Im Zuge des Systemwechsels erfuhr die ungarische Verfassung im Hinblick auf die Regierung (Kapitel VII) umfangreiche Änderungen. Einen zentralen Teil der neuen Konzeption bildete die Parlamentarisierung der Regierung. Deren Wesen liegt in der Bindung der Regierung an das Vertrauen der Mehrheit im Parlament. Dazu gehört nicht nur, dass das Parlament mehrheitlich die Regierung wählt, sondern mindestens ebenso wichtig ist, dass dieselbe Mehrheit die Regierung auch wieder abwählen und so deren Mandat beenden kann. Für die Abwahl ist das Parlament nicht an besondere Gründe gebunden, sondern der Verlust des politischen Vertrauens reicht aus. Hierin unterscheidet sich das rein politische Misstrauen vom rechtlich gebundenen Impeachment, das in der Gestalt der Präsidentenanklage in vielen Verfassungen als Mittel zur Entfernung des Staatsoberhaupts aus seinem Amt dient, dabei aber bestimmte Rechtsgründe voraussetzt.[1] Parlamentarisches Vertrauen und Misstrauen bedeutet hingegen die außerrechtliche Frage, ob die Regierung sich politisch auf eine Mehrheit im Parlament stützen kann oder nicht.[2]
In Ungarn führten mehrere Verfassungsänderungen 1989 und 1990 das konstruktive Misstrauensvotum ein.[3] Dessen Wesen liegt darin, dass das Parlament die alte Regierung nur stürzen kann, wenn es gleichzeitig die Mehrheit zur Wahl einer neuen Regierung aufbringt. Das Parlament muss daher konstruktiv eine neue Regierung bilden können; eine destruktive Mehrheit gegen die alte Regierung, die das Land ohne Regierung lassen würde, reicht nicht aus. Zudem erhält auch die amtierende Regierung die Möglichkeit, ihre Mehrheit im Parlament zu festigen, indem sie die Vertrauensfrage stellt und damit eine eventuell schwankende Mehrheit zwingt, sich für oder gegen sie zu entscheiden.
Vorbild der Regelung in § 39/A ungarische Verfassung (in der Folge: ungVerf) waren Art. 67 und 68 des deutschen Grundgesetzes (in der Folge: dtGG).[4] Die ungarische Regelung übernimmt die Formulierung des dtGG nicht wörtlich, sondern nur in der Grundkonzeption. An einigen Stellen weicht § 39/A ungVerfnicht nur im Wortlaut, sondern auch im Sinn vom deutschen Recht ab.[5]
In der Verfassungspraxis beider Länder gab es unlängst Ereignisse, in denen die verfassungsrechtliche Ausgestaltung der Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Parlaments eine praktische Rolle gespielt hat. Während in Ungarn der abdankende Ministerpräsident Péter Medgyessy schließlich nicht den Weg über einen Misstrauensantrag seiner Fraktion gewählt, sondern nach längerem Zögern am 26. August 2004 seinen Rücktritt erklärt hat,[6] ist es in Deutschland tatsächlich zu einer Misstrauensabstimmung im Bundestag gekommen, die den Weg für Neuwahlen freimachte. Bundeskanzler Gerhard Schröder stellte dem Bundestag die Vertrauensfrage gemäß Art. 68 dtGG, und am 1. Juli 2005 sprach ihm das Parlament wunschgemäß das Misstrauen aus. Daraufhin löste der Bundespräsident am 21. Juli 2005 den Bundestag auf und ordnete Neuwahlen zum 18. September 2005 an. Hierzu hat sich das Bundesverfassungsgericht geäußert,[7] und auch in früheren Fällen haben sich die deutsche Verfassungsrechtswissenschaft und das Bundesverfassungsgericht mit den Rechtsfragen des parlamentarischen Misstrauens gegenüber der Regierung beschäftigt.[8]
Damit hat die Verfassungsrechtsprechung in Deutschland eine gewisse dogmatische Grundlage für die rechtliche Erfassung von konstruktivem Misstrauensantrag und Vertrauensfrage gelegt. Da es in Ungarn bislang noch an verfassungsgerichtlichen Entscheidungen fehlt,[9] wird im Folgenden untersucht, wie weit die deutsche Verfassungsrechtsprechung und -dogmatik zur Klärung der Zweifelsfragen herangezogen werden können, die in § 39/A ungVerf angelegt sind.
Sowohl in Ungarn als auch in Deutschland unterscheidet die Verfassung zwei Fälle der parlamentarischen Misstrauensbekundung: Entweder geht die Initiative vom Parlament selbst aus; dann handelt es sich um einen Misstrauensantrag, dem ein konstruktives Misstrauensvotum folgt (§ 39/A Abs. 1-2 ungVerf, Art. 67 dtGG). Oder die Regierung in Ge-
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stalt des Regierungschefs ergreift die Initiative und stellt dem Parlament die Vertrauensfrage; diese kann mit der Abstimmung über eine Sachfrage verbunden werden. Das Parlament entscheidet dann, ob es der Regierung vertraut oder nicht (§ 39/A Abs. 3-5 ungVerf, Art. 68 dtGG).
Die ungarische Regelung ist an die deutschen Vorschriften angeleht, folgt ihnen aber nicht in allen Einzelheiten. Das zeigt ein Vergleich des Wortlauts:
Das konstruktive Misstrauensvotum:
§ 39/A Abs. 1-2 ungVerf | Art. 67 dtGG |
(1) A képviselők legalább egyötöde a miniszterelnök- kel szemben írásban - a rniniszterelnöki tisztségre jelölt személy megjelölésével - bizalmatlansági in- dítványt nyújthat be. A miniszterelnökkel szemben benyújtott bizalmatlansági indítványt a Kormánnyal szemben benyújtott bizalmatlansági indítványnak kell tekinteni. Ha az indítvány alapján az országgyű- lési képviselők többsége bizalmatlanságát fejezi ki, az új miniszterelnöknek jelölt személyt megválasz- tottnak kell tekinteni. (2) Az indítvány feletti vitát és szavazást legkoráb- ban a beterjesztéstől számított három nap után, leg- később a beterjesztéstől számított nyolc napon belül kell megtartani. | (1) Der Bundestag kann dem Bundeskanzler das Misstrauen nur dadurch aussprechen, dass er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den Bundes- kanzler zu entlassen. Der Bundespräsident muss dem Ersuchen entsprechen und den Gewählten ernennen. (2) Zwischen dem Antrage und der Wahl müssen achtundvierzig Stunden liegen. |
Die Vertrauensfrage:
§ 39/A Abs. 3-5 ungVerf | Art. 68 dtGG |
(3) A Kormány - a miniszterelnök útján - bizalmi szavazást javasolhat a (2) bekezdésben előírt határ- idők szerint. (4) A Kormány - a miniszterelnök útján - azt is java- solhatja, hogy az általa benyújtott előterjesztés felet- ti szavazás egyben bizalmi szavazás legyen. (5) Ha az Országgyűlés a (3)-(4) bekezdésben foglalt esetekben nem szavaz bizalmat a Kormánynak, a Kormány köteles lemondani. | (1) Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundes- kanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundes- tag auflösen. Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt. (2) Zwischen dem Antrage und der Abstimmung müssen achtundvierzig Stunden liegen. |
In der Regelung des konstruktiven Misstrauensvotums unterscheiden sich beide Verfassungen in der Sache nicht sehr voneinander. § 39/A Abs. 1-2 ungVerf ist detailreicher als Art. 67 dtGG und regelt zahlreiche Einzelheiten, die in Deutschland der Geschäftsordnung des Bundestages (in der Folge: GeschO BT) oder der Verfassungspraxis überlassen bleiben. In den Kernbereichen sind sich beide Vorschriften aber sehr ähnlich.
Zielperson des konstruktiven Misstrauensvoturns ist in beiden Ländern alleine der Regierungschef. Ein erfolgreiches Votum führt zum Sturz seiner gesamten Regierung. Das stellt § 39/A Abs. 1 Satz 2 ungVerf ausdrücklich klar; Art. 67 dtGG liegt dieser Gedanke unausgesprochen zugrunde. Ein Misstrauensvotum gegen einen einzelnen Minister ist nicht möglich. Auf diese Weise soll dem Regierungschef die Entscheidung über die Zusammensetzung seiner Regierungsmannschaft in vollem Umfang erhalten bleiben: Das Parlament kann nur der Regierung insgesamt entweder vertrauen oder misstrauen; gegen einen einzelnen Minister kann es nichts machen, wenn es nicht die Regierung insgesamt stürzen will. Dies dient zur Stabilisierung der Regierung, aber auch dazu, das Parlament zur Übernahme von Verantwortung zu zwingen.[10]
Das Verfahren wird eingeleitet durch eine Initiative aus der Mitte des Parlaments. Hierzu genügt aber nicht ein einzelner Abgeordneter, sondern der Misstrauensantrag bedarf der Unterstützung von einem Fünftel (§ 39/A Abs. 1 Satz 1 ungVerf) oder einem Viertel (§ 97 Abs. 1 Satz 2 GeschO BT) aller Abgeordneten. Der Antrag ist nur zulässig, wenn er zugleich den Personalvorschlag für einen neuen Re-
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gierungschef enthält. Anders als nach der Konstituierung des neuen Parlaments hat der Staatschef keinerlei Einfluss auf die Person des angestrebten neuen Regierungschefs.[11]
Formal besteht zwischen Ungarn und Deutschland ein Unterschied im Inhalt des Antrags. In Ungarn wird beantragt, dem bestehenden Regierungschef das Miss trauen auszusprechen; hierüber stimmt das Parlament ab. Das schreibt § 39/A Abs. 1 Satz 1 vor. Die Wahl des neuen Regierungschefs geschieht implizit. In Deutschland hingegen ist der Antrag gemäß Art. 67 Abs. 1 Satz 1 dtGG, § 97 Abs. 1 Satz 2 GeschO BT auf die Wahl eines neuen Bundeskanzlers gerichtet. Der Bundestag entscheidet über die Wahl des neuen Kandidaten zum Bundeskanzler, und wenn er den neuen Kandidaten wählt, wird dadurch implizit dem alten Bundeskanzler das Misstrauen ausgesprochen.
In keinem der beiden Länder gibt es ausdrückliche rechtliche Vorgaben an die Entscheidung über den Antrag. Weder in Ungarn noch in Deutschland wird vorgeschrieben, was unter Vertrauen oder Misstrauen zu verstehen ist und wann das eine oder das andere auszusprechen ist. Es handelt sich daher um eine rechtlich undeterminierte und damit freie Gewissensentscheidung jedes einzelnen Parlamentmitglieds (§ 20 Abs. 2 ungVerf und § 13 Abs. 1 Satz 2 Házszab.,[12] Art. 38 Abs. 1 Satz 2 dtGG).
Beide Verfassungen schreiben eine Mindestfrist zwischen der Stellung des Misstrauensantrags und der Entscheidung darüber vor, um übereilte und überemotionalisierte Entscheidungen zu verhindern und um dem Regierungschef die Möglichkeit zu geben, eine Mehrheit zusammenzustellen. In Ungarn enthält § 39/A Abs. 2 ungVerf zudem eine Höchstdauer, innerhalb derer über das Misstrauen entschieden werden muss[13]; das deutsche Recht enthält keine vergleichbare Regelung und überlässt somit die Sorge für ein zügiges Verfahren der parlamentarischen Praxis.
In beiden Ländern bedarf der Misstrauensantrag der für die Wahl des Regierungschefs erforderlichen Mehrheit aller Mitglieder des Parlaments. In Deutschland ist damit der neue Kanzler gewählt und der Bundespräsident gemäß Art. 67 Abs. 1 Satz 2 dtGG verpflichtet, den Gewählten zum Bundeskanzler zu ernennen. Die Ernennung ist in diesem Fall rein formal und gibt dem Bundespräsidenten keine Möglichkeit zur Beeinflussung der Personalentscheidung.[14] In Ungarn hingegen ist wegen der Formulierung des Antrags zunächst nur das Misstrauen gegen die alte Regierung ausgesprochen. Um damit auch einen neuen Regierungschef zu erhalten, greift § 39/A Abs. 1 Satz 3 zu einer Fiktion: Mit dem Ausspruch des Misstrauens gegen den alten Regierungschef "gilt" ("kell tekinteni") zugleich der neue Regierungschef als gewählt. Eines weiteren formellen Aktes des Präsidenten der Republik bedarf es in Ungarn nicht. Hier genügt die Feststellung des Wahlergebnisses, um den neu Gewählten formell zum Ministerpräsidenten zu machen.
Während der Misstrauensantrag ein Mittel des Parlaments - und damit typischerweise der Opposition[15] - ist, geht bei der Vertrauensfrage die Initiative vom Regierungschef selbst aus. Ihm soll die Möglichkeit gegeben werden, eine schwankende oder unsicher scheinende parlamentarische Mehrheit zu zwingen, Farbe zu bekennen und sich ausdrücklich für oder gegen ihn zu entscheiden.[16] Das kann der Regierungschef in beiden Ländern mit der Entscheidung über eine Sachfrage verbinden;[17] hiervon wird regelmäßig dann Gebrauch gemacht, wenn der Regierungschef nicht sicher ist, ob er für ein bestimmtes politisches Projekt auf die Mehrheit in seiner Partei oder Koalition rechnen kann.
In Ungarn wie in Deutschland wird das Verfahren mit einem Antrag des Regierungschefs eingeleitet. In Deutschland ist der Bundeskanzler alleine Subjekt des Verfahrens, wie sich aus Art. 68 Abs. 1 Satz 1 dtGG ergibt. In Ungarn hingegen stellt nach dem Wortlaut des § 39/A Abs. 3 die Regierung insgesamt die Vertrauensfrage, und der Ministerpräsident agiert lediglich als Vertreter des Kollegialorgans. Praktisch relevante Unterschiede ergeben sich aus dieser unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Konzeption kaum,[18] zumal in beiden Ländern das parlamentarische Misstrauen die gesamte Regierung und nicht nur den Regierungschef zu Fall bringt.
Der Antrag des Regierungschefs an das Parlament geht dahin, ihm das Vertrauen auszusprechen. Das betrifft allerdings nur die Formulierung des Antrags. In der Sache ist vor allem in Deutschland stark umstritten, ob der Regierungschef die Vertrauensfrage in der Absicht stellen darf, dass ihm das Parlament das Vertrauen nicht ausspricht und so der Weg zu vorzeitigen Neuwahlen eröffnet wird. Auch die ungarische Diskussion kreist um die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten des Regierungschefs, durch unterschiedliche Handlungsalternativen Neuwahlen zu erzwingen oder zu vermeiden. Auf diese Aspekte wird unter Punkt III. eingegangen. An dieser Stelle soll die Bemerkung genügen, dass die Absichten, die eine Regierung mit der Vertrauensfrage verbinden darf oder nicht darf, zu den umstrittensten Punkten der verfassungsrechtlichen Regelung des parlamentarischen Vertrauens gehört.
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In den rechtlichen Grundlagen des § 39/A Abs. 3 ungVerf, Art. 68 Abs. 1 Satz 1 dtGG wird die Vertrauensfrage an keine weiteren rechtlichen Voraussetzungen gebunden. Insbesondere muss keine Vertrauenskrise oder ähnliches vorliegen, und ebenso wenig schreiben die genannten Normen vor, was unter Vertrauen zu verstehen ist. Der Regierungschef oder die Regierung haben daher ein rechtlich ungebundenes politisches Ermessen, ob und wann sie das politische Vertrauen des Parlaments einfordern.
Die Rechtsfolgen einer gescheiterten[19] Vertrauensfrage unterscheiden sich deutlich von denen eines erfolgreichen Misstrauensvotums. Während das konstruktive Misstrauensvotum die alte Regierung sogleich durch eine neue ersetzt, beendet eine fehlgeschlagene Vertrauensfrage das Mandat der amtierenden Regierung, ohne für die Wahl einer Nachfolgeregierung zu sorgen.
Der Rücktritt der Regierung ist allerdings nur in Ungarn zwingend (§ 39/A Abs. 5 ungVerf).[20] Die zurückgetretene Regierung bleibt danach zunächst gemäß § 39/B ungVerf als geschäftsführende Regierung mit verringerten Befugnissen im Amt;[21] auch der Ministerpräsident übt gemäß § 39/C Abs. 1 ungVerf geschäftsführend die Geschäfte weiter aus, wiederum mit reduzierten Kompetenzen. Das Parlament hat nun im normalen, auch nach jeder Parlamentsneuwahl zu praktizierenden Verfahren gemäß § 33 Abs. 3 Satz 1 auf Vorschlag des Präsidenten der Republik einen neuen Ministerpräsidenten zu wählen. Gelingt dem Parlament innerhalb von 40 Tagen keine Neuwahl, so gibt § 28 Abs. 3 Buchst, b) ungVerf dem Präsidenten der Republik das Recht, das Parlament aufzulösen. Da das Parlament selbst keinen Kandidaten benennen kann, muss es passiv bleiben und ist an die Vorschläge des Staatspräsidenten im Sinne einer ja/nein-Entscheidung gebunden.[22] Durch den Vorschlag eines (oder mehrerer) inakzeptablen/r Kandidaten hat es der Präsident der Republik daher in gewissem Maße in der Hand, selbst die Voraussetzungen der Parlamentsauflösung herbeizuführen.
In Deutschland hingegen schreibt Art. 68 dtGG dem Bundeskanzler nicht vor, wie er auf ein verweigertes Vertrauen zu reagieren hat. Unbestritten ist, dass er im Amt bleiben und versuchen kann, als Minderheitenkanzler mit wechselnden Mehrheiten zu regieren.[23] Das gilt auch dann, wenn der Kanzler die Vertrauensfrage mit der Abstimmung über eine Gesetzesvorlage verbunden hatte.
Als zweite Alternative kann der Bundeskanzler gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 dtGG dem Bundespräsidenten die Auflösung des Parlaments vorschlagen; diesen Vorschlag kann er jederzeit zurückziehen, falls ihm die Zusammenstellung einer Mehrheit gelingt. Der Bundespräsident kann in freier Würdigung der politischen Situation dem Vorschlag des Bundeskanzlers entsprechen, wofür ihm die Verfassung einundzwanzig Tage Zeit lässt. Er kann auch die Parlamentsauflösung ablehnen und den Kanzler damit zum Weiterregieren zwingen.[24] Der Bundestag hat seinerseits gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 2 dtGG jederzeit die Möglichkeit, seiner drohenden Auflösung durch die Wahl eines neuen Bundeskanzlers mit der Mehrheit seiner Mitglieder zuvorzukommen. Der Kandidat wird dabei vom Parlament selbst benannt; ein Vorschlag des Bundespräsidenten ist nicht notwendig. Damit räumt das Grundgesetz den "Selbstheilungskräften" des Bundestags Vorrang vor den Interventionsrechten des Bundespräsidenten ein.
Eine dritte Handlungsalternative des Bundeskanzlers, die als einzige der Rechtslage in Ungarn ähnelt, ist der Rücktritt: Dieser hat zur Folge, dass die Bundesregierung ihr Amt zunächst als geschäftsführende Regierung gemäß Art. 69 Abs. 3 dtGG fortführt, bis das Parlament in dem normalen[25] Verfahren des Art. 63 Abs. 1 dtGG auf Vorschlag des Bundespräsidenten mit der Mehrheit aller Abgeordneten einen neuen Bundeskanzler wählt. Auch in Deutschland droht dem Parlament die Gefahr der Auflösung, wenn es sich dem Kandidaten des Präsidenten verweigert (Art. 63 Abs. 4 dtGG). Diese Gefahr ist allerdings wesentlich geringer als in Ungarn gemäß § 28 Abs. 3 Buchst, b) ungVerf, denn das deutsche Parlament kann mit der Mehrheit aller Abgeordneten ab dem zweiten Wahlgang eine andere als die vom Bundespräsidenten vorgeschlagene Person zum Bundeskanzler wählen mit der Folge, dass der so Gewählte vom Bundespräsidenten zum Bundeskanzler ernannt werden muss. Das deutsche Parlament ist daher anders als das ungarische nur im ersten Wahlgang an den Personalvorschlag des Staatsoberhaupts gebunden, danach bei der Kandidatensuche aber frei. Art. 63 Abs. 4 Satz 1 ermöglicht sogar nach Ablauf einer 14-Tages-Frist die Wahl eines Bundeskanzlers mit relativer Mehrheit, ohne dass dieser die absolute Mehrheit erreicht. Nur wenn der Bundestag nur eine relative Mehrheit für die Wahl eines Bundeskanzlers zustande bringt (d.h. einen Minderheitenkanzler wählt), kann der Bundespräsident zwischen Ernennung des Gewählten und Auflösung des Bundestags wählen (Art. 63 Abs. 4 Satz 3 dtGG).
Ein Vergleich der Rechtsfolgen einer gescheiterten Vertrauensfrage zeigt, dass in Ungarn dem Präsidenten der Republik eine recht starke Rolle bei der Bestimmung des neuen Regierungschefs zukommt, weil er das Parlament auflösen kann, wenn es sich
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seinem (seinen) Kandidaten verweigert. Da der Präsident in allen Situationen das Nominierungsmonopol hat, ist das Parlament nicht in der Lage, einen eigenen, möglicherweise aussichtsreichen Kandidaten gegen den Willen des Präsidenten aufzustellen. Das Staatsoberhaupt wird daher zur Schlüsselfigur bei der Bestellung des neuen Regierungschefs,[26] wenn die Regierung mit einer Vertrauensfrage scheitert. In Deutschland hingegen liegt nach einer verlorenen Vertrauensabstimmung die Entscheidung zunächst bei dem gescheiterten Bundeskanzler, der sich zwischen mehreren Optionen entscheiden kann. Bei allen Alternativen gilt, dass dem Bundestag eine stärkere Rolle zukommt als dem Bundespräsidenten, denn sobald sich der Bundestag mit absoluter Mehrheit auf einen neuen Regierungschef einigt, enden die Handlungsmöglichkeiten von Staatschef und altem Regierungschef. Das Parlament spielt bei der Bewältigung der Regierungskrise die zentrale Rolle. Nur in dem Fall, dass der Bundestag keine neue "Kanzlermehrheit"[27] zustande bringt, hat der Bundespräsident ein Wahlrecht zwischen der Akzeptanz einer Minderheitenregierung und einer Parlamentsauflösung. Voraussetzung für das Parlamentsauflösungsrecht ist entweder ein dahin gehender Vorschlag des alten Bundeskanzlers oder die Wahl eines Minderheitenkanzlers im Bundestag.
Den vom deutschen Verfassungsgericht entschiedenen Fällen war gemeinsam, dass der Bundeskanzler die Vertrauensfrage mit dem Ziel gestellt hatte, sie zu verlieren und damit die Voraussetzungen für eine Parlamentsauflösung zu schaffen. Die zentrale Rechtsfrage, die sich bei diesen Vorgängen stellte, war: Ist es mit Art. 68 dtGG vereinbar, wenn der Regierungschef die Vertrauensfrage mit dem Ziel stellt, dass seine eigene Mehrheit ihm das Vertrauen verweigert, um auf diese Weise die Voraussetzungen für eine Parlamentsauflösung zu schaffen, die auf anderem Wege nicht zu erreichen ist?
Prozessualer Angriffspunkt war jeweils die Entscheidung des Bundespräsidenten gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 dtGG, den Bundestag aufzulösen. Das Bundesverfassungsgericht beschränkte sich jedoch in keinem Fall auf die Rolle des Präsidenten, sondern betrachtete die Vorgänge in ihrer Gesamtheit. Auf diese Weise konnte es den Schwerpunkt seiner rechtlichen Erwägungen auf die Zulässigkeit einer Vertrauensfrage mit dem politischen Ziel, sie zu verlieren, legen. Diese Art der Vertrauensfrage wird in der verfassungsrechtlichen Literatur als "unechte Vertrauensfrage" bezeichnet.[28]
Bereits 1983 hielt das Bundesverfassungsgericht die "unechte Vertrauensfrage", die mit dem Ziel des Scheiterns gestellt wird, grundsätzlich für zulässig. Dem schließt sich das Urteil von 2005 an.
Als "ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal" des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 dtGG formulierte das Gericht in seinem Urteil 1983, dass der Bundeskanzler auf Dauer gesehen nicht über das Vertrauen des Bundestags für seine Politik verfügt und daher nicht sinnvoll Politik machen kann.[29] Vertrauen definiert das Bundesverfassungsgericht dabei als die Zustimmung des Parlaments zu Person und Programm des Kanzlers, die sich im Wahlakt niederschlägt.[30] Es ist eine politische und keine ethische Kategorie und erfordert daher keine Loyalität oder "Treue".[31]
Das Urteil von 2005 entwickelt diesen Gedanken fort und lässt es genügen, wenn in einer Zukunftsperspektive das Vertrauen des Parlaments in den Bundeskanzler und seine Politik unsicher erscheint. Hierbei beruft sich das Gericht auf den Sinn des Art. 68 Abs. 1 dtGG, der eine Stabilisierung der politischen Verhältnisse und den Erhalt einer handlungsfähigen Regierung bezweckt. Diese Stabilisierungsfunktion verlange vom Bundeskanzler nicht, dass er warte, bis er endgültig das Vertrauen der Mehrheit verloren habe, sondern gestatte ihm, eine weitere Zuspitzung der Verhältnisse abzuwenden, indem er über eine unechte Vertrauensfrage den Weg zu Neuwahlen beschreite und so versuche, einer drohenden Dauerkrise zuvorzukommen. Ein solches Verhalten bewertet das Verfassungsgericht als mit dem Stabilierungsgedanken des Art. 68 Abs. 1 dtGG vereinbar.
Damit ist eine "unechte Vertrauensfrage" in einer politischen Krise zulässig, in der der Bundeskanzler dauerhaft nicht mehr in der Lage ist, sich auf eine stabile Parlamentsmehrheit zu verlassen. In einer solchen Situation darf er nicht nur die "echte Vertrauensfrage" stellen, um eine wegbrechende Mehrheit zu stabilisieren, sondern er darf auch versuchen, im Wege einer "unechten Vertrauensfrage" eine Stabilisierung durch vorgezogene Neuwahlen zu erreichen. Eine "unechte Vertrauensfrage" ist damit ein legitimes Instrument des Kanzlers, eine handlungsfähige Regierung zu schaffen.
Ohne eine solche politische Krise ist eine vorzeitige Parlamenteauflösung unzulässig. Der Bundeskanzler mag aus poltischem Kalkül heraus zwar die Vertrauensfrage stellen und in Absprache mit seiner Par-
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tei dabei scheitern. Dann fehlt es aber an einer "materiellen Auflösungslage", und der Bundespräsident dürfte dem Vorschlag des Bundeskanzlers, den Bundestag aufzulösen, nicht nachkommen. Dies kann das Bundesverfassungsgericht kontrollieren und gegebenenfalls den Auflösungsbeschluss des Bundespräsidenten für verfassungswidrig erklären.[32]
Das Bundesverfassungsgericht erlegte sich bereits 1983 eine große Zurückhaltung bei der Prüfung auf, ob die politischen Voraussetzungen des Art. 68 Abs. 1 dtGG tatsächlich vorliegen. Dieser Linie folgt das Urteil von 2005.
In beiden Fällen stellt das Gericht darauf ab, dass nach einer gescheiterten Vertrauensfrage drei Verfassungsorgane zusammenwirken: Bundeskanzler, Bundestag und Bundespräsident. Jeder dieser Akteure hat es jederzeit in der Hand, eine Auflösung des Bundestags zu verhindern - wobei vom Bundesverfassungsgericht unterstellt wird, dass das dtGG eine Parlamentsauflösung als Negatívum bewertet und diese daher zu vermeiden ist. In einer solchen gestuften Entscheidung mehrerer oberster Verfassungsorgane[33] ist nach Ansicht des Verfassungsgerichts grundsätzlich davon auszugehen, dass jedes Organ seine Kompetenzen verantwortungsvoll watonimmt und die verfassungsrechtlichen Vorgaben für sein Handeln genau überprüft.[34] Dieser " anspruchsvolle Mechanismus der Gewaltenteilung vermag sich sinnvoll nur zu entfalten, wenn das Bundesverfassungsgericht die politische Einschätzung der Lage durch die zuvor tätigen Verfassungsorgane respektiert".[35]
Dem Bundesverfassungsgericht obliegt jedoch die Prüfung, ob der verfassungsrechtliche Rahmen tatsächlich richtig ausgelegt und eingehalten wurde. Das Gericht räumt dem Bundeskanzler eine im Ergebnis nicht zu kontrollierende Prognose über die jetzige und zukünftige Stabilität seiner Mehrheit im Parlament und damit über seine politische Handlungsfähigkeit ein. Bundespräsident Köhler begründete seinen Auflösungsbeschluss 2005 damit, dass "der Einschätzung des Bundeskanzlers, er könne bei den bestehenden Kräfteverhältnissen künftig keine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene Politik mehr verfolgen,... keine andere Einschätzung eindeutig vorzuziehen" sei.[36] Dieser Formulierung schließt sich das Bundesverfassungsgericht an und prüft nur, ob die Einschätzung der politischen Stabilität durch den Bundeskanzler nicht offensichtlich fehlerhaft ist. Dasselbe gilt für das politische Ermessen des Bundespräsidenten: Auch dessen Ausübung wird durch das Bundesverfassungsgericht nur auf grobe Fehleinschätzungen hin kontrolliert. Damit haben vor allem der Bundeskanzler, in geringerem Maße auch der Bundespräsident ein gerichtsfreies politisches Ermessen. Das ist vom Bundesverfassungsgericht durchaus so beabsichtigt, denn "das Grundgesetz [will] nur die Kontrolle poltischer Herrschaft ... und nicht die Verrechtlichungdes politischen Prozesses".[37]
Hinzu kommt, dass nach Ansicht des Gerichts aus den Besonderheiten der parlamentarischen Arbeit und des politischen Lebens folgt, dass sich eine Beurteilung von Stabilität oder Instabilität nur zum Teil auf offenkundige Tatsachen stützen kann. Auch verborgene Umstände, die nur den politischen Akteuren erkennbar sind, nicht aber Außenstehenden wie dem Gericht, können eine solche Einschätzung wesentlich stützen. Es kann nicht verlangt werden, dass diese Interna im Verfassungsgerichtsverfahren offen gelegt werden.[38] Damit eröffnet das Gericht dem Bundeskanzler die Möglichkeit, sich auf "Verborgenes" zu berufen, dessen Existenz vom Gericht im Prozess nicht weiter nachgeprüft wird. Ergänzt wird diese Argumentation durch das schon im Urteil 1983 ausgesprochene Verbot, die (wahren) Motive der Abgeordneten zu erforschen, die dem Bundeskanzler das Vertrauen verweigert haben: Das Bundesverfassungsgericht hat das Ergebnis der Vertrauensabstimmung als Tatsache hinzunehmen und nicht nach den Gründen zu fragen.
Viele Aussagen des Bundesverfassungsgerichts sind im Detail nicht auf die ungarische Verfassungslage anwendbar, weil zwischen § 39/A ungVerf und Art. 67, 68 dtGG gewisse Unterschiede bestehen, die eine wörtliche Übertragung verbieten. Einige Grundpositionen der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit passen jedoch auch auf Ungarn.
Zunächst ist die zurückhaltende Rolle des Verfassungsgerichts zu erwähnen. § 39/A ungVerf und Art. 67, 68 dtGG regem politische Fragen: das Vertrauen zwischen Parlament und Regierung und damit eine Essentiale des Parlamentarismus. Wenn diese Vorschriften praktisch werden, handelt es sich notwendig um hochpolitische Vorgänge. Diese zu beurteilen weigert sich das Verfassungsgericht zu Recht. Es sieht seine Rolle als Wächter über die rechtlichen Vorgaben, nicht aber über die politischen Vorgänge. Dieses Ergebnis entspricht der US-amerikanischen Praxis der "political question doctrine".[39] Der deutsche und US-amerikanische Standpunkt
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haben ihren guten Grund in der Gewaltenteilung: Zur Beurteilung politischer Fragen sind die Regierung und das Parlament qualifiziert und legitimiert, während sich Qualifikation und Legitimation der Gerichte einschließlich des Verfassungsgerichts auf Rechtsfragen beschränken. Diese Argumente gelten in vollem Umfang auch in Ungarn, und das ungarische Verfassungsgericht würde sich unnötig selbst beschädigen, wenn es inhaltlich zu politischen Fragen Stellung nähme.
Ein zweiter Gedanke ist die zurückhaltende Interpretation der vorhandenen Normen: Die Vorschriften werden restriktiv interpretiert und so der politische Prozess nicht in einen rechtlichen (und damit gerichtlich überprüfbaren) Vorgang umgedeutet. Die deutsche Rechtsprechung beschränkt den rechtlichen Gehalt der Art. 67, 68 dtGG im Wesentlichen auf Verfahrensregeln. Inhaltliche Vorgaben leitet das Verfassungsgericht nur mit größter Zurückhaltung ab, und diese inhaltlichen Aspekte dienen vor allem dazu, Misstrauensvotum und Vertrauensfrage gegen andere Verfassungsvorschriften abzugrenzen. Hier ist vor allem das Verbot der Selbstauflösung des Parlaments zu nennen: Das dtGG enthält dem Bundestag ein Selbstauflösungsrecht bewusst vor. Die inhaltlichen Kautelen, die die Entscheidungen von 1983 und 2005 formulieren, sollen vor allem verhindern, dass Regierung und Bundestagsmehrheit im Einverständnis das Selbstauflösungsverbot des Bundestags umgehen. Dieser Aspekt spielt für Ungarn keine Rolle, denn das Parlament kann sich hier gemäß § 28 Abs. 2 ungVerf jederzeit selbst auflösen. Daher bietet sich in Ungarn noch stärker als in Deutschland die Eingrenzung des § 39/A ungVerf auf eine reine Verfahrensregelung an, die dem Spiel der politischen Kräfte keine inhaltlichen Schranken auferlegt, sondern lediglich dessen Spielregeln fixiert.
Eine solche Konzentration auf den verfahrensrechtlichen Aspekt legt auch der bislang einzige ungarische "Präzedenzfall" nahe. Ministerpräsident Medgyessy zögerte bei der Regelung seiner Nachfolge mitten im parlamentarischen Zyklus zwischen einem Rücktritt und einem "inszenierten" konstruktiven Misstrauensvotum. Das verfassungsrechtliche Problem war die zwingende Beteiligung des Präsidenten der Republik an der Nominierung des Nachfolgekandidaten im Falle eines Rücktritts. Anders als in Deutschland kann in Ungarn das Parlament keinen Ministerpräsidenten ohne vorherigen Vorschlag des Staatsoberhaupts wählen - mit Ausnahme des konstruktiven Misstrauensvotums. Die Beteiligungsrechte des Präsidenten der Republik sind aber verfahrensrechtlicher Natur, während sich die Verfassungsfragen in Deutschland auf das Bestehen von Vertrauen und die polischen Absichten von Regierung und Parlament bezogen. Bei Verfahrensfragen - so die Lehre aus der deutschen Rechtsprechung, aber auch aus dem Blick auf die USA - gibt es weniger Gründe, die Verfassung zurückhaltend auszulegen.
Hätte Medgyessy hingegen 2004 den Weg über das im Emverständnis mit den Koalitionsfraktionen ausgeübte konstruktive Misstrauen gewählt, so wäre das ungarische Verfassungsgericht gut beraten, in einem eventuellen Verfassungsrechtsstreit seine Rolle so zurückhaltend zu interpretieren wie seine deutschen und US-amerikanischen Schwesterinstitutionen. Gewisse inhaltliche Vorgaben an das konstruktive Misstrauensvotum könnte das Verfassungsgericht aus dem Umgehungsverbot ableiten: Wie die "unechte Vertrauensfrage" in Deutschland dazu dienen kann, das dem Parlament vorenthaltene Selbstauflösungsrecht dennoch einzuführen, so kann in Ungarn das konstruktive Misstrauensvotum dazu genutzt werden, das Nominierungsmonopol des Staatspräsidenten stärker als von der ungVerf gewollt einzuengen. Der in Deutschland gefundene Maßstab - dass der Regierungschef nach Einschätzung der politischen Akteure keine dauerhafte Basis mehr im Parlament haben muss - eignet sich durchaus als Ausgangspunkt für eine ungarische Dogmatik in diesem Punkt, muss allerdings in Betracht ziehen, dass Angriffsgegenstand einer Klage in Ungarn ein Parlamentsbeschluss über die Wahl eines neuen Ministerpräsidenten sein dürfte, während sich die Klage in Deutschland gegen den Parlamentsauflösungsbeschluss des Bundespräsidenten richtet. ■
NOTEN
[1] In Ungarn: § 31 Abs. 1 Buchst, f), Abs. 4, § 31/A Abs. 2-6, § 32 Verfassung; in Deutschland: Art. 61 Grundgesetz.
Aktuell geworden ist die Präsidentenanklage in den letzten Jahren in Litauen, wo Präsident Rolandas Paksas auf diesem Weg seines Amtes verlustig ging. Hierzu Statkevièius, Mindaugas: Das Impeachment-Verfahren gegen den litauischen Staatspräsidenten: Rechtliche Regelung und politische Praxis. Jahrbuch für Ostrecht (JOR) 2004/II, S. 363-372.
[2] Oldiges, Martin in Sachs, Michael (Hrsg.): Grundgesetz. Kommentar. 2. Aufl., München, Beck, 1999, Art. 67 Randnummer (Rn.) 10.
[3] Eine erste Regelung führte das Verfassungsänderungsgesetz 1989:VIII mit Wirkung vom 26. Mai 1989 eia Die heute geltende Fassung schuf im Wesentlichen das Verfassungsänderungsgesetz 1990:XL, das die 1989 geschaffene Rechtslage vor allem in Details abänderte, in den großen Linien aber Kontinuität zeigte. Zur Entstehungsgeschichte s. Holló András in Balogh Zsolt et al.: Az Alkotmány magyarázata. Budapest, KJK-Kerszöv, 2002, S. 454-456; Vincze Attila: "Kabinet-kérdés" - A Kormány lemondási kötelezettsége a bizalom megvonása esetén. Magyar Jog 2004, S. 339-346.
[4] Sári János in Kukorelli István (Hrsg.): Alkotmánytan I. Budapest, Osiris, 2003, S. 362.
[5] Ein Vergleich beider Regelungen findet sich bei Vincze (s.o. Fn. 3), S. 341-342.
[6] Eine Schilderung des Ablaufs findet sich bei Zlinszky János: Jogállamból - elégséges. Magyar Jog 2005, S. 91-94. Eine politologische Analyse des Geschehens liefert Körösényi András: Legitim-e az új Kormány?. Heti Válasz 2004/42, S. 60-61.
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[7] Urteil vom 25. August 2005, Aktenzeichen 2 BvE 4/05 und 2 BvE 7/05, veröffentlicht in Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2005, S. 2669-2682.
[8] 1972 stellte Bundeskanzler Willy Brandt nach einem gescheiterten Misstrauensantrag seinerseits die Vertrauensfrage, um hierdurch Neuwahlen zu erreichen und eine stabilere Lage im Parlament herzustellen, was ihm auch gelang. Da dies auf allgemeinen politischen Konsens stieß, wurde das Bundesverfassungsgericht nicht befasst, in der Folge wurden aber im rechtswissenschaftlichen Schrifttum deutliche Bedenken gegen die Verfassungskonformität dieses Vorgehens geäußert.
Anfang 1982 stellte Bundeskanzler Helmut Schmidt die Vertrauensfrage, um die uneinige Regierungskoalition wieder hinter sich zu bringen. Der Bundestag sprach ihm das Vertrauen aus; das Bundesverfassungsgericht bekam daher keine Gelegenheit zur Prüfung.
Ende 1982 gelang es Helmut Kohl, den bisherigen Bundeskanzler Helmut Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum zu stürzen; er stellte daraufhin die Vertrauensfrage, um Neuwahlen zu erreichen und sich vom Volk eine "Bestätigung" geben zu lassen. Diesmal wehrten sich einige Abgeordnete gegen die Auflösung des Parlaments vor dem Verfassungsgericht; hierzu die Entscheidung vom 16. Februar 1983, Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 62/1.
2001 verband Bundeskanzler Gerhard Schröder eine Abstimmung mit der Vertrauensfrage, um die in der Frage tief gespaltene Regierungskoalition zu einer Zustimmung zu seiner Politik zu zwingen; hiermit hatte er Erfolg.
[9] 55/2004. (XII. 13.) AB, ABH 2004, S. 788, hatte nicht die politischen Vorgänge im Zusammenhang mit dem Wechsel von Medgyessy zu Gyurcsány zum Gegenstand, sondern war ein Normenkontrollverfahren zu § 7 Gesetz 1997:LXXIX über die Rechtsstellung und Verantwortlichkeit der Regierungsmitglieder und Staatssekretäre. Diese Entscheidung enthält zwar auch Äußerungen zu § 39/A ungVerf, ist aber in einem anderen Kontext entstanden und daher in ihrer Fragestellung mit den deutschen Entscheidungen kaum vergleichbar.
[10] Eine bloße Einigkeit im Negativen - entweder gegen einzelne Minister oder gegen die Regierung insgesamt -würde es dem Parlament ermöglichen, keinerlei Verantwortung zu übernehmen und gleichzeitig das andere zentrale Verfassungsorgan Regierung daran zu hindern, seinerseits die Verantwortung für das Land zu tragen. Erfahrungen aus der Vergangenheit, z.B. in der Weimarer Republik in Deutschland, zeigen, dass der Gewinner einer solchen parlamentarischen Flucht aus der Verantwortung das letzte funktionsfähige Verfassungsorgan ist, nämlich das Staatsoberhaupt: Mager, Ute in v. Münch, Ingo/Kunig, Philip (Hrsg.): Grundgesetz-Kommentar, Band 2. 4./5. Aufl., München, Beck, 2001, Art. 67 Rn. 1.
[11] Bei der Wahl des Regierungschefs durch ein neues Parlament hat das Staatsoberhaupt gemäß § 33 Abs. 3 Satz 1 ungVerf, Art. 63 Abs. 1 dtGG das Vorschlagsrecht und damit eine formale Beteiligung an der Personalentscheidung, die vor allem in Krisensituationen zu einem echten politischen Einfluss erstarken kann.
[12] Geschäftsordnung des Parlaments 46/1994. (IX. 30.) OGY hat.
[13] Um die Einhaltung der Frist auch außerhalb der Sitzungsperioden sicherzustellen, ermöglicht § 134 Abs. 1 Buchst, a) Házszab. die Einberufung des Parlaments zu einer außerordentlichen Sitzung oder gar außerordnentlichen Sitzungsperiode.
[14] Der Bundespräsident darf die Ernennung nur aus Rechtsgründen verweigern, d.h. wenn der Bundestag eine Person zum Bundeskanzler gewählt hat, deren Wahl rechtlich unzulässig ist, etwa weil es an der deutschen Staatsangehörigkeit fehlt. Auch wenn der Wahlvorgang rechtlich fehlerhaft ist, z.B. wenn die Stimmenzahl nicht die vorgeschriebene Mehrheit erreicht, hat der Bundespräsident das Recht, die Ernennung zu verweigern.
[15] Im Fall Medgyessy/Gyurcsány hingegen lag die Besonderheit darin, dass in Betracht gezogen wurde, im Wege eines Misstrauensantrags durch die Regierungskoalition innerhalb bestehender Mehrheiten ein Wechsel in der Person des Ministerpräsidenten zu vollziehen, ohne den Präsidenten der Republik zu involvieren. Die Opposition war an diesen Vorgängen nicht beteiligt. Damit sind die ungarischen Vorgänge ebenso atypisch wie die deutschen Vertrauensfragen, die die rechtlichen Voraussetzungen zur vorzeitigen Parlamentsauflösung schaffen sollten.
[16] Ipsen, Jörn: Zur Regierung verurteilt?, NJW 2005, S. 2201-2204, spricht daher auf S. 2202 davon, dass die Vertrauensfrage ein "Disziplinierungsmittel" in den Händen des Regierungschefs sei. Ähnlich Schenke, W.-R., in Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg, C. F. Müller, Loseblatt ab 1950, Art. 68 Rn. 29-30 (Stand 1989); Vincze (s.o. Fn. 3), S. 341.
[17] Direkt in § 39/A Abs. 4 ungVerf, indirekt aus Art. 81 Abs. 1 Satz 2 dtGG.
[18] Einige Probleme der ungarischen Regelung deutet Vincze (s.o. Fn. 3), S. 341, an.
[19] Hat die Vertrauensfrage Erfolg, ändert sich nichts: Der amtierende Regierungschef und seine Regierung behalten ihre Stellung. Dieser Fall ist rechtlich unproblematisch.
[20] Zweifelhaft ist der zeitliche Rahmen dieser Frist: Vincze (s.o. Fn. 3).
[21] Das reguläre Regierungsmandat soll allerdings nicht erst mit dem Rücktritt enden, sondern bereits mit der verlorenen Abstimmung im Parlament: Petrétei József: Magyar alkotmányjog II. Budapest, Pécs, Dialog Campus, 2001, S. 120. Mit § 33/ A ungVerf ist diese Ansicht kaum vereinbar.
[22] Zlinszky (s.o. Fn. 6), S. 92-93. Eher theoretischer Natur ist der Ausweg, den Bitskey Botond/Tordai Csaba: A jogállam, a parlamentarizmus és a köztársasági elnök. Magyar Jog 2005, S. 218-220, auf S. 219 vorschlagen: Das Parlament wählt mit einer "reservatio mentalis" den Kandidaten des Staatspräsidenten, nur um ihn sofort danach über ein konstruktives Misstrauensvotum durch einen ihm (dem Parlament) genehmen Kandidaten zu ersetzen.
[23] Dreier, Horst: Grundgesetz-Kommentar, Band II. Tübingen, Mohr Siebeck, 1998, Art. 68 Rn. 21; Mager (s.o. Fn. 10), Art. 68 Rn. 24; Vincze (s.o. Fn. 3), S. 341.
[24] Hieran kann auch der Bundestag nichts ändern, denn er hat kein Selbstauflösungsrecht. Der Bundestag kann höchstens einen anderen Bundeskanzler wählen, wofür er die Mehrheit aller Mitglieder zusammenbringen muss.
[25] Es ist das Verfahren, das nach jeder Neuwahl des Bundestags durchlaufen wird. Art. 63 Abs. 1 dtGG entspricht in seiner Funktion daher § 33 Abs. 3 Satz 1 ungVerf.
[26] Zlinszky (s.o. Fn. 6), S. 93, spricht kritisch von einem "szinte kötetlen elnöki hatalmi kör". Auf die dennoch vorhandenen verfassungsrechtlichen Grenzen weisen Bitskey/Tordai (s.o. Fn. 22), S. 218-219, hin.
[27] Mit diesem Begriff wird die zur Wahl des Bundeskanzlers notwendige Mehrheit aller Abgeordneten bezeichnet.
[28] Zum Streitstand vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2005 s. Mager (s.o. Fn. 10), Art. 68 Rn. 9-23.
[29] Leitsatz Nr. 6 des Urteils 1983.
[30] Leitsatz Nr. 5 des Urteils 1983, Leitsatz Nr. 2 des Urteils 2005.
[31] Ipsen (s.o. Fn. 16), S. 2202.
[32] Schenke, Wolf-Rüdiger, Baumeister, Peter: Vorgezogene Bundestagswahlen: Überraschungscoup ohne Verfassungsbruch?, NJW 2005, S. 1844-1846.
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[33] Das Bundesverfassungsgericht spricht von "Verantwortungskette": NJW 2005, S. 2673.
[34] Leitsatz Nr. 4. c) des Urteils 2005.
[35] So wörtlich im Urteil 2005, NJW 2005, S. 2673.
[36] Diese Formulierung wird nach dem Bundespräsidenten seitdem "Köhler-Formel" genannt.
[37] Urteil 2005, NJW 2005, S. 2673.
[38] Leitsatz Nr. 4 b) des Urteils 2005.
[39] Hierzu gibt es eine lange Reihe von Urteilen des Supreme Court, angefangen mit Ware v. Hylton, 3 U.S. (3 Dall.) 199 (1796) über Marbury v. Madison, 5 U.S. (1 Cr.) 137 (1803) und Martin v. Mott, 25 U.S. (12 Wheat.) 19 (1827) bis zu Baker v. Carr, 369 U.S. 186 (1962) und Gilligan v. Morgan, 413 U.S. 1 (1973).
Lábjegyzetek:
[1] Der Autor ist von der Institut für Ostrecht München.
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