworden ist und obwohl er die Autobahn verlassen und damit eine schwerere Folge, einen Unfall vermeiden hat, hat ein unaufmerksamer Fahrer dem Beschuldigten, der auf der geschützten Straße gefahren ist, die Vorfahrt nicht gegeben und damit ist er gegen das Fahrzeug des Beschuldigten gestoßen.
Der Beschuldigte fuhr einen 2,5 Meter breiten, 4 Meter großen, roten, aufgrund seiner Maßen und Farbe leicht wahrnehmbaren Wagen auf einer 250 Meter langen, pfeilgeraden, zweigeteilten Straßen mit mildem Schnellfahren. Das Schnellfahren hat aber angesichts des Unfalls keine Bedeutung, da das Schnellfahren nicht erheblich war. Der LKW ist nicht ins Blickfeld "explodiert", der zur Vorfahrt berechtigte LKW-Fahrer hat den zur Vorfahrt verpflichteten, aus dem Parkplatz losfahrenden PKW-Fahrer bezüglich der Umstände der Vorfahrt nicht getäuscht. Der Mercedes-Fahrer hätte den LKW bei einem umsichtigen Verkehrsverhalten wahrnehmen und ihm die Vorfahrt geben müssen. Also wenn er vor der Einfahrt auf das Serviceweg nach vorn und links (und nicht nach hinten) geschaut hätte. Im Strafbefehl hat aber das Amtsgericht festgestellt, dass der Angeklagte das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Fahrers der Audi durch seinen unverantwortlichen
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Verkehr gefährdet hat, dann hat er auf dem Serviceweg neben der Tankstelle einen PKW fahrlässig "abgehobelt" (!), damit er das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Mitfahrer des PKW-s unmittelbar gefährdet hat. In seinem das Verfahren einstellenden Beschluss hat das Gericht jedoch den vom Angeklagten dargelegten Tatbestand festgestellt.[24]
Seitens des Angeklagten führten die feste Überzeugung von seiner Unschuld und das entschlossene rechtliche Auftreten dazu, dass er sich verteidigen und um sein Recht kämpfen konnte, obwohl er um wirkungsvolle Rechtsmittel gebracht wurde. Es war ausschließlich seinem entschlossenen Auftreten zu verdanken, dass der Angeklagte zuletzt wegen einer Ordnungswidrigkeit zur Verantwortung gezogen wurde, welche er auch begangen hat.
Mit Rücksicht darauf, dass es sich um eine einfache Typsache und eine offensichtlich im weiten Kreis verbreitete behördliche Routine, um die Anwendung eines hergebrachten Praxis handelte, kann man nicht daran denken, dass es ein Ausnahmefall ist.[25]
In Deutschland gehört es zur Alltagspraxis, die mildere Strafsachen im Strafbefehlverfahren zu beurteilen. Wenn der Beschuldigte ausländischer Staatsbürger ist und in Deutschland über keinen Wohnsitz oder Aufenthaltsort verfügt bzw. keinen Zustellungsbevollmächtigten hat, so ist in Deutschland der herkömmliche Gebrauch, einen deutschen Zustellungsbevollmächtigten zu bestellen, um die Zustellung zu vereinfachen.[26] So geschieht es, dass den ausländischen Beschuldigten eine deutschsprachige - von ihm nicht unbedingt verstandene - Vollmacht unterschreiben lassen wird, damit er den gegenüber ihm vorgehenden Polizisten zur Übernahme der auf seinen Namen lautenden Dokumente und Beschlüsse bevollmächtigt. So kann die Beschleunigung des Verfahrens gesichert werden und so ist es zu erreichen, dass die Strafsache in erster Instanz ohne Verhandlung erledigt werden kann. Der Preis dafür ist die volle oder teilweise Entleerung der verfassungsmäßigen Strafverfahrensrechte. Es ist nicht schwer einzusehen, welche schwere Konsequenzen daraus entstehen können. Hier paarte sich die unüberlegte und voreilige Rechtsschaffung mit der oberflächlichen, anspruchslosen Rechtsanwendung, deren Folgen unabsehbar sind. Wenn man über die ausländische, praktische Regeln und Institutionen der Verfahrensbeschleunigung spricht, sollte man auch überlegen, ob bei Übernahme dieser Methoden überhaupt von einem anständigen Verfahren die Rede sein kann.
Csongor Herke: Grundinstitute des deutschen und englischen Strafverfahren - Universitätsheft, Pécs 2011
Mihály Tóth (Editor): Strafverfahrensrecht - HVGorac Zeitungs - und Buchverlag GmbH, Budapest 2003
Tamás Jakucs (Editor): Kommentar zum Strafverfahrensgesetz, KJK Kerszöv Verlag GmbH, Budapest, 2003
Wir erklären die Gerichte (Verlagswerk vom Büro des Landesrates für Justizwesen, Budapest 2010)
www.Gesetze-im-internet.destpo
Gizella Fésü: Deutsche Eigentümlickkeiten auf dem Gebiet der Zustellungsvorschriften, www.das.hu, Ausgabe von 12.03.2010
Hamburger Morgenpost (Ausgaben von 10.02.2011, 15.04.2011, 16.04.2011, 17.04.2011, 18.04.2011, 19.04.2011, 20.04.2011, 21.04.2011, 25.04.2011)
Frankfurter Allgemeine Zeitung (Ausgabe von 27.04.2011) Bild (Ausgabe von 18.06.2009)
Wikipedia
Spiegel (Ausgaben von 09.01.2005, 08.02.2011, 19.04.2011, 21.04.2011)
www.sueddeutsche.de (Ausgabe von 19.04.2011) ■
NOTEN
* Den deutschen Text wurde von dr. Katalin Jagudits lektoriert.
[1] Es ist eine andere Frage, dass die Statistiken etwas ganz anderes zeigen: 80% der Prozesse wird binnen einem Jahr mit einem rechtskräftigen Beschluss abgewickelt. Siehe: Wir erklären die Gerichte, Verlagswerk vom Büro des Landesrates für Justizwesen, Budapest 2010
[2] Seit fast 9 Jahren nach dem Inkrafttreten des Strafverfahrensgesetzes Nr. XIX. vom 1998.
[3] "An der vom Landesgerichtsamt (OBH) und der Kurie (der Oberste Gerichtshof in Ungarn) zusammengerufenen, am Donnerstag in Budapest abgehaltenen Konferenz wurde betont: die Erneuerung der unzähligemal modifizierten Strafprozessordnung sowie die Darstellung des im neuen Strafgesetzbuch (Btk.) erreichten Kodifikationsniveaus ist im Strafverfahrensrecht auch erforderlich. Nach der Meinung des Stellvertreters der Kurie wird ein neues Strafverfahrensgesetz (Be.) gebraucht. István Kónya hat an der vom Landesgerichtsamt (OBH) und der Kurie zusammengerufenen, am Donnerstag in Budapest abgehaltenen Konferenz betont: die Erneuerung der unzähligemal modifizierten Strafprozessordnung sowie die Darstellung des im neuen Strafgesetzbuch erreichten Kodifikationsniveaus ist im Strafverfahrensrecht auch erforderlich." Der Titel des Artikels lautet: Das OBH und die Kurie veranstalteten eine zweitägige Konferenz über die Beschleunigung des Strafverfahrens (die Quelle: www.mabie.hu).
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[4] Das OBH und die Kurie veranstalteten eine zweitägige Konferenz über die Beschleunigung des Strafverfahrens (die Quelle: www.mabie.hu).
[5] Die Einzelheiten des Prozesses können wir wegen der geographischen Distanz, der sprachlichen Schwierigkeiten und mangels der konkreten Justizbeziehungen nur aus den Berichten der Massenmedien nachvollziehen, was mit gewissem Vorbehalt behandelt werden muss. Laut Wikipedia, einer nicht unbedingt authentischen, jedoch maßgebenden Quelle im Internet, hat Anders Behring Breivik 77 Personen umgebracht. Er wurde am 22. Juli 2011 in Haft genommen. Seine Verhandlung hat am 16. April 2012 begonnen und das Urteil wurde am 24. August 2012 gefällt.
[6] In Ungarn hätten die Vornahme der Sachverständigenuntersuchungen sowie die Fertigstellung der Sachverständigengutachten eine erhebliche Belastung verursacht. Die Untersuchungen des medizinischen Gutachters (Autopsie von mehreren Opfern, die Anfertigung des Gutachtens), die psychiatrische Untersuchungen, die Begutachtung der Spuren des Verbrechens, die Begutachtung vom Waffen- und Bombenexperten etc. hätten viel Zeit verlangt.
[7] Aus dem Vortrag von László Láng, abteilungsleitender Staatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft (Das OBH und die Kurie veranstalteten eine zweitägige Konferenz über die Beschleunigung des Strafverfahrens) die Quelle: www.mabie.hu.
[8] Laut des Urteils vom Gericht kann die lebenslange Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren dauern, danach steht dem Gericht die Möglichkeit zu, den Angeklagten aus Sicherheitsgründen unter psychiatrische Beobachtung zu stellen.
[9] Der hemmungslose Täter ist in der Nacht ins Zimmer der Kinder hineingeschlichen und hat die 7-14 jährige Kinder von dort mitgenommen.
[10] Die Strafsache dauerte vom 3. März 1992 - vom Tag des ersten Verbrechens - bis zum 15. April 2011, als Martin M. in Haft genommen wurde.
[11] Nachdem der Angeklagte wegen aller Verbrechen gegen das Leben und Sittlichkeit nicht verurteilt wurde, mit denen ihn die Ermittlungsbehörde verdächtigt hat.
[12] In meinem Essay habe ich eine wahre Geschichte dargestellt. Die im Fall gefällte Beschlüsse, Ersuchen, die Eingaben des Angeklagten, sowie die durch den Angeklagten fertiggestellten Fotos und die Skizze des Unfallortes, sowie die schriftliche Aussage des neben dem Angeklagten bezeugenden Zeuge waren mir zur Verfügung gestellt. Weiters war ich als Zuhörer bei der Verhandlung in Deutschland anwesend. Ich habe alle Daten, die zur Identifizierung der Sache geeignet sind, zur Wahrung der Persönlichkeitsrechte unterlassen.
[13] Der Fahrer des LKW-s beherrscht die deutsche Sprache schlecht, auf etwa Vorstufe, die oben Beschriebene hat er laut seiner Aussage nur nach langer Diskussion und langem Gespräch verstanden.
[14] Laut dem deutschen Gesetz muss der Einspruch innerhalb von 14 Tagen beim Gericht eingegangen werden, d. h. das Rechtsmittel ist als verspätet zu betrachten, wenn es am letzten Tag der Frist auf die Post gegeben wird. Ein weiterer merkwürdiger Punkt der Regelung ist, dass der Einspruch nur auf deutscher Sprache beim Gericht entgegengenommen wird.
[15] Es ist die Abkürzung der deutschen Strafprozessordnung.
[16] Es ist die Abkürzung des deutschen Strafgesetzbuches.
[17] Csongor Herke: Grundinstitute des deutschen und englischen Strafverfahren - Universitätsheft, Pécs 2011. Seite 113.
[18] Csongor Herke: Grundinstitute des deutschen und englischen Strafverfahren - Universitätsheft, Pécs 2011. Seiten 113-114.
[19] Es gibt also kein Verbot zur Straferhöhung, dem Gericht steht die Möglichkeit, eine schwerere Sanktion im Verhältnis zur im Strafbefehl festgelegten Strafbestimmung zu bemessen.
[20] Csongor Herke: Grundinstitute des deutschen und englischen Strafverfahren - Universitätsheft, Pécs 2011. Seite 114.
[21] Ohne das auf die Schuldigkeit erstreckende Geständnis kann der Zweck der Strafe - die spezielle Prävention - im Verfahren mit Abstandnahme von der Verhandlung nicht erreicht werden. Man darf nicht vergessen, dass die Gerichtsverhandlung selbst eine zurückhaltende Wirkung hat, aber wenn der Beschuldigte seine Schuldigkeit bekennt und die überzeugende Beweise zur Verfügung stehen, dann ist die Abhaltung der Verhandlung nicht erforderlich.
[22] Die Frage ist, ob die Rechtsstellung des Zustellungsbevollmächtigten sich im deutschen Recht auf die Erklärung des Rechtsmittels auch erstreckt. Wenn nicht, dann wäre es besonders wichtig gewesen, den zu vertretenden Beschuldigten binnen der Rechtsmittelfrist in Kenntnis zu setzen.
[23] Es ist verboten, die Verkehrspartner aus irgendeinem Grund zu einer plötzlichen Richtungsänderung oder zum Notbremsen zu zwingen.
[24] Der Fahrer der Audi wurde zur Verhandlung nicht vorgeladen. Das Gericht hat sogar den Teil des Tatbestandes, der sich auf die Gefährdung der Audi bezog, schon am Anfang der Verhandlung außer Acht gelassen, nachdem der Fahrer der Audi schriftlich angemeldet hat, dass er sich an den Fall nicht erinnert. Trotz dessen hat er früher bei der Polizei eine den Angeklagten belastende Aussage abgelegt.
[25] Diese Frage kommt auf den Internet-Foren der Berufsfahrer und bei Rechtsschutzorganisationen oft vor: "Unsere Mandanten sind häufig unangenehm überrascht, als sie von irgendeiner deutschen Behörde eine offizielle Sendung erhalten. Es kann nämlich vorkommen, dass diese Sendung einen Beschluss beinhaltet, dem gegenüber unser Mandant ein Rechtsmittel einlegen möchte, die Rechtsmittelfrist ist jedoch schon zur Zeit der Übernahme der Sendung abgelaufen." Siehe: Gizella Fésü: Deutsche Eigentümlichkeiten auf dem Gebiet der Zustellungsvorschriften, www.das.hu, Ausgabe von 12.03.2012.
[26] Gizella Fésü: Deutsche Eigentümlichkeiten auf dem Gebiet der Zustellungsvorschriften, www.das.hu, Ausgabe von 12.03.2012.
Lábjegyzetek:
[1] Der Autor ist Strafrichter.
Visszaugrás