Die Besonderheit der Grundrechtswirkung im Privatrecht, da nahezu alle privatrechtlichen Berechtigungen auf Grundrechte zurückgeführt werden können, ist die Grundrechtskollision und damit die Entstehung der Dreieckskonstellationen (oder Drittwirkungskonstellationen, oder mehrpolige Rechtsverhältnisse)[1]. Die Dreieckskonstellationen kennzeichnen einen wesentlichen Teil der Grundrechtsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Die Anzahl der Entscheidungen, die Dreieckkonstellationen betrafen weist darauf hin, dass es sich dabei nicht um ein Epiphänomen der Grundrechtsdogmatik handeln kann. Nicht wenige von den Entscheidungen haben eine große Bedeutung für die allgemeine Grundrechtsdogmatik erlangt. Eine Vielzahl der Leitentscheidungen zu Einzelgrundrechten betreffen mehrpolige Rechtsverhältnisse. So liegen fast sämtlichen Entscheidungen des Gerichts zur Meinungsäußerungsfreiheit Dreiecksverhältnisse zugrunde. Die bekannteste ist die Lüth-Entscheidung[2]. Für Art. 5 Abs. 3 muss auf die Entscheidung Mephisto[3] hingewiesen werden.
In diesen mehrpoligen Rechtsverhältnissen ist der grundrechtlich geschützte Lebensbereich eines Bürgers zum einen durch den Staat betroffen, indem der Staat den einen Bürger verpflichtet, sich gegenüber einem anderen Bürger in einer bestimmten Art und Weise zu verhalten (Drittwirkung der Grundrechte). Zum anderen droht die faktische Beeinträchtigung des Lebensbereichs durch den Dritten. Im Drittwirkungs-konstellationen lässt sich sowohl danach fragen, ob der entsprechende normative Eingriff des Staates den abwehrrechtlichen Anforderungen genügen würde, als auch danach, ob der Staat hinsichtlich seiner grundrechtlichen Verpflichtung zum Schutz vor faktischen Beeinträchtigungen durch Dritte das erforderliche getan hat (Schutzpflicht).
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Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf diese Dreieckskonstellationen und widmet sich zunächst allgemein den Fragen: Wie nimmt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundrechtliche Dreieckkonstellationen wahr? Was für besondere dogmatische Institute hält sie bereit, um die mehrpoligen Rechtsverhältnisse grundrechtlich zu erfassen? Wie heben sich diese Institute von der allgemeinen Grundrechtsdogmatik ab? Lassen sie sich mit den grundrechtstheoretisch entwickelten Vorgaben vereinbaren?
In der Untersuchung werden vor allem die vom Bundesverfassungsgericht als Drittwirkungsproblem thematisierten Dreieckskonstellationen behandelt. Es stellt sich die Frage, auf welche Konstellationen es seine Äußerung zur Drittwirkungs-problematik bezieht?
Die Untersuchung beginnt mit der Klärung des Drittwirkungsbegriffs des Bundesverfassungsgerichts.
In den Entscheidungen des Gerichts lässt sich eine deutliche Zurückhaltung gegenüber dem Begriff der Drittwirkung konstatieren. In allen Beschlüssen taucht der Begriff der Drittwirkung nur an zwei stellen auf und zudem mit einem die Distanz betonenden "sogenannt"[4]. Die Distanz zum Begriff bedeutet jedoch nicht, dass der Problemkreis nicht ausgemacht wird, den die Literatur unter dem Titel "Drittwirkung der Grundrechte" führt. Hinter der "Streitfrage der sogenannten Drittwirkung der Grundrechte" steht nach dem Bundesverfassungsgericht die "grundsätzliche Frage, ob Grundrechtsnormen auf das bürgerliche Recht einwirken und wie diese Wirkung im einzelnen gedacht werden müsse..."[5], allgemeiner formuliert "Die Problematik des Verhältnisses der Grundrechte zum Privatrecht"[6]. In der zweiten Entscheidung, in welcher der Begriff der Drittwirkung fällt, ist nicht allgemein vom Privatrecht die Rede sondern nur von dem Problem der unmittelbaren Grundrechtsbindung des Zivilrichters[7]. Die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers ist damit noch nicht als Drittwirkungsfrage eingestuft.
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Die Lüth Entscheidung[9] ist nicht nur als die bedeutendste, sondern auch als die erste einschlägige Entscheidung zum Verhältnis zwischen Grundrechten und Privatrecht thematisiert[10] Das BVerfG hat zwar einige grundrechtliche Entscheidungen mit Privatrechtsbezug schon vor der Leitentscheidung gefällt (BVerfGE 1, 7; 3, 21; 4, 52; 6, 55), diese wurden aber weder als Drittwirkugskonstellationen identifiziert noch so behandelt. Es gab Drittwirkungsfälle auch vor Lüth, jedoch gab es noch kein Drittwirkungsproblem.[11] Kaum eine andere Entscheidung wird so mit einem grundrechtsdogmatischen Problem identifiziert wie die Lüth Entscheidung mit der Frage der Drittwirkung der Grundrechte. Sie ist nicht nur in Deutschland, sondern auch im internationalen Verfassungsdiskurs zu einem der leading cases der Drittwirkungsproblematik geworden.[12]
Gegenstand des Falles war ein Boykottaufruf. Senatsdirektor Erich Lüth wandte sich im Jahr 1950 mehrfach öffentlich gegen Veit Harlan, Regisseur des Nazi Propagandafilms "Jud Süss" und rief zum Boykott von dessen ersten Nachkriegsfilm auf. Auf die Unterlassungsklage der Produzentin und der Verleiherin hin wurde es Lüth vom Gericht untersagt, dazu aufzurufen, den Film "Unsterbliche Geliebte" nicht zu verleihen, nicht aufzusuchen und nicht zu besuchen. Gegen dieses Urteil der Zivilgerichte legte Lüth Verfassungsbeschwerde ein.
Gleich am Anfang, bei der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde, wo das BVerfG die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung prüft, stellt es fest, dass das Urteil des Gerichts das Grundrecht des Beschwerdeführers nur dann verletzen kann, wenn die angewendeten Vorschriften des bürgerlichen Rechts durch die Grundrechtsnorm inhaltlich so beeinflusst werden, dass sie das Urteil nicht mehr tragen. Dann wirft das Gericht die Frage auf, "ob Grundrechtsnormen auf das bürgerliche Recht einwirken und wie diese Wirkung im einzelnen gedacht werden müsse."[13]
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Es referiert darauf kurz die "äußersten Positionen" der Literatur, von denen die eine die Bedeutung der Grundrechte für das Privatrecht damit ablehnt[14], dass diese ausschließlich gegen den Staat gerichtet sind während die andere Auffassung die Bindung jedermanns im Privatrechtsverkehr verlangt[15]. Diese extremen Auffassungen lehnt das BVerfG ab, will aber die Streitfrage der sogenannten "Drittwirkung" der Grundrechte nicht im vollem Umfang erörtern, setzt dann aber eine vermittelnde Position an, die der Auffassung von Dürig [16] sehr stark zuneigt. Der Ausgangspunkt der Überlegungen des BVerfG ist die historisch geprägte Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte gegen Eingriffe der öffentlichen Gewalt.[17]
Daneben wird an die Funktion der Grundrechte als objektive Wertordnung und Wertsystem erinnert[18]. Über ihre Funktion als Wertordnung dringen die Grundrechte in das Privatrecht ein und sie sollen die Auslegung und Anwendung des bürgerlichen Rechts beeinflussen, "keine bürgerlich - rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihr stehen, jede muß in ihrem Geiste ausgelegt werden."[19] Neben all dies bleibt das Verhältnis zwischen Privatpersonen ein bürgerliches Rechtsverhältnis. Ausgelegt und angewendet wird bürgerliches Recht, wenn auch seine Auslegung dem öffentlichen Recht, der Verfassung, zu folgen hat. [20]
Der Rechtsprechung bieten sich zur Realisierung dieses Einflusses insbesondere die Generalklauseln des Zivilrechts, die als "Einbruchstellen" der Grundrechte bezeichnet werden.[21] In dieser "Ausstrahlungswirkung" der Grundrechte wird "der Sinn der Bindung auch des Zivilrichters an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG)"[22] gesehen. Die Außerachtlassung der "Ausstrahlungswirkung" stellt eine Grundrechts-
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verletzung dar, die vom Betroffenen gegebenenfalls im Wege der Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann.[23]
Mit dem Lüth Urteil beginnt die Drittwirkungsrechtsprechung. Das BVerfG nimmt Stellung gegen die Vertreter einer Grundrechtsneutralität des Privatrechts und gegen die Befürworter einer unmittelbaren Drittwirkung.
Es entwickelt über das grundrechtliche Wertsystem und dessen Ausstrahlungswirkung eine eigene dogmatische Konstruktion des Verhältnisses von Grundrechten und Privatrecht, die es von der allgemeinen Dogmatik des Eingriffsabwehrrechts abhebt. Im Lüth Urteil scheint ein dogmatisches Schema gefunden, das nunmehr als Leitfaden für die grundrechtliche Behandlung privatrechtlicher Konflikte dient. Sie ist das Paradigma der Drittwirkungsrechtsprechung. In den folgenden Rechtsprechung wird immer, wenn das Gericht über die Auswirkungen der Grundrechte auf bürgerlich rechtliche Streitigkeiten zu entscheiden hat, auf die Äußerungen des Gerichts im Lüth Urteil verwiesen. Nach Lüth ist keine Entwicklung der Dogmatik der mittelbaren Grundrechtswirkung zu verzeichnen.[24] Über Lüth hinaus geht nur die ausdrückliche und endgültige Ablehnung einer unmittelbaren Drittwirkung.[25]
Das Thema Drittwirkung rückt nicht im Ganzen aus dem Blickfeld der Praxis, es beginnt jedoch eine dogmatische Neuorientierung. Mit den grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates ist ein neues Argumentationstopos aufgetreten und spätestens seit dem ersten Fristenregelungsurteil ist die Heranziehung der grundrechtlichen Schutzpflichtendimension zur Begründung der Privatrechtswirkung der Grundrechte vorherrschend. Heute wird sie auch zur Deutung der vorher als Drittwirkungsfälle apostrophierten Entscheidungen herangezogen. Das Verhältnis zwischen der Konzeption von der mittelbaren Drittwirkung und der Schutzpflichtenlehre wird in der Literatur unterschiedlich gedeutet. Prominente Vertreter der Schutzpflichtendogmatik lehnen sogar eine Einbeziehung der Drittwirkungsdogmatik ab.[26]
In der für die Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht bedeutende Blinkfüer-Entscheidung[27] fanden sich bereits deutliche, wenn auch unreflektierte Anklänge an den Gedanken einer grundrechtlichen Schutzpflicht.[28] Genau wie bei Lüth, war Gegenstand des Falles ein Aufruf zum Boykott. Die vor allem in Raum Hamburg verbreitete, nicht sehr auflagenstarke Wochenzeitung "Blinkfüer" druckte in einer Beilage die Rundfunkprogramme der west- und ostdeutschen Sender ab. Kurz nach dem Bau der Berliner Mauer richteten die als Zeitungsverleger marktbeherrschenden[29] Verlagshäuser der Springer- Verlagsgruppe einen Boykottaufruf an alle Zeitschriften und Zeitungshändler gegenüber solchen Presseerzeugnissen, die DDR-Programme
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weiterhin abdruckten. Es wurde mit einem Abbruch der Belieferung durch den Springer Verlag gedroht.[30] Die zivilgerichtliche Schadenersatzklage von Blinkfüer wurde vom BGH abgewiesen.
Angesichts des auf die Händler ausgeübten wirtschaftlichen Drucks hatte das Bundesverfassungsgericht das Urteil aufgehoben. Es hatte zur Begründung u. a. ausgeführt, die Pressefreiheit erfordere "den Schutz der Presse gegenüber Versuchen, den Wettbewerb der Meinungen durch wirtschaftliche Druckmittel auszuschalten."[31] In der Entscheidung taucht der Gedanke einer Schutzpflichtenverletzung explizit nicht auf. Grund dafür ist bloß dass, die Schutzpflichtendogmatik zur damaligen Zeit noch nicht entwickelt war. Rückblickend fügte sich die Entscheidungsbegründung nahtlos in die später entwickelte Schutzpflichtenlehre ein. So würde der Fall aus heutiger Sicht als eine Verletzung der Schutzpflicht angesehen, die den Gerichten gegenüber Blinkfüer oblag.
"Schutz" ist im Anwendungsgebiet der Grundrechte die wohl am häufigsten verwandte Vokabel. Bei wörtlicher Auslegung vermittelt jegliche Geltung der Grundrechte "Schutz". Die notwendige Verknüpfung von Abwehrechten der Grundrechtsträger und den Pflichten der Grundrechtsadressaten lässt die Schutzpflicht des Staates als das exakte Gegenstück zu den Grundrechten des Einzelnen erscheinen. Diese grundrechtlichen Pflichten verordnen dem Staat jedoch nur ein Unterlassen eines Eingriffs und damit können von den "grundrechtlichen Schutzpflichten" unterscheiden werden. Die "grundrechtliche Schutzpflichten" sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als die positive Pflichten des Staates, zum Schutz der Grundrechtsberechtigten tätig zu werden, verstanden werden. [32]
Die Entwicklung der Schutzpflichten wird wesentlich vorangetrieben und gesteuert durch das Bundesverfassungsgericht. Daher soll zunächst anhand der Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Problematik staatlicher Schutzpflichten herausarbeitet werden, welche unterschiedlichen Konfliktkonstellationen diesen Entscheidungen jeweils zugrunde lagen und wie die für das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit entwickelte Schutzpflichtenlehre ihren Weg in andere Grundrechte gefunden hat.
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Die Untersuchung wird auf die Konstellation der echten Grundrechtskonflikte beschränkt, wo das zu schützende Grundrecht mit dem Abwehrrecht des die Schutzpflicht auslösenden Grundrechtsträgers in Kollision gerät. In diesen Fällen, in denen sich zwei Grundrechtsträger als Konfliktparteien gegenüberstehen und dieser Konflikt durch den Staat als Grundrechtsadressat "vermittelt" wird, stellt sich ganz besonders die Frage, nach welchen grundrechtlichen Maßstäben diese Konfliktvermittlung vorzunehmen ist.
Wesentlich daran ist, dass die zu entscheidenden Fragen damit nie nur in einer "Zweier-Beziehung" zwischen dem Staat als Grundrechtsadressaten und dem ihm gegenüber schutzberechtigten Grundrechtsträger angesiedelt sind. Es ist eine dritte, verfassungsrechtlich relevante Position in die zu beurteilende Lage mit einbezogen, wodurch sich die Entscheidungssituation zu einem "Rechts-Dreieck"[33] entwickelt und sich die Erfüllung von Schutzpflichten damit als "Reziprozitätsproblem"[34] darstellt, in dem der Staat in Erfüllung seiner Verpflichtung einem Grundrechtsträger gegenüber einem andren etwas nehmen muss. Dritter Beteiligter in diesem RechtsDreieck ist regelmäßig ein anderer Grundrechtsträger, der durch die Schutzmaßnahmen rechtlich oder tatsächlich betroffen sein kann, der vielfach auch Ausgangspunkt der Schutzpflicht auslösenden Gefahren[35] ist. Damit handelt es sich um ein mehrpoliges Verfassungsrechtsverhältnis[36], das sich dadurch auszeichnet, dass der Staat unterschiedlichen, meist sich widersprechenden gegenläufigen verfassungsrechtlichen Anforderungen unterliegt.
2.1.1 DAS ERSTE FRISTENREGELUNGSURTEIL Die Herausbildung einer eigenständigen Schutzpflichtendogmatik begann in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit der ersten Entscheidung zum
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Schwangerschaftsabbruch[37] aus dem Jahre 1975,[38] in dem die. Sog. Fristenregelung für verfassungswidrig erklärt wurde. Hier sprach das Gericht erstmalig von einer "Schutzverpflichtung"[39] bzw. einer "Schutzpflicht".[40] Das Gericht leitet es unmittelbar aus dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 die "Pflicht des Staates, jedes menschliche Leben zu schützen".[41] Es zeigt sich nicht angewiesen auf den ausdrücklichen Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 1 S.2 GG. Wenn die weite Schutzpflichtenjudikatur sich in den nächsten Jahren auch auf eben dieses Recht auf Leben konzentrierte, so zeichnete das Bundesverfassungsgericht damit bereits den Weg vor, auf dem eine Ausweitung des Anwendungsbereiches der Schutzpflichten würde erfolgen können. Nicht nur aus der in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG explizit dem staatlichen Schutz befohlenen Menschenwürde, sondern ebenfalls aus einer speziellen Freiheitsgewährleistung schöpft es die Schutzpflicht.[42]
Die Schutzverpflichtung des Staates muss umso ernster genommen werden, je höher der Rang des zu schützenden Rechtsgutes innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes ist. Das Leben als "Höchstwert"[43] muss nach dem BVerfG zwar besonders ernst genommen werden, dennoch empfehlen sich von diesem Ansatz aus die anderen speziellen Grundrechte als Kandidaten der Schutzpflichtenlehre.[44] Unter Rekurs auf seine Wertordnungs-Rechtsprechung[45] meint das Gericht, dass "schon aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der grundrechtlichen Normen" das "Ob" und "Wie" des gebotenen staatlichen Schutzes erschlossen werden könne[46]. Ihren Inhalt nach beziehe sich die Schutzpflicht des Staates darauf, "sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren."[47]
2.1.1.1 Rechts-Dreieck als Ausgangsituation
Trotz der vom Bundesverfassungsgericht später so genannten "singulären Lage" der "Zweiheit in Einheit"[48] liegt somit hier erkennbar ein Rechts-Dreieck als Ausgangssituation vor. Die verfassungsrechtliche Ausgangslage ist ein Konflikt zwischen dem zu schützenden Rechtsgut (hier: das Leben des nasciturus[49] (Art. 2 Abs. 2 S.1) mit Grundrechten anderer in Form von Abwehrrechten (hier: Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S.1)sowie Intimsphäre (Art. 2. Abs. 1 i. V. m. Art 1 Abs.2.) und allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1) der Mutter.
Der Staat als Grundrechtsadressat ist der dritte Punkt des Dreiecks. Ihn bindet sowohl die Schutzpflicht zugunsten des nasciturus als auch das Abwehrrecht hinsichtlich der
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schwangeren Frau. Zwischen den Grundrechtsträgern erzeugt es kein positives grundrechtliches Rechte- und Pflichtenverhältnis. Die Grundrechte entfalten jedoch eine Form "mittelbarer Drittwirkung" zwischen Schutzbedürftigen und Übertreter. Die Schutzpflicht gründet auf einer Drittwirkungsprämisse: dass die Grundrechte das Verbot für jedermann enthalten, die von ihnen geschützten Güter zu verletzen. Es ist die Pflicht des Staates, dieses mehrpolige Spannungsverhältnis aufzulösen.
2.1.1.2 Die Berufung des Gesetzgebers als Erst-Adressat grundrechtlicher Schutzpflichten
Das Bundesverfassungsgericht weist diese Aufgabe in erster Linie dem Gesetzgeber zu, obgleich diese grundrechtlich begründete Schutzpflicht zunächst an alle staatliche Gewalt adressiert ist (Art. 1. Abs. 3). Der Gesetzgeber hat eine legislative Abwägung vorzunehmen und zu entscheiden, wie der Staat seine ihm aufgegebene Verpflichtung zu einem effektiven Schutz erfüllt: "(Der Gesetzgeber) befindet darüber, welche Schutzmaßnahmen er für zweckdienlich und geboten hält, um einen wirksamen Lebensschutz zu gewähren"[50]
2.1.1.3 Die Prüfungsmaßstäbe
Fraglich ist, welche Maßstäbe die Verfassung dem Gesetzgeber bei der Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten vorgibt und wieweit dementsprechend seine Gesetzgebung in Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten - oder deren Unterlassung - verfassungsgerichtlich nachprüfbar ist. Das Bundesverfassungsgericht hat unter grundsätzlicher Anerkennung von Aufgabe und Funktion der Gesetzgebung im demokratischen Staat den dem Parlament zustehenden Spielraum bei der Erfüllung dieser Aufgabe sehr unterschiedlich gefasst. Dieser reicht von einer verfassungsrechtlich kaum überprüfbaren Entscheidungsbefugnis des Gesetzgebers bis hin zu sehr engen und genau gefassten verfassungsrechtlichen Vorgaben hinsichtlich der Ausgestaltung der grundrechtsschützenden Rechtsordnung. Anknüpfungspunkte für die Beurteilung des dem Gesetzgeber zustehenden Spielraumes finden sich zum einen hinsichtlich der von ihm vorzunehmenden Beurteilungen, Wertungen und Prognosen, zum anderen der dogmatischen Kriterien zur Auflösung der zugrunde liegenden Grundrechtskonflikts.
Soweit der Gesetzgeber darüber entscheidet, welche Schutzmaßnahmen er für einen wirksamen Grundrechtsschutz für geboten hält, hat er sich zunächst mit den tatsächlichen Verhältnissen zu befassen, die Anlass zu grundrechtsschützenden Maßnahmen geben. Daneben ist die zu erwartende tatsächliche Wirksamkeit der geplanten Schutzinstrumente zu prognostizieren[51]. Bei dieser Beurteilung der seiner Normierung zugrunde liegenden tatsächlichen Verhältnisse, der erforderlichen Prognose und der Wahl der Mittel gesteht das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen Beurteilungsspielraum zu. Zwar darf das Gericht sich nicht an die Stelle des Gesetzgebers setzen, es ist jedoch seine Aufgabe, zu überprüfen, ob der
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Gesetzgeber im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten das Erforderliche getan hat, um Gefahren von dem zu schützenden Rechtsgut abzuwenden[52]. Ungeachtet der grundsätzlichen Zuerkennung eines Beurteilungsspielraumes, unterliegen damit die Gesetze einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle.
Eine stringente Linie des Gerichts, welche Maßstäbe zur Kontrolle gesetzgeberischer Entscheidungen heranzuziehen sind, lässt sich in seiner Spruchpraxis nicht finden. Die genannten Kriterien reichen von der Bedeutung der betroffenen Schutzgüter, der Wesengehaltsgarantie, der praktischen Konkordanz über das Verhältnismäßigkeitsprinzip bis hin zu dem Untermaßverbot.[53]
In dieser Entscheidung befinden sich außer dem Untermaßverbot alle Maßstäbe, die das Bundesverfassungsgericht zur Bewältigung des zugrunde liegenden Grundrechtskonflikts herangezogen hat. Die Bedeutung der betroffenen Grundrechte ist an erster Stelle heranzuziehen. Die Schutzverpflichtung müsse umso ernster genommen werden, je höher der Rang des in Frage stehenden Rechtsgutes innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes anzusehen sei. Das Gericht geht dabei davon aus, dass das menschliche Leben innerhalb der grundgezetzlichen Ordnung einen Höchstwert darstellt, da es die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte ist[54]. Neben dieser Bewertung des betroffenen grundrechtlichen Schutzgutes ist auch die Nähe bzw. das Ausmaß eventueller Grundrechtsgefahren, die Art und Schwere der zu befürchteten Folgen von Bedeutung. In diesem Falle übereinstimmen diese mit der Wesengehaltgarantie. Damit klärt sich, dass die erste Abtreibungsentscheidung die einzige Entscheidung ist, in der die Wesengehaltgarantie aus Art. 19 Abs. 2 GG als möglicher Ausgleichsmaßstab erscheint. Ein Ausgleich zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Mutter einerseits und der Beachtung des Lebensschutzes zugunsten des werdenden Lebens andererseits ist nicht möglich, weil Schwangerschaftsabbruch immer zur Vernichtung des ungeborenen Lebens führt. Deshalb sind bei der Abwägung beide Verfassungswerte in ihrer Beziehung zu Menschenwürde als dem Mittelpunkt des Wertsystems der Verfassung zu sehen. Bei einer orientierung an Art 1 Abs. 1 unter Berücksichtigung des Art. 19 Abs. 2 GG muss dem Lebensschutz des nasciturus Vorzug gegeben werden.[55]
Das "Prinzip des schonendsten Ausgleichs konkurrierender grundgesetzlich geschützter Positionen"[56] ist als nächstes Kriterium genannt. Diese bedeutet nichts anderes, als die auf Konrad Hesse zurückgehende Figur der "praktischen Konkordanz"[57] Die verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter sollen in der Problemlösung dergestalt zugeordnet werden, dass möglichst jedes von ihnen Wirklichkeit gewinnt und unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Verfassung beide
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zur optimalen Wirksamkeit gelangen können[58]. Denn das Lebensrecht vermag nur dann zu praktischer Wirksamkeit zu gelangen, wenn überhaupt jeder Eingriff zum Zweck der Verwirklichung der Grundrechte Dritter unterbleibt, muss der Gesetzgeber beim Schwangerschaftsabbruch von einer Verbot und einer Pflicht der Schwangeren zur Austragung des Kindes ausgehen.[59] Die Verletzung dieser Rechtspflicht bedeutet dann einen rechtswidrigen Eingriff in das ungeborene Leben. Dieses Unrecht muss der Gesetzgeber rechtlich missbilligen.[60]
Als verfassungsrechtliches Kriterium, mit dem der Ausgleich zwischen den kollidierenden Verfassungspositionen beurteilt werden kann, wird regelmäßig auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip herangezogen: "[...] muß der Gesetzgeber den hierbei entstandenen Konflikt durch eine Abwägung der beiden einander gegenüberstehenden Grundwerte oder Freiheitsbereiche nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Beachtung des rechtstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz lösen[61]. Immerhin könne die Schutzpflicht in besonders gelagerten Fällen auch den Einsatz eines ganz bestimmten Mittels verlangen, wenn anders ein effektiver Schutz nicht zu erreichen ist und somit für den Grundrechtsschutz erforderlich ist[62] ("umgekehrte Erforderlichkeitsprüfung").[63] Dazu könne es auch geboten sein, das Strafrecht als ultima ratio einzusetzen.
Als Korrektiv dient das Kriterium der Zumutbarkeit. Diese entspricht den Erwägungen, die im Rahmen einer üblichen Verhältnismäßigkeitsprüfung unter dem Gesichtspunkt der Angemessenheit angesprochen werden. Auch wenn es sich aus dem Stichwort nicht ohne weiteres von selbst ergibt, ist Zumutbarkeit nie isoliert festzustellen, sondern fragt regelmäßig nach einer Korrelation im Sinne von Zumutbarkeit wozu bzw. wogegen, so dass auch hier - wie in der Angemessenheitsprüfung - eine Gewichtung in Bezug auf die anderen von der Schutzmaßnahme betroffenen Verfassungsgüter vorgenommen wird. Wenn die aus der Schutzpflicht folgende erforderliche Belastung des in seinem Abwehrrecht Betroffenen in einer ihm unzumutbaren weise betrifft, könne dies deshalb zu einer Reduzierung des erforderlichen Maßes an Grundrechtsschutz führen.[64] Dies Schränkt insbesondre den Einsatz des Strafrechts als Schutzinstrument ein und gelte, wenn aus der Schutzpflicht folgende Pflicht zu schweren inneren Konflikten des Betroffenen führt. Dementschprechend hat das Bundesverfassungsgericht in vier Indikationsfällen festgestellt, dass die Austragung der Schwangerschaft aus schutzwürdiges Interesse der Schwangeren als nicht zumutbar erscheint[65].
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2.1.2 Das zweite fristenregelungsurteil[66]
Der Schwangerschaftskonflikt liegt auch dieser Entscheidung zugrunde, in der die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG[67] mit der den Staat treffenden Verpflichtung, sich schützend und fördernd vor das werdende Leben des nasciturus[68] zu stellen, mit den Grundrechten der schwangeren Frau in Konflikt gerät. Selbst wenn man die Meinung des Gerichts , dass die Grundrechte der Schwangeren im Ergebnis nicht das Recht beinhalten, das Ungeborene abzutreiben und aus der Schutzpflicht für den nasciturus ein Abtreibungsverbot und somit eine Pflicht der Schwangeren zum Austragen des Kindes begründen, akzeptiert, gerät trotzdem die Schutzpflicht zugunsten des Ungeborenen mit den Grundrechten der werdenden Mutter in Konflikt.[69]
2.1.2.1 Prüfungsmaßstäbe
Einen "verhältnismäßigen Ausgleich" hat das Bundesverfassungsgericht nicht für möglich gehalten, denn auf der Seite des ungeborenen Lebens stehe nicht ein mehr oder weniger an Rechten, die Hinnahme von Nachteilen oder Einschränkungen, sondern alles, nämlich das Leben selbst, in Frage[70].
Diese sehr stark den Einzelfall in den Blick nehmende Perspektive führte zu dem "Untermaßverbot" als Maßstab: "Art und Umfang des Schutzes im Einzelnen zu bestimmen ist Aufgabe des Gesetzgebers. Die Verfassung gibt den Schutz als Ziel vor, nicht aber seine Ausgestaltung im Einzelnen. Allerdings hat der Gesetzgeber das Untermaßverbot zu beachten; insofern unterliegt er der verfassungsgerichtlichen Kontrolle."[71] Die Anwendung des Untermaßverbotes[72] ist die bedeutendste dogmatische Innovation des Urteils. Das Bundesverfassungsgericht übernimmt diesen Begriff
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ohne nähere Begründung lediglich mit einem Verweis auf Isensee[73]. Die Kriterien dieses Prinzips ähneln sehr einer "umgekehrten Verhältnismäßigkeitsprüfung": "Notwendig ist ein - unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter -angemessener Schutz; entscheidend ist, dass er als solcher wirksam ist. Die Vorkehrungen, die der Gesetzgeber trifft, müssen für einen angemessenen und wirksamen Schutz ausreichend sein."[74] Auch hier sind also Geeignetheit (wirksam), Erforderlichkeit (notwendig, ausreichend) und Angemessenheit unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter die maßgeblichen Kriterien.[75]
Damit werden die inhaltlichen Anforderungen des Untermaßverbots so kurz, in nur zwei Sätzen abstrakt dargestellt, um anschließend über 73 Seiten der amtlichen Entscheidungssammlung konkrete Mindestanforderungen für die hier zu entscheidende Frage aus dem Untermaßverbot abzuleiten.[76] Indem sich das Gericht den Rechtsfolgen der grundrechtlichen Schutzpflicht nunmehr mit Hilfe des Untermaßverbotes systematisch annähert, zeigt es die Grenzen des staatlichen Beurteilungsspielraumes auf und korrigiert so die vorhergehender Judikate. Der Beurteilungsspielraum gehe nämlich nicht so weit, dass nur gänzlich ungeeignete oder völlig unzulängliche Schutzmaßnahmen von Verfassung wegen zu beanstanden seien[77]. Hier zeigt sich, dass das Gericht sich vorbehält, den zunächst sehr weit definierten Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers tatsächlich einer sehr strengen und engen Überprüfung zu unterziehen.
Als verfassungsrechtliches Kriterium erscheinen in dieser Entscheidung die Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht als Hilfsfunktionen. Aus der grundrechtlichen Schutzpflicht folgt eine Verantwortung des Gesetzgebers in der Zeit fortwirkenden Schutz zu leisten. Er bleibt auch nach Erlass einer der Schutzpflicht entsprechenden Regelung weiterhin dafür verantwortlich, dass das gewählte Konzept den Schutzanforderungen auch zukünftig genügt und tatsächlich einen angemessenen und wirksamen Schutz bewirkt. Den Gesetzgeber trifft auch eine Beobachtungspflicht hinsichtlich der Auswirkungen eines von ihm gewählten Schutzkonzepts in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dies schlisst ein, dass die für die Beurteilung der Wirkungen des Gesetzes notwendigen Daten planmäßig erhoben, gesammelt und ausgewertet werden. Diesen Aufgaben hat der Gesetzgeber im Falle der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs genug getan: "der Gesetzgeber...den Wechsel in Schutzkonzept mit vertretbaren Einschätzungen vollzogen hat" [78]
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Zweieinhalb Jahre nach dem das als "juristischer Paukenschlag" [79] apostrophierte Fristregelungsurteil, mit dem die Schutzpflichtenlehre startete, wurde das Bundesverfassungsgericht vor die Frage gestellt, wie es das Gericht mit der von ihm selbst entwickelten umfassenden grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates für das menschliche Leben halte. Das Schleyer-Urteil[80] fordert den effektiven Schutz für die Geisel ein[81], erklärt nunmehr ausdrücklich alle Staatsorgane zu Adressaten dieser Pflicht, ohne auf das Primat des Gesetzgebers zu rekurrieren.[82] Zugleich räumte es ein, dass in besonders gelagerten Fällen die Schutzpflicht sich auf eine einzige Maßnahme reduzieren könne.[83] Schließlich fügte das Gericht der Schutzpflichtenlehre einen neuen Aspekt hinzu, indem es der gegenüber dem Einzelnen bestehenden Schutzpflicht eine der Gesamtheit der Bürger gegenüber bestehende Schutzpflicht entgegenstellte.[84]
Den umweltrechtlich relevanten Fällen liegt wieder ein Rechts-Dreieck als Ausgangssituation zu Grunde. Es entsteht ein Konflikt zwischen staatlicher Schutzpflicht und Abwehrrechten derjenigen, die "Auslöser" der Schutzpflicht sind. Die hier die Schutzpflicht auslösenden Gefahren haben ihre Ursache regelmäßig in grundrechtlich durch die von Art. 12 GG umfasste Berufsfreiheit und der Eigentumsfreiheit aus Art. 14 GG geschütztem Verhalten von Betreibern umweltrechtlich beachtlicher Anlagen. Diese können etwa Strahlungsgefahr auslösende Atomkraftwerke oder lärmemittierende Anlagen wie Flughäfen sein. Maßnahmen, die zum Schutz von Leben und Gesundheit getroffen werden, müssen sich nicht nur an der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG messen lassen, sondern ebenfalls die Abwehrrechte der Anlagenbetreiber berücksichtigen. Besonders deutlich wird dieser Grundrechtskonflikt und die Ambivalenz staatlichen Handels in diesem Bereich wenn der Gesetzgeber durch Schaffung von Genehmigungsvoraus-
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setzungen, die Exekutive durch die Erteilung von Genehmigungen eine eigene Mitverantwortung für etwaige Grundrechtsgefährdungen durch die von nichtstaatlichen Dritten betriebenen Anlagen übernommen hat.[85]
Der Kalkar Beschluss[86] gilt bis heute als die atomrechtliche Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Seine bleibende, ganz spezifische Bedeutung liegt aus der Sicht der Schutzpflichtenlehre darin, dass es hier nicht in erster Linie um die grundrechtlich begründete Pflicht zu staatlichem Schutz an sich geht, auch nicht nur um ihr richtiges Maß, sondern um die Pflicht des Gesetzgebers zur Nachbesserung sich im Zuge fortschreitender Erkenntnis als unzureichend erweisender Schutzgesetze.[87]
Allerdings stellt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber keinen bedingungslos in alle Zukunft fortwirkenden Freibrief aus. Vielmehr könne der Gesetzgeber von Verfassungswegen gehalten sein zu überprüfen, ob eine ursprünglich getroffene Entscheidung aufrechtzuerhalten sei, wenn ihre Grundlage durch neue, im Zeitpunkt des Gesetzeserlasses noch nicht abzusehende Entwicklungen entscheidend in Frage gestellt wird.[88] Die konkretisierenden Sicherheitsanforderungen könne jedoch die Verwaltung in einer besseren, dynamischen Form gewährleisten. Ein jeweils dem Erkenntnisfortschritt angepasstes Schutzniveau lasse sich durch einen gesetzlich starr fixierten Sicherheitsstandard gar nicht normativ verwirklichen.[89]
Unter einem letzten Prüfungspunkt präzisierte das Gericht das für eine Aktivierung der staatlichen Schutzpflicht notwendige Gefährdungsniveau. Unsicherheiten, die jenseits der Schwelle praktischer Vernunft liegen, seien von allen Bürgern zu tragen, die somit ein Restrisiko künftiger Grundrechtsverletzungen in Kauf nehmen hätten.[90]
Knapp eineinhalb Jahre nach Erlass des Kalkar Beschlusses hatte das Bundesverfassungsgericht Gelegenheit, den dort gesetzten verfassungsrechtlichen Rahmen für die Nutzung der Kernenergie zu ergänzen. Die zentrale Aussage des MülheimKärlich Beschlusses[91] liegt in der Betonung der Bedeutung des Verfahrensrechts für den Grundrechtschutz. Der Gesetzgeber kann seiner grundrechtlichen Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 zur Minimierung von Gefahren, die aus der Anwendung moderner Technik entstehen können, nicht nur durch materiell rechtliche Sicherheitsanforderungen, sondern durch ein formalisiertes Genehmigungsverfahren nachkommen. Das Genehmigungsverfahren ermögliche es dem Staat, einen
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Ausgleich zwischen den Grundrechtspositionen gefährdeter Bürger einerseits und der Betreiber andererseits herbeizuführen.[92] Damit diene die staatliche Einrichtung eines formalisierten Verfahrens für die Betätigung des Staates als "Koordinator der Freiheitssphären".[93] Die Genehmigung lege aber dem Staat auch eine Mitverantwortung für die Gefährdungen auf, deshalb darf bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung des Schutzniveaus kein weniger strenger Maßstab angelegt werden, als bei der Prüfung von Eingriffsgesetzen.[94]
Im Fluglärm-Beschluss[95] erstreckte das Bundesverfassungsgericht die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG auf die Pflicht zur Bekämpfung von gesundheitsgefährdenden Auswirkungen des Fluglärms. Es betonte auch hier die zeitliche Kontinuität der Schutzpflicht und legte den staatlichen organen im Falle veränderter Umstände eine Nachbesserungspflicht auf.[96] Beachtung verdient die Entscheidung aber wegen der Unterscheidung zwischen den in der Verfassung explizit genannten Schutzpflichten, etwa aus Art. 6 Abs. 2 GG und solchen Handlungs- und Schutzpflichten, die erst im Wege der Verfassungsinterpretation aus den in den Grundrechten verkörperten Grundentscheidungen herleitbar sind.[97] Die Verletzung der letztgenannten Schutzpflichten könne der Bürger im Wege einer selbständigen, nicht gegen einen Vollzugsakt gerichteten Verfassungsbeschwerde grundsätzlich nur bei gänzlicher Untätigkeit des Gesetzgebers rügen.[98]
Dieser die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde determinierende Prüfungsmaßstab hielt das Gericht nicht davon ab, in den auf die Fluglärm-Entscheidung folgenden Judikaten[99] das Tor der Verfassungsbeschwerde für das Geltendmachen von Schutzpflichtenverletzungen nunmehr vollständig und unbedingt aufstoßen. Die Annahme der prinzipiellen Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden kann jedoch nicht nur als bloßer Ausdruck von Verfahrenseffizienz angesehen werden. Sie sind für eine Subjektivierung der Schutzpflicht wichtig. Das ist ganz eindeutig in der C-Waffen Entscheidung, wo das Gericht hinsichtlich des Rechts auf Leben und Gesundheit zunächst zwischen subjektivem Abwehrrecht und objektiv-rechtlicher Wertentscheidung der
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Verfassung, welche die verfassungsrechtlichen Schutzpflichten begründe, differenzierte, um sodann festzustellen, dass die Verletzung der Schutzpflicht eine Verletzung des Grundrechts darstellt.[100] Daher besteht ein subjektives Recht auf Abhilfe durch
Schutz[101].
Eine über den Schutzbereich der Art. 2 Abs. 2 hinausgehende Anerkennung fand die Schutzpflichtenlehre in einer Reihe von Entscheidungen beginnend mit dem Beschluss zum Postzeitungsdienst.[102] Eine Berechtigung des Staates, die Zustellung von Presseerzeugnissen zu fördern, leitete das Gericht aus der Schutzpflicht aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG her.[103]
Das Feld des (Arbeits-)Vertragsrechts betrat[104] die Schutzpflichtenjudikatur des Gerichts mit der Handelsvertreter-Entscheidung[105]. Aus der Schutzpflicht aus Art. 12 Abs. 1 GG folgt das Pflicht des Gesetzgebers in Fällen von Kräfteungleichheit zwischen den Vertragsparteien solche Regelung zu schaffen, welche zumindest rechtliche Mitwirkungsmöglichkeiten den Schwächeren anbietet. Aus diesem Grund vernichtete das Gericht eine Vorschrift der HGB, welche die Möglichkeit eines generellen Ausschlusses der Karenzentschädigung für Handelsvertreter nach Beendigung des Vertragsverhältnisses einräumte. Das Gericht stellt jedoch fest, dass die den Anknüpfungspunkt gesetzlicher Regelungen bildenden tatsächlichen Umstände sich nur typisierend erfassen lassen.[106] Es deutet sich damit bereits in der Handelsvertreter-Entscheidung eine dem Vertragsrecht eigene Schwerpunktverlagerung des staatlichen Schutzauftrages auf den Richter an. Die deutliche Grundlage der verfassungsrechtlichen Inpflichtnahme des Zivilrechts zur Vertragskorrektur in Ungleichgewichtslagen bildet die Bürgerschaftsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Die gerichtliche Pflicht zur Korrektur struktureller Disparitäten begründet das Gericht zum einen mit der aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleiteten Gewährleistung der Privatautonomie. Im Vertragsrecht ergibt sich der sachgerechte Interessenausgleich aus dem übereinstimmenden Willen der Vertragspartner. Beide binden sich und nehmen zugleich ihre individuelle Handlungsfreiheit wahr. Eingriffen in die ihm grundrechtlich garantierte Privatautonomie ist jedoch ausgesetzt, wer fremd- statt selbstbestimmt einer vertraglichen Bindung unterworfen wird. Ein so starkes Übergewicht einer der Vertragsteile, dass er den Vertragsinhalt
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faktisch einseitig bestimmen kann, bewirkt für den anderen Vertragsteil Fremdbestimmung.[107] Es handelt sich nicht um Eingriffe des Staates, sondern Dritter. Den Zivilgerichten legt das Bundesverfassungsgericht die Pflicht, darauf zu achten, dass Verträge nicht als Mittel der Fremdbestimmung dienen, auf. Diese vom Bundesverfassungsgericht angemahnte Vertragskontrolle in Ungleichgewichtslagen kann als Versuch verstanden werden, das verfassungsrechtlich gebotene Schutzminimum für das Vertragsrecht auf eine allgemeine Formel zu bringen.[108]
Im Hinblick auf die Ausweitung des Kreises der für die Schutzpflichtenlehre nutzbar gemachten Freiheitsrechte verdient die Bürgerschaftsentscheidung ebenfalls Aufmerksamkeit. Das Gericht nimmt hierin das Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit zum Anknüpfungspunkt einer objektiven Grundsatzentscheidung der Verfassung und eröffnet der Schutzpflichtenlehre damit einen potenziell grenzenlosen Anwendungsbereich.[109]
Die zweite Teilgewährleistung des Art. 2 Abs. 1 GG, namentlich das i. V. m. Art 1. Abs. 1 GG geltende allgemeine Persönlichkeitsrecht, zog das Gericht bereits ein Jahr zuvor als Quelle einer Schutzpflicht des Staates heran.[110] Anhand dieses Persönlichkeitsrechts setzt sich das Gericht in einer Entscheidung[111] zum Anspruch des nicht-ehelichen Kindes auf Vaterschaftsauskunft nochmals mit den Rechtsfolgen und den Adressaten der grundrechtlichen Schutzpflicht auseinander. Der Inhalt der Schutzpflicht umfasst die Gewährleistung der für die Persönlichkeitsentfaltung konstitutiven Bedingungen[112]. Die unbestimmte Formulierung belässt einen Spielraum nicht nur hinsichtlich einer Mehrzahl zur Verfügung stehender Reaktionsmittel, sondern auch im Hinblick auf die Abwägung widerstreitender Grundrechtspositionen.
Aus dem bei der Schutzpflichtenfunktion bestehenden Spielraum folgert das Bundesverfassungsgericht in einer anderen Entscheidung zur Vaterschaftsauskunft, welche die Frage betraf, ob die Mutter ihrem nichtehelichen volljährigen Kind Auskunft über dessen leiblichen Vater erteilen muss und damit das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Mutter mit dem des Kindes kollidierte, dass die Aufstellung und normative Umsetzung eines Schutzkonzepts zwar Sache des Gesetzgebers ist, wo aber dessen Entscheidung ausbleibt, sind die Gerichte im Wege der Rechtsfortbildung oder der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe die Schutzpflicht wahrzunehmen aufgerufen.[113]
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Seit der ersten Entscheidung, in der das Bundesverfassungsgericht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht eine grundrechtliche Schutzpflicht ableitet,[114] kann keine Entwicklung der Dogmatik der Schutzpflichtenlehre festgestellt werden. In der letzten, wieder sich mit der Vaterschaftsauskunft befassenden sog. Kukukskinder-Entscheidung[115], in dem um der Verwertbarkeit eines heimlich, ohne Zustimmung des betroffenen Kindes oder seiner Mutter als gesetzlicher Vertreterin zur Klärung der Vaterschaft eingeholten DNA-Gutachtens im Rahmen eines gerichtlichen Vaterschaftsanfechtungsverfahrens ging, wiederholte das Gericht die bisherige Rechtssprechung. Unter Berufung auf diesen Entscheidungen[116] stellte das Gericht fest, dass der Gesetzgeber seine Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m Art. 1 Abs. 1 GG verletzt hat in dem er unterlassen hat, einen Verfahrensweg zu eröffnen, auf dem das Recht auf Kenntnis der Abstammung in angemessener Weise geltend gemacht und durchgesetzt werden kann.[117] Die faktische Möglichkeit, sich privat Kenntnis von der biologischen Vaterschaft zu verschaffen, reicht nicht aus, einem Mann den gebotenen Schutz zukommen zu lassen, denn ein ohne die Einwilligung der Betroffenen eingeholtes Gutachten verletzt das Persönlichkeitsrecht des Kindes in seiner Ausformung als informationelles Selbstbestimmungsrecht und das von Art. 6 Abs. 2 GG geschützte Sorgerecht der Mutter.[118] Es ist Sache des Gesetzgebers unter Berücksichtigung den entgegenstehenden Grundrechte des Kindes und der Mutter, den Vater angemessener Schutz zu leisten, der auch wirksam ist.[119]
Nach der Analyse der Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kann festgestellt werden, dass es innerhalb der Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten noch offene Fragen, Kontroversen und dogmatische Unklarheiten gibt. Die Verfassungsjudikatur hat mit den grundrechtlichen Schutzpflichten ein neues und in seiner Ausdehnung kaum absehbares Terrain betreten, in welchem der Staatsabwehrfunktion eine auf die Beziehungen der Grundrechtsträger untereinander ausgerichtete Grundrechtsfunktion zur Seite gestellt wird. Zwar ist der daraus erwachsende Grundrechtsanspruch staatsgerichtet und zielt auf die Abwehr störender Handlungen ab. Es fällt jedoch bei Störer und Anspruchsgegner auseinander. Nicht der Staat soll eigene Maßnahmen unterlassen, sondern er soll Störungen Dritter unterbinden. Dass diese erhebliche Ausweitung des Inhalts der Freiheitsrechte des Grundgesetzes einer eingehenden Begründung bedarf, liegt ebenso auf der Hand, wie die Notwendigkeit einer klaren Ziehung von Grenzen für diese Ausweitung. Beide Postulate werden von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht überzeugend erfüllt.[120] Nicht abschließend geklärt ist bereits die genaue dogmatische
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Herleitung der grundrechtlichen Schutzpflichten. Ungeklärt ist zudem, welche Grundrechtsgüter Schutzpflichten auslösen und wie diese Güter losgelöst vom Abwehrrecht definiert werden können. Auch in Maß und Intensität ist die Reichweite der Schutzaufgabe unbestimmt. Soll ihre Wahrnehmung nur auf evidente Nichtbeachtung hin kontrolliert werden oder gibt es mit dem Untermaßverbot einen schärferen Maßstab, und wenn ja, welchen exakten Inhalts? Damit hängt eine weitere Kernfrage der Schutzpflichtendogmatik zusammen, diejenige nach der Auflösung der Spannungslage von Schutz und Eingriff, von Schutzpflicht und Abwehrdimension der Grundrechte. Schließlich muss nach den Möglichkeiten und Bedingungen subjektiver Rechte aus den Schutzpflichten gefragt werden. Die klassische Drittwirkungsdebatte hat die objektiven Grundrechtsfunktionen mit hervorgebracht und mündet nach fünfzig Jahren in die Kontroverse um eine Resubjektivierung objektiver Grundrechtsdimensionen[121]. Ob die Begründung der Privatrechtswirkung des Grundgesetzes durch die Schutzpflichtendogmatik zu einem Paradigmenwechsel führen kann, hängt davon ab, wie sich die Vielzahl der dadurch aufgeworfenen Fragen beantworten lässt.[122]■
JEGYZETEK
[1] Ralf Poscher: Grundrechte als Abwehrrechte, Reflexive Regelung rechtlich geordneter Freiheit. Tübingen: Mohr Siebeck, 2003, 228.
[2] BVerfGE 7, 198.
[3] BVerfGE 30, 173.
[4] BVerfGE 7, 198(204), 73, 261(269)
[5] BVerfGE 7, 198(204)
[6] BVerfGE 7, 198(207)
[7] BVerfGE 73, 261(269)
[8] Der Begriff wurde von Hans-Peter Ipsen geprägt und er hat auch in den ausländischen Sprachgebrauch Einzug gefunden. Dieser Begriff lasse sich nicht in fremde Sprachen übersetzen, da sie so eng mit dem deutschen Wesen verbunden ist, dass sich keine adäquaten semantischen Äquivalente finden lassen. In keinem anderen Land beschäftigten sich Rechtsprechung und Lehre nach dem Zweiten Weltkrieg in so starkem Maße mit der Einwirkung der Grundrechte auf privatrechtliche Rechtsbeziehungen wie in Deutschland. Benutzen ausländische Juristen das deutsche Wort "Drittwirkung", so verleiht dies sicher auch der Anerkennung für die Pionierleistung Ausdruck, welche die deutsche Rechtswissenschaft auf diesem Gebiet vollbracht hat.
[9] BVerfGE 7, 198.
[10] Josef Isensee: §. 117. In Josef Isensee - Paul Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Heidelberg: Müller Juristischer Verlag, 2000, Bd. V, § 117 Rn. 57.
[11] Poscher op. cit. 237.
[12] Thilo Rensmann verweist auf die intensive Auseinandersetzung des südafrikanischen Verfassungsgerichts mit der Lüth Entscheidung. Thilo Rensmann: Wertordnung und Verfassung. Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, 70.
[13] BVerGE 7, 198/204.
[14] Schon 1960 konnte Walter Leisner in seiner Habilitationsschrift von einer herrschenden Meinung berichten, welche die Drittwirkung bejahte. Walter Leisner: Grundrechte und Privatrecht. 1960, 335. Heute wird die Auffassung, dass das Privatrecht von den Grundrechten unbeinflusst bleibe, nicht mehr vertreten.
[15] Nach den Hauptvertretern dieser Lehre der unmittelbaren Drittwirkung. Hans Carl Nipperdey in Grundrechte und Privatrecht. 1961, S.13 f. und Walter Leisner in Grundrechte und Privatrecht. 285 ff. entfalten die Grundrechte im Zivilrecht "absolute Wirkung", gelten mithin im Verhältnis zwischen Privaten unmittelbar als Gebote wie Verbote, Rechte wie Anspruchsgrundlagen und bedürfen nicht der Mediatisierung durch privatrechtliche Normen wie Generalklauseln. Freilich soll sich die unmittelbare Drittwirkung nicht generell entfalten, sondern für jedes Grundrecht im Einzelfall zu prüfen sei.
[16] Günter Dürig: Grudrechte und Zivilrechtsprechung. In Festschrift für Hans Nawiasky. 1956, 176 ff. Nach ihm ist die Wertordnung, die in den Grundrechten festgelegt ist, bei der Auslegung des Privatrechts zu berücksichtigen und zwar nur oder jedenfalls überwiegend, indem diese Wertungen in die Auslegung der Generalklauseln einfließen.
[17] BVerGE 7, 198/204.
[18] Dies war bereits in BVerfGE 6, 55/72. entwickelt worden. In dieser Entscheidung zeigt schon die Architektur der im Lüth Urteil entfalteten mittelbaren Grundrechtswirkung. Die Grundrechte werden nicht unmittelbar als Abwehrrechte auf ein Rechtsgebiet angewandt, sondern dringen über ihre Wertfunktion in das einfache Recht ein. Bemerkenswert ist jedoch, dass die objektiv rechtliche Funktion der Grundrechte hier zur Begründung der Grundrechtswirkung im öffentlichen Recht herangezogen wird.
[19] BverfGE 7, 198(205)
[20] BVerfGE 7, 198(205 f.)
[21] BVerfGE 7, 198(206)
[22] BVerfGE 7, 198(207)
[23] BVerfGE 7, 198(206)
[24] Matthias Mayer: Untermaß, Übermaß und Wesengehaltsgarantie. Baden-Baden, 2005, 31.
[25] BVerGE 66, 116; 73, 261/269; Die unmittelbare Drittwirkung wird indes auch in der Literatur nicht mehr vertreten.
[26] Isensee-Kirchhof op. cit.V, § 111, Rn. 134 f.
[27] BVerfGE 25, 256.
[28] Claus Wilhelm Canaris: Grundrechte und Privatrecht, 1984, 57.
[29] BVerfGE 25, 256 (266)
[30] BVerfGE 25, 256 (257)
[31] BVerfGE 25, 256 (268)
[32] Günter Krings: Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche. Berlin: Dunker&Humblot, 2003, 20.
[33] Josef Isensee: Das Grundrecht auf Sicherheit, Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungstaates. Berlin, 1983, 34.
[34] Hans-Peter Ipsen: Gleichheit. In F. L. Neumann - H. C. Nipperdey - U. Scheuner (Hrsg.): Die Grundrechte. Bd. 2 (1954) 94.
[35] Da auch der Störer prinzipiell Grundrechtsschutz für sich in Anspruch nehmen kann und sein störendes Verhalten dem sachlichen Schutzbereich eines Grundrechts unterfällt, hat sich das Begriff "Übergriff', als Komplementärbegriff zum "Eingriff" im Schrifttum zur Beschreibung des die staatliche Schutzpflicht auslösenden Tuns Privater durchgesetzt. Isensee-Kirchhof op. cit. V, § 111 84 Die Verfassungsjudikatur spricht etwas umständlicher von "Eingriffen von Seiten anderer", BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 53, 30 (57); 56, 54 (73); 88, 203 (251). BVerfGE 39, 1 (37) gebraucht den Terminus "Übergriff" im umgekehrten Sinne für staatliche Ingerenzen
[36] Poscher op. cit. 227.
[37] Zur begrenzter Bedeutung der Vorgeschichte siehe Krings op. cit. 62-66., anders Rensmann op. cit. 186. der die Entscheidung als Widerhall eines bereits früher angeschlagenen grundrechtsdogmatischen Akkordes sieht, verweist jedoch darauf hin, dass sie einen "Paukenschlag" im internationalen Konzert der Verfassungsgerichte bildete, die fast zeitlich mit dem Problem des Schwangerschaftsabbruchs rangen.
[38] BVerfGE 39, 1 ff.
[39] BverfGE 39, 1 (42 u. 45)
[40] BVerfGE 39, 1 (42 u. Leitsatz 1)
[41] BverfGE 39, 1(41)
[42] Krings op. cit. 60.
[43] BVerfGE 39, 1 (42)
[44] Krings op. cit. 61.
[45] BVerGE 7, 198 (205)
[46] BVerfGE 39, 1 (42)
[47] BVerfGE 39, 1 (42)
[48] BVerfGE 88, 203,253.
[49] Das Gericht hat offengelassen, ob der nasciturus selbst Grundrechtstträger ist oder aber wegen mangelnder Rechts- und Grundrechtsfähigkeit "nur" von den objektiven Normen der Verfassung in seinem Recht auf Leben geschützt wird. BverfGE 39, 1, (41)
[50] BVerfGE 39, 1, (43)
[51] Mayer op. cit. 35.
[52] BVerfGE 39, 1(51)
[53] Mayer op. cit. S. 37.
[54] BVerfGE 39, 1(42)
[55] BVerfGE 39, 1(43)
[56] BVerfGE 39, 1(43)
[57] Konrad Hesse: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Heidelberg, 1995, 317.
[58] Ibidem.
[59] BVerfGE 39, 1(44)
[60] BVerfGE 39, 1(44)
[61] BVerfGE 39, 1(47)
[62] BVerfGE 46, 160(164 f.)
[63] Mayer op. cit. S. 31.
[64] Mayer op. cit. S. 31.
[65] BVerfGE 39, 1(48 ff.)
[66] Die zweite Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch soll die Analyse der zu Art. 2 Abs. 2 GG ergangenen Judikate abschließen.
[67] In der Herleitung des Rechts des ungeborenen Lebens auf staatlichen Schutz nimmt das Gericht nunmehr eine gewisse Akzentverschiebung gegenüber dem ersten Fristenregelungsurteil vor, indem er nicht mehr alleine auf Art. 2 Abs. 2, sondern auf die den ausdrücklichen Schutzauftrag beinhaltende Vorschrift des Art. 1 Abs. 1 GG abstellt: "Ihren Grund hat diese Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 GG, der den Staat ausdrücklich zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet; ihr Gegenstand und - von ihm her - ihr Maß werden durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt." (BVerfGE 88, 203 (251))Das Bundesverfassungsgericht wollte mit seinem Rückgriff auf Art. 1 GG schwerlich einen Paradigmawechsel in der normativen Begründung der Schutzpflichten einleiten; das relevante Schutzgut ist nicht die Würde, sondern bleibt das menschliche Leben. Ein Grund dafür könne die besonders enge Verbindung des Lebensschutzes zur Menschenwürde sein. Krings op. cit. 71.
[68] In den zweiten Fristenregelungsurteil, wo die Schutzpflicht in ihrem Grund wesentlich aus Art. 1 Abs. 1 GG begründet wird, hat das Gericht deutlich gemacht, dass Menschenwürde schon dem ungeborenen menschlichen Leben zukommt und nicht erst dem Leben nach der Geburt oder bei ausgebildeter Persönlichkeit. BVerfGE 88, 203 (251) Diese Anerkennung der Würde des nasciturus sprecht deutlich für ein daraus folgendes subjektives Recht desselben (das er freilich nicht selbst geltend machen kann).
[69] Mayer op. cit. 24.
[70] BVerfGE 88, 203, (255ff.)
[71] BVerfGE 88, 203(254)
[72] BVerfGE 88, 203 (254)
[73] Isensee-Kirchhof op. cit. V. § 111 Rdnr. 165. Das Gericht unterschlägt dabei, dass der Begriff "Untermaßverbot" erstmals von C. W. Canaris in Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), 200 ff. verwendet wurde.
[74] BVerfGE 88, 203, (254)
[75] Mayer op. cit. 44.
[76] BVerfGE 88, 203, (255-328.)
[77] BVerfGE 88, 203 (262 f.) in ausdrücklicher Abkehr von BVerfGE 56, 54(80 f.); 77, 170(214 f).; 79, 174(201 f.); 92, 26(46); Gemäß dieser Entscheidungen könne eine Verletzung der Schutzpflicht erst dann festgestellt werden, wenn diese evident sei und komme nur dann in Betracht, wenn der Gesetzgeber trotz bestehender Schutzpflicht gänzlich untätig geblieben sei oder offensichtlich fehlsame Maßnahmen ergriffen habe.
[78] BVerfGE 88, 203, 264.
[79] Isensee (1983) op. cit. 27. Er weist aber an gleicher Stelle darauf hin, dass der Paukenschlag "unmerklich" durch die ältere Rechtsprechung vorbereitet worden war.
[80] Ausgangspunkt der Entscheidung war kein echter Grundrechtskonflikt, hier werden nur für die Entwicklung der Schutzpflichtenlehre relevante Elemente analysiert. Ausführlicher dazu: Walter Schmitt Glaeser: Folter als Mittel staatlicher Schutzpflicht? In Otto Depenheuer: Festschrift für Josef Isensee. Heidelberg: C.F.Müller, 2007, 507-523.
[81] Zwar wies das Gericht die auf die erfüllung der Forderungen der Entführer des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer gerichtete Verfassungsbeschwerde als unbegründet zurück, war jedoch die Bejahung ihrer Zulässigkeit ein erster Hinweis darauf, dass das Bundesverfassungsgericht der Schutzpflicht den Charakter eines subjektiven Rechts nicht grundsätzlich absprach. Krings 66. Ferner lässt sich die in dem Urteil auf S. 165 erfolgenden Abwägung zwischen einer Schutzpflicht "gegenüber dem einzelnen" und einer solchen "gegenüber der Gesamtheit aller Bürger" als Unterscheidung objektiver und subjektiver Gehalte der Schutzpflicht deuten, siehe Robert Alexy: Theorie der Grundrechte. Frankfurt: 1986, 412.
[82] BVerfGE 46, 160 (164)
[83] BVerfGE 46, 160 (165)
[84] BVerfGE 46, 160 (165)
[85] Mayer op. cit. S. 25.
[86] BVerfGE 49, 89 aus 1978
[87] Matthias Cornils: BVerfGE 49, 98 - Kalkar, Der Schnelle Brüter im Spannungsfeldzwischen Gesetzesvorbehalt und dynamischen Grundrechtsschutz. In Jörg Menzel - Thomas Ackermann (Hrsg.) Verfassungsrechtsprechung. Hundert Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Retospektive. Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, 296.
[88] BVerfGE 49, 89 (130)
[89] BVerfGE 49, 89 (142)
[90] BVerfGE 49, 89 (143)
[91] BVerfGE 53, 30.
[92] BVerfGE 53, 30 (57)
[93] Isensee-Kirchhof op. cit. V, § 111 Rn. 112.
[94] BVerfGE 53, 30 (59) Dies zeigt die enge Verbindung zwischen Schutzpflicht und Vorbehalt des Gesetzes.
[95] BVerfGE 56, 54 aus 1981.
[96] BVerfGE 56, 54 (80)
[97] BVerfGE 56, 54 (70)
[98] Änlich BVerfGE 77, 170 (214) - C-Waffen: "gänzlich ungeeignet oder völlig unzugänglich", ebenso BVerfGE 79, 174 (201) - Verkehrslärm. In BVerfGE 88, 203 (262) wird dieser Maßstab aber wieder deutlich realativiert.
[99] BVerfGE 77, 170 (214) "Werden diese Schutzpflichten verletzt, so liegt darin zugleich eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, gegen die sich der Betroffene mit Hilfe der Verfassungsbeschwerde zur Wehr setzen kann." Stern, Staatsrecht III/1, S. 985, erkennt in diesem Beschluss eine "Tendenzwelle" in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Diese wird in weitere Entscheidungen verfestigt. Siehe nur BVerfGE 79, 174 (201 f.) "Aus ihm (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ist vielmehr auch eineSchutzpflicht des Staates [...] abzuleiten, deren Vernachlässigzng von dem Betroffenen mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann."
[100] BVerfGE 77, 170 (214)
[101] Christian Calliess: Die grundrechtliche Schutzpflicht im mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis. Juristen Zeitung, 2006, 323.
[102] BVerfG 80, 124 aus 1989.
[103] BVerfGE 80, 124 (133)
[104] Das Bundesverfassungsgericht verwendet das Wort "Schutzpflicht" weder in der Handelsvertreter-noch in der Bürgerschafts- Entscheidung. Daher werden diese Fälle in Teile der Literatur nicht als Frage grundrechtlicher Schutzpflichten, sondern als Problematik der grundrechtlich verankerten Privatautonomie angesehen.
[105] BVerfGE 81, 242 aus dem Jahre 1990.
[106] BVerfGE 81, 242 (255f.)
[107] BVerfGE 89, 214 (232)
[108] Damit wird nur eine grundrechtsdogmatisch verträgliche Einordnung des Beschlusses und nicht dessen inhaltliche Rechtfertigung geboten. Thomas Ackermann: BVerfGE 89, 214 Bürgerschaft, Zur Einwirkung der Grundrechte auf das Vertragsrecht: Inhaltskontrolle zur Kompensation von Ungleichgewichtslagen. In Jörg Menzel - Thomas Ackermann (Hrsg.) Verfassungsrechtsprechung . Hundert Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Retospektive. Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, 526.
[109] Krings op. cit. 63.
[110] BVerfGE 85, 386 (400 f.)
[111] BVerfGE 96, 56.
[112] BVerfGE 96, 56 (64)
[113] BVerfGE 96, 56 (64)
[114] BVerfGE 85, 386 aus dem Jahre 1992
[115]BVerfGE 117, 202 aus dem Jahre 2007
[116] BVerfGE 96, 56 (64); 88, 203 (254)
[117] BVerfGE 117, 202 (227)
[118] BVerfGE 117, 202 (228)
[119] BVerfGE 117, 202 (227)
[120] Krings op. cit. 18.
[121] Diesen Umweg kann nach Günter Krings in Anlehnung an Höfling, Grundrechtsordnung, S. 56 vermieden werden. Das Dilemma einer Begründung subjektiver Schutzrechte stellt sich nicht, wenn man die grundrechtlichen Schutzpflichten gar nicht erst objektiv herleitet, sondern sogleich als eine subjektive Dimension der Grundrechte versteht.
[122] Matthias Ruffert: Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts Eine verfassungsrechtliche Untersuchung zur Privatrechtswirkung des Grundgesetzes. Tübingen: Mohr Siebeck, 2001,23.
Lábjegyzetek:
[1] A szerző universitätsassistentin (PPKE JÁK)
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