Man mag sich wundern, was in Abs. 2-3 von Art. XXII. der neuen ungarischen Verfassung steht. Nach der Deklaration des Staatsziels,[1] "jedem die Bedingung eines menschenwürdigen Wohnens und den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen zu sichern", liest man Folgendes:
"(2) Der Staat und die kommunale Selbstverwaltungen fördern die Schaffung der Bedingungen des menschenwürdigen Wohnens auch dadurch, dass sie sich bemühen, die Unterbringung aller obdachlosen Personen zu sichern.
(3) Zum Schutze der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit, der allgemeinen Gesundheit oder der kulturellen Werte kann durch Gesetz oder durch kommunale Verordnung das sich lebensführungsmäßig in gewissen Teilen des öffentlichen Raumes aufhalten als rechtswidrig qualifiziert werden."
Ziel dieses Aufsatzes ist es, aus verwaltungsrechtlicher Perspektive einige der Gründe darzulegen, die den Verfassungsgeber dazu veranlasst haben, diese Regelungen in der Verfassung festzuschreiben. Dazu muss erst das verwaltungsrechtliche Sanktionssystem (II.) und ihr Transformationsprozess (III.) kurz vorgestellt werden um dann einige Wege des Gesetzgebers zur Wahrung der ordnungsgemäßen Nutzung des öffentlichen Raumes zu untersuchen (IV.) und zu bewerten (V).
- 213/214 -
Anfang der 60-er Jahre fingen die Bemühungen an, die Ordnungswidrigkeit als die generelle Form der verwaltungsrechtlichen Sanktion zu institutionalisieren. Diese Änderung erfolgte im Zuge der Entkriminalisierung. Es wurden einerseits die Übertretungen, die schwächste Form von Straftaten nach Aufgabe der Trichotomie und andererseits die verwaltungswidrigen Handlungen zu einem Rechtsinstitut zusammengeführt.[2] Gemeinsames Kennzeichen der Ordnungswidrigkeiten war, dass sie die Gesellschaft in minderem Maße gefährden als die Straftaten. Es gab viele Ordnungswidrigkeiten die nicht als kriminell, sondern bloß "verwaltungswidrig", also als Ungehorsam gegenüber verwaltungsrechtlichen Regeln angesehen wurden. Alle Sondersanktionen der Sonderordnungsbehörden wurden in dieses System eingeordnet. Dieses theoretische Vorhaben scheiterte aber an der Rechtspraxis: in den 1970er Jahren wurden zur Vereinfachung der Rechtsanwendung die ersten Formen der Zustandsverantwortlichkeit im besonderen Verwaltungsrecht eingeführt, erst im Baurecht und im Abwasserrecht, dann in immer größerem Maße auf anderen Gebieten. Hier wurde die Höhe der Geldstrafe ohne Hinblick auf das Verschulden, oft nach mathematischen Formeln gerechnet. Die Einnahmen aus diesen Sanktionen flossen auch dem jeweiligen Resort zu und auch die Beweisführung war viel einfacher. Es verwundert also nicht, dass jedes Ressort nach und nach seine Sondersanktionen entwickelte. Nach der Wende wurde die Zustandshaftung auf immer mehr Gebieten entdeckt, da diese viele Vorteile hatte: die Einnahmen aus den Verwaltungsstrafen flossen in die Kasse der jeweiligen Behörde ein und die Beweisführung - und somit die Erreichung der rechtskräftigen Entscheidung - war viel einfacher. Somit entwickelte sich neben den Ordnungswidrigkeiten die zweite Säule der verwaltungsrechtlichen Sanktionen, die als 'materiellrechtliche Sanktionen' benannt wurden. Diese Entwicklung hatte wichtige Folgen für das gesamte Sanktionssystem und führte schließlich zu dessen
- 214/215 -
Umformung. Damit sind wir zu dem Ausgangspunkt dieses Rechtsgebiets zurückgelangt. Das neue Gesetz über die Ordnungswidrigkeiten (OWiG) von 2012[3] brach eindeutig mit dem früheren Konzept der Ordnungswidrigkeiten als generelle verwaltungsrechtliche Sanktion und deklarierte, dass die Ordnungswidrigkeiten geringfügig kriminelle Handlungen und Unterlassungen sind. Somit bilden sie nun eigentlich wieder die dritte Form von Straftaten neben den Verbrechen und Vergehen bilden.
Worin können wir die Gründe für diese Rückkehr sehen? Neben der allgemeinen kriminalpolitischen Tendenz der härteren Bestrafung[4] sind die Gründe m.E. auch in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu suchen.
Der Staat hat lange versucht, das Recht der Ordnungswidrigkeiten von der richterlichen Überprüfung fernzuhalten. Als Ungarn der EMRK zugetreten ist, wurde deshalb zu Art. 6 ein Vorbehalt wegen der Ordnungswidrigkeiten gemacht. Diese konnten nämlich auch nachdem das Verfassungsgericht in 1990 den Rechtsweg zum Gericht gegen Verwaltungsentscheidungen frei gemacht hat,[5] nicht vor Gericht angefochten werden, da sie nicht durch das VwVfG geregelt wurden. Das Verfassungsgericht hat hier trotz dieses Vorbehaltes in 1998 so Stellung genommen, dass das Fehlen der richterlichen Überprüfbarkeit dieser Entscheidungen sowohl die Rechtsstaatlichkeit, als auch das Recht auf Rechtsbehelf verletzt. Diese These basierte zum großen Teil auf der Rechtsprechung des EGMR, der den strafrechtlichen Charakter auch von gewissen Verwaltungsentscheidungen anerkannte. Mittelbar entfaltete diese eine wichtige Rolle bei der Feststellung der verfassungswidrigen Unterlassung des Gesetzgebers, das zu einem Grundrechte-konformeren OWiG geführt hat. Diese Rechtsprechung hat das VerfG dann weitergeführt,
- 215/216 -
und mehrere Grundsätze des verfassungskonformen Strafrechts auf die Ordnungswidrigkeiten ausgebreitet und so den strafrechtlichen Charakter der Ordnungswidrigkeiten immer stärker akzentuiert.[6]
Der Gesetzgeber verband aber die Probleme der Rechtsdurchsetzung mit den durch die Anwendung der Kriterien des verfassungskonformen Strafrechts gesteigerten verfassungsrechtlichen Anforderungen, was ihn dazu veranlasste, mehrere Rechtsverhältnisse aus dem Kreis der Ordnungswidrigkeiten herauszunehmen. Diese Flucht nahm mehrere Richtungen.
Im Zeichen der "Null Toleranz gegen Zuwiderhandelnde", der Verschärfung der Verfolgung und Bestrafung von Übertretungen hat der Gesetzgeber die Verkehrsordnungswidrigkeiten von den Ordnungswidrigkeiten losgelöst. Es wurde ein neues System der Verkehrsverstöße im Straßenverkehrsgesetz (StVG) geregelt. Es wurden für die festgesetzte Geldstrafe-Tarife für die verschiedenen Verstöße eingeführt: Beim Schnellfahren bestimmt die Höhe des Bußgelds alleine das Ausmaß der Geschwindigkeitsübertretung. Somit wurde von der Polizeibehörde jedweder Beurteilungsspielraum weggenommen. Die andere wichtige Verschiebung erfuhr das Schnellfahren dadurch, dass die Haftung zu einer Zustandshaftung umgewandelt wurde. Einer der Gründe hierfür war die verfahrensrechtliche Möglichkeit der Verweigerung der Aussage für den Fall, in dem jemand sich oder seine Verwandten durch die Aussage mit einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit belasten würde. Auf diese Garantie
- 216/217 -
gestützt haben nämlich viele Kfz-Eigentümer die Auskunft darüber verweigert, wer zum fraglichen Zeitpunkt das Auto gefahren hat. Also hat der Gesetzgeber die Regel eingeführt, dass der Halter des Kraftfahrzeuges die Verantwortlichkeit für das rechtswidrige Handeln trägt.[7] Das System wurde natürlich bald der Verfassungskontrolle unterzogen.[8] Das VerfG hat seine Untersuchung gleich mit einem rechtsvergleichenden Ausblick begonnen und auf den Fall O'Halloran and Francis vs. United Kingdom[9] abstellend erklärt, das die Umformung der Haftung per se nicht verfassungswidrig ist. Danach berief sich das VerfG selbstverständlich auf seine eigene Rechtsprechung in Zusammenhang mit anderen Formen der Zustandshaftung. Das VerfG hat aber auch die Verfassungsmäßigkeit der Ausgestaltung des Verfahrens geprüft. Es wurde der Effektivität halber so ausgestaltet, dass die Behörde die Daten des Halters des fotografierten Fahrzeuges aus dem Register abruft und gleich den Bescheid über die Geldstrafe ausfertigt und zustellt. Nach der Zustellung kann der Halter sich exkulpieren und die Daten des tatsächlichen Fahrers angeben. In einem solchen Fall wird der Bescheid zurückgenommen. Das VerfG hat hier die Empfehlung des Ministerrates des Europäischen Rates Rec 91(1) über die verwaltungsrechtlichen Sanktionen aufgerufen und auf das dort festgeschriebene Recht auf ein faires Verfahren, bzw. auf die Regelungen des VwVfG basierend festgestellt, dass diese Art der Ermöglichung der Exkulpation nach dem Abschluss des Verfahrens verfassungswidrig ist, da die Beweisführung in vielen Fällen dadurch vereitelt wird. Das Recht auf effektiven Rechtsschutz wird so auch verletzt.
Auf die Vereitlung der Beweisführung stellte auch die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung ab in den Sachen wo darüber entscheiden werden musste, ob die Vorschrift des StVG, welche den Behörden zur Sanktionierung von Verkehrswidrigkeiten 60 Tage zur Verfügung gestellt hat, eine materielle oder eine verfahrensrechtliche Natur hat, also bei einer Zustellung nach Verstreichen der Frist der Bußgeldbescheid noch wirksam werden kann oder nicht. Die Fragestellung
- 217/218 -
wurde dadurch verschärft, dass die Polizei in vielen Fällen den Bescheid zwar binnen der Frist erbracht hat, es aber zur Zustellung nicht selten erst 6-8 Wochen später kam. Da die Rechtsprechung in dieser Frage nicht einheitlich war, hat das OGH eine Rechtseinheitsentscheidung zur Klärung dieser Frage erbracht[10]. Es ist zu der Folgerung gekommen, dass es sich um eine verfahrensrechtliche Frist handelt, deren Überschreitung in Einzelfällen, bei der Vereitlung der Beweisführung als wesentlicher Fehler betrachtet werden kann, welche aber im allgemeinen die Polizei nicht daran hindert, die Sanktionierung verspätet vorzunehmen. Leider hat das OGH hier versäumt, die grundrechtlichen Aspekte einzubeziehen und die diese sogar in das VwVfG einbauende Grundsätze bei seiner Entscheidung nicht in Betracht genommen. Der Gesetzgeber hat nach dieser Entscheidung eine Korrektur vorgenommen und klargestellt, dass es sich hier um eine materielle Frist handelt.
Auch machte der Gesetzgeber durch die Änderung des VwVfG klar, dass die Ordnungswidrigkeiten nicht mehr die alleinige Sanktionsform bilden. Es wurde das Rechtsinstitut des "Verwaltungsstrafgeldes" geschaffen, wodurch klar gestellt wurde, dass die verwaltungsrechtliche Sanktionierung im Rahmen des VwVfG geschieht. Hier wurden einerseits die Gesichtspunkte der Ermessensausübung hinsichtlich der Höhe des Bußgeldes, andererseits die Verjährungsfristen, sowie die Beschlagnahme und der Verfall geregelt. Es gab aber auch einen anderen weg, der die Rechtsdurchsetzung leichter machte.
Beim Parken ohne Entgelt in den gebührenpflichtigen Parkzonen wurde die Lösung gewählt, dass die Möglichkeit des Parkens als Dienstleistung der Kommunen angesehen wird und in einem privatrechtlichen
- 218/219 -
Rechtsverhältnis in Anspruch genommen wird.[11] Die Zuwiderhandlungen werden also auf privatrechtlichen Wegen verfolgt und sanktioniert. In der Rechtssprechung war nach Schaffung der Parkzonen die Einordnung dieses Rechtsverhaeltnisses eine Zeit lang streitig. Schliesslich hat die zivilrechtliche Rechtsprechung sich für das Privatrecht entschieden. Diese Lösung wurde dann in das Gesetz über die Kommunale Selbstverwaltungen übernommen, und im Großen und Ganzen durch das VerfG[12] - obwohl sie in ihrer früheren Rechtsprechung noch Versuche gegen diese Privatisierung unternahm -[13] in Prinzip als verfassungskonform gewertet. Der Unterschied in der Bewertung der Regelung kam aus den unterschiedlichen grundrechtlichen Ausgangspositionen. Das OGH stellte auf die Einordnung der Straße als Vermögen der Kommune ab. Aus dem kommunalen Grundrecht auf Eigentum der Kommune heraus ordnete das OGH dieses Rechtsverhältnis ins Privatrecht ein. Das VerfG stellte noch früher auf das Grundrecht der Freizügigkeit ab, welches hier mit hoheitlichen Mitteln begrenzt wird.
Der Begriff der öffentlichen Ordnung konnte sich in Ungarn nicht organisch entwickeln. Nach der anfänglichen Orientation am deutschen Recht wurde dem sowjetischen Modell gefolgt, wo die Polizei die meisten Befugnisse innehatte. Das Ordnungsrecht wird deshalb meistens mit dem Polizeirecht gleichgestellt, und wahrscheinlich folgt hieraus, dass der Begriff der öffentlichen Ordnung fast immer als kriminalpolitischer Bezugspunkt verwendet wird. Die meisten wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit dem Polizeirecht beschäftigen, konstatieren zwar, dass das Ordnungsrecht Teil des Verwaltungsrechts ist, untersuchen diese aber vor allem aus der organisatorischen Perspektive der Polizei.[14] Der Gefahrenbegriff wurde
- 219/220 -
durch die Rechtsprechung oder die Verwaltungswissenschaft auch nicht hinreichend geklärt und wird deshalb in erster Linie an die Dogmatik des Strafrechts angebunden. Eine sehr wichtige Folge dieser Entwicklungslinie war, dass in 1989 aus der Verfassung der Absatz außer Kraft gesetzt wurde, der die öffentliche Ordnung und die öffentliche Sicherheit als mögliche Schranken der Grundrechte benannte. Daraus resultierte, dass das VerfG bei der Prüfung der Notwendigkeit der Schranken einen sehr strengen Maßstab gesetzt hat, die zu einem sehr starken Grundrechtschutz geführt hat. Die Notwendigkeit der Schranke ist begründet, falls sie ein anderes Grundrecht schützt, die Begründetheit ist aber viel schwächer, falls es nur indirekt zum Schutz anderer Grundrechte dient und am schwächsten, wenn nur ein abstrakter Wert dadurch geschützt sein sollte.[15] Die begriffliche Klärung wurde auch dadurch verzögert, dass das VerfG es auf dieser Grundlage nicht als seine Aufgabe sah, bei der Notwendigkeitsprüfung die Begriffe der öffentlichen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung zu klären:
"Das Verfassungsgericht hat den Versuch der begriffliche Annäherung der öffentlichen Ordnung zur Beurteilung der Notwendigkeit der Grundrechtsschranke unternommen. Der Inhalt der öffentlichen Sicherheit, ihr Bezug zur öffentlichen Ordnung und der inneren Ordnung, sowie die Begriffsbestimmung letzterer sind Objekte wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtes, in diesen Fragen Stellung zu nehmen. Die Übersicht der aus dieser Sicht relevanter Elemente des Rechtssystems zeigt aber auch, dass die öffentliche Ordnung eine mehrdeutige Kategorie ist, dass hinter diesem Begriff inhaltlich mehrere Interessen und Werte, beziehungsweise mehrere, grundlegend verschiedene Aufgaben stehen. [...] Die öffentliche Ordnung besitzt gewiss einen verfassungsrechtlich relevanten Inhalt. Doch ist die Struktur diese Zieles, Begriffs so kompliziert, dass seine Interpretation zu bedeutender Unsicherheit führt. Deshalb kann es nicht im Allgemeinen als Grundrechtsschranke dienen."[16]
- 220/221 -
Statt Abwägung und vielschichtige Lösungen reagiert also der Gesetzgeber undifferenziert mit der Re-Kriminalisierung des Rechts der Ordnungswidrigkeiten. Damit haben wir aber ein neues Problem: Was soll mit den Handlungen passieren, die nicht (eindeutig) krimineller Natur sind, aber die ungeschriebenen Normen des menschlichen Zusammenlebens verletzen? Zu diesem Kreis gehören die im öffentlichen Raum realisierte nicht kriminelle Verhalten, die die öffentliche Ordnung stören, so etwa die Anbietung sexueller Dienstleistungen oder das stille Betteln.[17] In letzter Zeit sind die Erscheinungsformen der Obdachlosigkeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Hier wurden sowohl von der Gesetzgebung, als auch von einigen Kommunen Versuche unternommen, diese Probleme mit Hilfe der verwaltungsrechtlichen Sanktionierung zu lösen.
Die Anwendung der Verfassungsmaßstäbe des Strafrechts auf das Recht der Ordnungswidrigkeiten hat eine weitere große Änderung ausgelöst. Der Gesetzgeber ging bei der Reform des Rechts der Ordnungswidrigkeiten vom Prinzip des nullum crimen sine lege aus. Da Handlungen nur durch Gesetz strafbar gemacht werden können, ist es ersichtlich, dass die Kommunen nunmehr keine Befugnis dazu haben, ein Verhalten als Ordnungswidrigkeit zu qualifizieren. Doch war es klar, dass die öffentliche Ordnung auf lokaler Ebene auch gesichert werden muss. Deshalb wurden die Gemeinden im neuen Gesetz über die kommunalen Selbstverwaltungen dazu ermächtigt, in ihren Verordnungen die "extrem gemeinschaftswidrigen Handlungen", sowie die Regeln zur Verhängung eines Bußgeldes festzustellen. Wie schon erwähnt, hat der Gesetzgeber parallel im VwVfG ein Kapitel über das "Verwaltungsstrafgeld" eingefügt. Von dieser Ermächtigung machten zahlreiche Kommunen Gebrauch, so wurde z.B. das sich Küssen auf öffentlichem Gelände, das Staubtuch aus dem Fenster wedeln oder das Gras höher als 20 cm wachsen lassen als extrem gemeinschaftswidrige Handlungen verfolgbar und strafbar gemacht. Das
- 221/222 -
VerfG hat diese Ermächtigung der Kommunen zur Bestimmung der extrem gemeinschaftswidrigen Handlungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft und sie vernichtet. Grund dafür war die Unbestimmtheit der "extrem gemeinschaftswidrigen Handlung". Dieser Begriff war also untauglich zur Wahrung der öffentlichen Ordnung. Die Vernichtung dieser Ermächtigung bedeutet keineswegs die Mittellosigkeit der Kommunen gegen die Störer der Nutzung des öffentlichen Raumes. Es gibt zahlreiche spezialgesetzliche Ermächtigungen zum Verordnungserlass und auch spezialgesetzliche Regelungen, welche verschiedene Verhalten verfolgbar machen. Auch hat der Gesetzgeber die vernichtete Ermächtigung in die Kommunalordnung etwas abgeschwächt zurückgeschrieben.
Einen ersten umstrittenen kommunalen Auftritt gegen Obdachlose bedeutete das Verbot des Durchsuchens der Sammelbehälter. Eine größere südwestungarische Stadt hat einerseits das Ausschütten der bereitgestellten Sammelbehälter und das Durchsuchen und das Entfernen des Abfalls als Ordnungswidrigkeit geregelt. Das VerfG hat einerseits festgestellt, dass das Ausschütten des Abfallbehälters schon gesetzlich als Ordnungswidrigkeit (Abfall im öffentlichem Raum wegwerfen) geregelt ist, das Entfernen aus dem Müllbehälter wegen der zivilrechtlichen Erwägungen entweder eine Straftat ist, oder aber als Aneignung von herrenlosen Gegenständen eine erlaubte Handlung, und so in beiden Fällen auch gesetzlich geregelt ist, also die Kommune hier keine Regelung erlassen durfte. Das Durchsuchen des Abfalls ist zwar durch höherrangiges Recht nicht geregelt, aber das VerfG hat die Verfassungswidrigkeit der Bestrafung dieser Handlung aus der allgemeinen Handlungsfreiheit abgeleitet. Es gehört zur Menschenwürde dieser Menschen, die dazu gezwungen sind, solche Handlungen zu machen, dies unbestraft machen zu können. Wenn sie damit andere Menschen bzw. die öffentliche Ordnung stören, werden diese Handlungen durch verschiedene Ordnungswidrigkeiten sowieso erfasst. Eine Sonderregelung verwirklicht somit auch eine mittelbare Diskriminierung, entschied das VerfG.
Eine ähnliche Logik verfolgte es im letzten November, als es die Ordnungswidrigkeit des sich dauerhaft (lebensführungsmäßig) auf
- 222/223 -
öffentlichem Gelände Aufhaltens vernichtet hat. Hier wurde einerseits darauf abgestellt, dass die meisten Störungen schon durch den Gesetzgeber in der Form von Ordnungswidrigkeiten erfasst werden, wie z.B. das wegwerfen von Abfall, die Verunreinigung vom öffentlichem Raum Die Befürworter dieser Lösung argumentierten zum Teil damit, dass die Obdachlosen ein Recht auf soziale Dienstleistungen haben, und deshalb nicht gezwungen wären, auf der Straße zu leben. Aber dürfen sie bestraft werden, weil sie von dieser Dienstleistung (von der wir leider wissen, dass sie nicht ohne Risiko ist) keinen Gebrauch machen? Das VerfG folgte dieser Argumentation nicht und ging davon aus, dass die Obdachlosigkeit ein von dem Sozialrecht erfasster Zustand ist, zu dessen Bekämpfung das Sozialrecht mehrere Mittel bereitstellt. Einerseits ist das Recht der Ordnungswidrigkeiten, wie das Strafrecht nur eine ultima ratio - wenn es andere Möglichkeiten zum Auftritt gegen ein Problem gibt, ist die Qualifizierung als Ordnungswidrigkeit unverhältnismäßig. Das VerfG betrachtete es als ein weiteres dogmatisches Problem, dass in diesem Fall eigentlich ein Zustand zu einer Ordnungswidrigkeit gemacht wurde, was aber mit den Kriterien des verfassungsmäßigen Strafrechts nicht in Einklang steht. Nach diesen Feststellungen musste das VerfG nicht weiter prüfen, ob der Schutz der öffentlichen Ordnung die Verfolgung als Ordnungswidrigkeiten begründen könnte und die Klärung dieser Frage wurde damit weiter hinausgeschoben. Das VerfG hat dazu schon früher die Meinung geäußert, dass es nicht die Aufgabe des VerfG sein kann, die Begriffe von öffentlicher Sicherheit und öffentlicher Ordnung zu definieren. Ähnlich hat es in dieser Entscheidung dies auch zum Ausdruck gebracht:
"Die abstrakten Verfassungswerte von öffentlicher Ordnung und öffentlicher Ruhe können eine Ordnungswidrigkeit von präventiver Natur nicht begründen. Sonst würde ein Großteil von Handlungen im öffentlichen Raum sanktionierbar gemacht werden, da diese oft störend für das Stadtbild, für die Ruhe der Bewohner wirken und meistens mit Lärm verbunden sind."[18]
- 223/224 -
Je weniger konkret die Gefahr ist, desto grösser ist also die Chance dessen, dass ein Grundrecht oder ein Verfassungsprinzip die Maßnahmen der Gefahrenabwehr unmöglich macht.
Darauf berief sich auch das VerfG im erstgeschilderten Fall: die kommunalen Ordnungsdienste und die Polizei verfügen über zahlreiche Grundlagen für das Auftreten gegen sozial unerträgliche Erscheinungen. Das Hauptproblem ist hier eher das unzureichende Funktionieren der Rechtsanwendung, also der Ordnungsbehörden und vor allem der Sozialverwaltung. Diese Probleme dürfen aber nicht zu einer unnötigen Beschränkung der Grundrechte führen.[19]
Der öffentliche Raum ist ein wichtiger Ort der sozialen Interaktion. Er ist auch ein wichtiger Gegenstand verwaltungsrechtlichen Handelns. Die Ausbalancierung der Rechte einzelner Personen oder Gruppen von Privatpersonen und die ordnungsmäßige Nutzung des öffentlichen Raumes bereiten wie wir sehen, oft Probleme. Es gibt daher ein starkes Bedürfnis, auf kommunaler Ebene die Regeln des gedeihlichen menschlichen Zusammenlebens feststellen zu können. Wir können nur darauf hoffen, dass der Gesetzgeber eine rechtmäßige Ermächtigung hierzu finden wird. Leider sucht er die Lösungen momentan anderswo. Die vierte Änderung der neuen Verfassung hat die Norm, die das Verfassungsgericht vernichtet hat, nun - wie am Anfang des Aufsatzes zitiert - in Abs 3 des Art XXII in die Verfassung hineingeschrieben. Was dies für die Obdachlosen bewirken wird, ist nicht abzusehen. Sie werden entweder freiwillig die sozialen Dienstleistungen in Anspruch nehmen, sich in den Wäldern verstecken oder in Gefängnisse eingeschlossen.
Doch sehen wir, dass es auch andere Lösungsmöglichkeiten gibt. In gewissen sozialrechtlichen Verhältnissen hat der Gesetzgeber in Sondergesetzen die Beachtung der Regeln des gedeihlichen menschlichen
- 224/225 -
Zusammenlebens eigentlich als Pflicht geregelt. So kann die Sauberkeit und die Ordentlichkeit der Wohnumgebung des Sozialhilfeempfängers als Bedingung der Berechtigung auf soziale Dienstleistungen, vor allem auf Sozialhilfe und auf Wohngeld in den kommunalen Verordnungen geregelt werden. Ähnlich kann bei Verletzung der Schulpflicht (also Schwänzen) das Kindergeld gekürzt werden.
Es scheint so, als ob in den Fällen, wo neben der öffentlichen Ordnung auch kollidierende Grundrechte berührt sind, es leichter ist, einen Ausgleich zu schaffen. Dies ist meistens der Fall bei den spezialgesetzlichen Regelungen. Beispiel hierfür ist die die Störung der Nachtruhe, eine Problemzone, wo unter anderem die Unternehmensfreiheit und das Grundrecht auf Gesundheit der Anwohner kollidieren. Hier versuchten die Kommunen, anhand der Ermächtigung des Gesetzes über den Handel einige sozial schwer verträgliche Erscheinungen zu verhindern. Da es in Ungarn keinen zwingenden Sperrzeiten für Läden gibt, wurden die Kommunen dazu ermächtigt, den örtlichen Gegebenheiten entsprechende Sperrzeiten zwischen 22 Uhr und 6 Uhr festzustellen. Der Begriff Laden bezieht sich sowohl auf Verkaufsstellen als auch auf Gaststätten. Die Ermächtigung selber wurde der verfassungsrechtlichen Kontrolle unterzogen, wurde aber der öffentlicher Ordnung und der Nachtruhe als Teilrecht des Rechts auf Gesundheit wegen von dem VerfG als verfassungsmäßige Einschränkung der Unternehmensfreiheit gewertet. Da der Alkoholkonsum auf der Straße und die Lärmbelästigung vielerorts ein Problem bedeutet, haben viele Kommunen in ihren Innenstädten Sperrzeiten angeordnet. Um einen Ausgleich zwischen dem Recht zur wirtschaftlichen Betätigung und der öffentlichen Ordnung zu finden, haben mehrere Städte hier differenzierte Lösungen gefunden. Eine solche Möglichkeit bedeutet die Anordnung einer Sperrzeit mit Ausnahmen oder Erlaubnisvorbehalt. Zum einen Betrifft die Sperrzeitverordnung die Gaststätten mit warmer Küche oft nicht, zum anderen können vielerorts die Geschäfte offen halten, falls sie sich dazu verpflichten, in der Nacht kein Alkohol zu verkaufen. Auch kann mancherorts der Ladenbetreiber um eine Ausnahmeerlaubnis von dem Verbot bitten, falls er dazu die Einwilligung der Mehrheit der Hauseigentümer hat und beweist, dass die Lärmemission die normalen Grenzwerte nicht übersteigt. Einen ähnlichen Weg hat neuerdings der Gesetzgeber selber beschritten, in dem er vorgeschrieben hat, dass auf den
- 225/226 -
Gebieten, die zum Welterbe gehören, die Läden in der Nacht zwischen 24 Uhr und 6 Uhr nur mit Erlaubnis des Landrates offenhalten können. Dies ist also eine Ausnahme von der bloßen Anzeigepflicht der Geschäfte nach der Dienstleistungsrichtlinie. In diesem Verfahren nimmt die Polizei als Sachbehörde teil und prüft die Wirkung des nächtlichen Betriebs auf die öffentliche Sicherheit. Die Polizei überprüft diese Sacherlaubnis jedes Jahr von Amts wegen bzw. auch auf Einwohnerbeschwerden hin und kann sie zurückziehen, falls sie die Verletzung der Auflagen feststellt.
Diese Wege erlauben einen angemesseneren Auftritt gegen Ruhestörungen als die generellen Verbote. Sie zeigen aber auch, dass in Sonderfällen, am Rande der Gesellschaft wie z.B. bei Obdachlosen diese Mechanismen nicht funktionieren. Diese Härtefälle zu lösen ist nämlich nicht Aufgabe der Eingriffsverwaltung, sondern die der Leistungsverwaltung. ■
ANMERKUNGEN
[1] Zur Umformulierung als Staatsziel s. A. Jakab - P. Sonnevend, 'Kontinuität mit Mängeln: Das neue ungarische Grundgesetz' (2012) 72 (1) Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 79, S. 90.
[2] Ausführlich über diese Entwicklungen s. M. Nagy, 'Law Enforcement and Sanctioning in Hungarian Public Administrative Law between 1989-2005' in: A. Jakab - P. Takács - A. F. Tatham (Hrsg.), The Transformation of the Hungarian Legal Order 1985-2005: Transition to the Rule of Law and Accession to the European Union (2007 Alphen aan den Rijn), S. 143-147.
[4] Zur Kritik dieser Tendenz s. M. Nagy, 'The Application of Rational Choice Theory in the Study of the Administrative Enforcement Law' (2010) LI. Annales Universitatis Scientiarum Budapestinensis De Rolando Eötvös Nominatae - Sectio Iuridica 213 unter http://www.ajk.elte.hu/file/annales_2010_13_Nagy.pdf.
[5] Zur Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit s. K. Rozsnyai, 'Änderungen im System des Verwaltungsrechtsschutzes in Ungarn' (2013) 9 DÖV 335.
[6] Eigentlich sehen wir auf Europäischer Ebene dieselbe Tendenz auch von der privatrechtlichen Seite, wo das EGMR viele Verwaltungsentscheidungen ins Privatrecht einordnet (Ringeisen-Fall z.B.) und so die Kriterien des Art. 6. EMRK in den Verwaltungsverfahren bzw. - Prozessen zum Tragen kommen. Ein weiteres Gebiet des Vordringens der Grundrechte das Wirtschaftsverwaltungsrecht und im Steuerrecht, wo der Verfahrensgedanke immer stärker ausgebaut wird und immer mehr Verfahrensgarantien fordert.
[7] Ausf. dazu s. M. Nagy, 'Objektíven a Közigazgatási Objektív Felelősségről - Az Üzembentartó Objektív Felelőssége Apropóján' (2008) 2 Közigazgatási Szemle 2.
[8] VerfGE Nr. 60/2009. (IV. 25.), 501.
[9] Urteil des Großen Senats vom 29 Juni 2007 (para 56. und 57.); Antragsnr. 15809/02 and 25624/02.
[10] Rechtseinheitsbeschluss (REB) Nr. 1/2009. KJE. Zur Rechtsnatur der REB s. K. Rozsnyai, Richterliche Unabhängigkeit und die Instrumente zur Wahrung der Rechtseinheit (2011) L. Annales Universitatis Scientiarum Budapestinensis De Rolando Eötvös Nominatae - Sectio Iuridica 179 unter http://www.ajk.elte.hu/file/annales_2011_17_Rozsnyai.pdf.
[11] Rechtseinheitsbeschluss (REB) Nr. 2/2005. PKJE.
[12] VerfGE Nr. 109/2009 (XI. 18.), 941.
[13] Die Regeln wurden durch die Hauptstadt nach ihrer Vernichtung wieder vom Grundkonzept her gleich angenommen.
[14] Stellv. für viele G. Finszter, A Rendészet Elmélete (2003 Budapest), S. 25.
[15] VerfGE Nr. 30/1992. (I. 26.), 167, 178.
[16] VerfGE Nr. 13/2001. (V. 14.), 177.
[17] Diese wurden früher meist als kriminell angesehen. Der Gesetzgeber hat manche Verhalten, wie z.B. aufdringliches Betteln und Betteln mit Kind als Ordnungswidrigkeit deshalb auch problemlos geregelt.
[18] VerfGE Nr. 176/2011. (XII. 29.) 615, 630.
[19] Weitere solche problematische Regelungen aus den früheren Jahren s. bei A. Lápossy, 'Tilos az Á Zs?: Az Alkotmányos Mérce és az Alapjogok Érvényesüléséről a Közterületi Rendszabályok Alkotása Kapcsán' in: M. Fazekas (Hrsg.), Jogi Tanulmányok (2012 Budapest, ELTE Állam- és Jogtudományi Kar), S. 161-174.
Visszaugrás