Bei der Erörterung der Staats- und Rechtsentwicklung der sozialistischen Länder denkt man auch heute primär an die relevanten historischen Erfahrungen, die sich nach dem zweiten Weltkrieg in der jüngsten Entwicklung der mittel-und ost- bzw. südosteuropäischen Gesellschaften ergaben. In Wahrheit jedoch liegen die Ursprünge in viel früheren Zeiten, zugleich sind sie ausserordentlich komplex und kompliziert. Der gesamte historische Erscheinungskomplex, der sich in der Gesamtheit der europäischen Rechtsgruppenregion bzw. ihren Unterregionen äussert, ist nämlich in der verhältnismässig frühen Krise der Gesellschaften verwurzelt, die den schwächsten Punkt des modernen Kapitalismus bildeten. Infolge dieser Krise reiften die bis dahin unbekannten Formen der gesellschaftlichen Revolutionen.
Als Gemeinplatz mutet es heute schon an, wenn gesagt wird, dass die historischen Voraussetzungen der Entfaltung der europäischen sozialistischen Rechtssysteme auf die direkten bzw. indirekten Wirkungsfaktoren der Ergebnisse der Grossen Oktober-revolution zurückgeführt werden müssen. Die reichlich abgenutzte Formulierung birgt jedoch auch heute die komplizierte historische Wahrheit, dass die bedeutendste gesellschaftliche Revolution der neueren Zeit weltweite Wirkungen auf die staatlich organisierte menschliche Gesellschaft ausübte und bestimmte determinative Prozesse gerade in jener RechtsgruppenRegion auslöste, deren Krise an der Schwelle des 20. Jahrhunderts herangereift war. Die Rechtsentwicklung des preussisch-deutschen, des österreichisch-ungarischen und des russischen Reiches bzw. die sich verschärfende Krise der mittel- und osteuropäischen bourgeoisen Rechtsgruppen-Region, die sich im Zuge verspäteter kapitalistischen Wandlungsprozesse herausgebildet hatte, waren also der Hintergrund für die beispiellosen historischen Möglichkeiten, für deren Verwirklichung die Oktoberrevolution den Weg eröffnete.
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Allgemein bekannt ist, dass die betreffende bürgerliche Rechtsgruppe von den modernen Rechtssystemen die erste war, die sich von vornherein als Ergebnis einer ganze Völker erfassenden gesellschaftlichen Revolution herausbildete. Die frühe Krise der betreffenden Rechtsgruppe äusserte sich auch darin, dass die unlösbaren inneren Widersprüche vom Rhein bis zum Ural wirkten und die gesellschaftlichen Erschütterungen (Revolutionen) binnen kurzem ein solches Ausmass erreichten, dass sie die betroffenen multinationalen Reiche ausnahmslos unter sich begruben. Bei diesem beispiellos komplizierten historischen Wandel blieb also kein einziger Winkel der östlichen Hälfte des Kontinents intakt. Eine ungekannte Vielfalt von Völkern und Nationen rückte in die vorderste Front des kreativen gesellschaftlichen Handelns. Die zeitgenössischen Gesellschaften traten - oftmals in enger Wechselwirkung - ihren aus heutiger Sicht historisch notwendigen Weg an. Kaum ein Vierteljahrhundert verging, bis ein völlig neuer Rechtstyp die betreffenden Gesellschaften fast zur Ganze erfasst hatte. Die Seiten- und Irrwege der seither vergangenen Zeit konnten - wenn auch unter unermesslichen Opfern - die volle Entfaltung der europäischen Formen der sozialistischen Rechtsgruppen-Region im wesentlichen nur verzögern. Insofern bestanden bereits im geschichtlichen Vorfeld der Oktoberrevolution die Vorformen der heute bekannten Komponenten der betreffenden Rechtsgruppen-Region. Nicht selten beinhaltete die Revolution des jeweiligen Volkes (bzw. der Völker) implizit die lebensfähigen Elemente eines völlig neuen Staates und Rechtstyps. Nach den Gezeiten der Revolutionen konnten sich diese lebensfähigen Bestrebungen jedoch nur vorübergehend gegen den Ansturm der Konterrevolution behaupten, die von den führenden kapitalistischen Mächten vielseitige Unterstützung erfuhr.
In den Jahren nach 1917 können wir etwa gleichzeitig drei grosse Faktoren historischer Möglichkeiten beobachten. Eine Abschwächung erfuhren diese Faktoren erst Mitte der 20er Jahre bei den Völkern mit einer erfolgreichen bürgerlichen Staats- und Rechtsrestauration. Zuallererst können wir auf die an sich schon komplex erscheinende historische Möglichkeit verweisen, welche die Revolution der Völker Russlands in sich barg, und die sogleich in den Stürmen des Umbruchs die Garantie dafür bot, dass eine Reihe europäischer Völker mit grosser Vergangenheit völlig neue Wege beschreiten würde. Mit der Stabilisierung der Sowjetmacht bewies also ein epochaler gesellschaftlicher Wandel seine Vitalität. An diesem Wandel teilzuhaben, war jedoch nur im Rahmen der Sowjetmacht oder eben in der Union Sowjet-Russlands möglich. Trotz der Garantierung der nationalen Unabhängigkeit für die europäischen Völker, die im zaristischen Russland lebten, sowie auch trotz der Lostrennung einiger dieser Völker können wir sagen, dass fast überall der Wunsch nach Schaffung der Sowjetmacht zum Durchbruch gelangte.
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Selbst in Finnland, das den nordischen kapitalistischen, Rechtssystemen nahestand, erschien die Notwendigkeit der Schaffung des Rätesystems. Im Baltikum, in der Ukraine und in Belorussland traten sogleich die Möglichkeiten des Ausbaus einer sozialistischen Staats- und Rechtsordnung in Erscheinung. Insofern äusserten sich die Veränderungen, die sich in den ersten zwei Jahren der siegreichen Revolution vollzogen, bei einer Reihe von Völkern, die zuvor unter der Macht des alten Russland gelebt hatten, mit elementarer Kraft bei der Errichtung eines grundlegend neuen Staates bzw. bei der Schaffung vitaler Elemente des sozialistischen Rechts. Durch die Revolution der einst vom zaristischen Russland unterjochten Völker kamen die Veränderungen zustande, die bei einer Reihe osteuropäischer Völker die auf dem kapitalistischen Privateigentum beruhende Rechtsordnung beseitigten. So konnte die Epoche der Stabilisierung der Sowjetmacht zur Epoche der Herausbildung eines sozialistischen Staats- und Rechtstyps werden. Zugleich wurde damit eine der markantesten Komponente der europäischen sozialistischen Rechtsgruppen-Region ausgebaut.[1]
Eine bittere historische Tatsache ist jedoch, dass die restaurierten bürgerlichen Gesellschaften Mittel- und Osteuropas gegenüber den Herausforderungen der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre das geringste Behauptungsvermögen aufbrachten. Somit wurde auch das Schicksal der so stabil erscheinenden bürgerlich-demokratischen Ordnung durch die Heraufkunft der totalitären (faschistischen) Diktaturen unaufhaltsam besiegelt. Die Region Mittel- und Osteuropas wurde durch diesen regressiven geschichtlichen Prozess besonders betroffen. Auch die auf der Stufe des Agrarkapitalismus steckengebliebenen südosteuropäischen Staaten konnten der Faschisierungsgefahr nicht ausweichen. Nur die Kräfte, die das Zusammenwirken breitester Volksschichten (Volksfront) verkündeten, und das Bündnis der von neuem erstarkenden linken Bewegungen konnten eine ernsthafte Kraft gegen die Faschisierung bilden. Die totalitären Systeme, die der faschistischen Aggression mit unverhüllter Offenheit dienten, entstanden zumeist in den an die Sowjetunion angrenzenden Staaten. Es gab also durchgängig eine gewisse reale Grundlage dafür, dass der Staat des bestehenden Sozialismus zahlreiche Initiativen zur Schaffung antifaschistischer Bündnissysteme unternahm. Die volksfeindlichen Regime dieser Länder schlossen sich dennoch, trotz der wachsenden Gefahr, (formell) aus eigenem Entschluss dem antisowjetischen Krieg an. Indem diese Kräfte von der Aktion spektakuläre Ergebnisse erwarteten, versuchten sie, ihre untereinander erhobenen (territorialen) Revisionsbestrebungen bzw. die Beteiligung an der Aufteilung der unterjochten sowjetischen Gebiete mit den Welteroberungsplänen der Aggression zu verbinden. Für die Verzögerung des kollektiven antifaschistischen Auftretens mussten diese Staaten deshalb fast mit der Beseitigung ihrer selbständigen Staatlichkeit bezahlen.[2]
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Angesichts der Neubelebung aggressiver internationaler Bestrebungen, die eine Neuaufteilung der Welt forderten, trat der Sowjetische Staat in den Jahren vor dem zweiten Weltkrieg für internationale Beziehungen ein, die den Weltfrieden von vornherein wirksamer garantierten. Diese Bestrebungen waren von dem Ziel geleitet, der Aggression vorzubeugen und die Grundlagen der kollektiven internationalen Sicherheit zu schaffen. Dies wurde auch durch das Bestreben demonstriert, die konstruktive internationale Zusammenarbeit auf eine Reihe von Ländern auszudehnen, die in früherer Zeit antisowjetische Vorhaben unterstützt hatten.[3] Die Aussenpolitik, die die gesellschaftlich-ökonomischen Errungenschaften des Sozialismus verteidigte, suchte also offenkundig die Zusammenarbeit mit den progressiven Kräften der Welt und schreckte im Angesicht der zu erwartenden faschistischen Aggression auch nicht davor zurück, Verpflichtungen einzugehen.[4] Die führenden kapitalistischen Mächte wichen jedoch der Verpflichtung zum kollektiven antifaschistischen Auftreten aus.[5]
Allgemein bekannt ist schliesslich, dass das faschistische Deutschland die Republik Polen ohne Kriegserklärung überfiel (1. September 1939), womit ein weiterer Weltkrieg begann. Die alliierten Westmächte (Grossbritannien und Frankreich) erklärten unterdessen lediglich ihren Kriegseintritt, unternahmen aber keine praktischen Schritte im Interesse des Opfers der Aggression. In dieser besonderen Situation "wurde es notwendig", dass die Rote Armee die im Rigaer Frieden (1921) Polen angegliederten "westukrainischen und westbelorussischen Gebiete unter militärischen Schutz nahm". Mit den baltischen Ländern wurden Sicherheitsabkommen abgeschlossen. Aus dieser Ausgangslage ergab sich, im Zuge eines beschleunigten geschichtlichen Prozesses, "die Wiedergeburt der westlichen Sowjetrepubliken".
Die letzteren Staaten waren bekanntlich in einer früheren ungünstigen internationalen Situation zu Schauplätzen der Restauration der bürgerlichen Ordnung geworden. Die westukrainischen und westbelorussischen Gebiete hingegen wurden im Rahmen eines Kompromisses, der durch die sowjetfeindliche Intervention Pilsudski-Polens erzwungen worden war, von den Sowjetrepubliken abgetrennt.[6]
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Allein die Skizzierung der äusseren und inneren Faktoren lässt leicht verstehen, dass die mit einer ununterbrochenen inneren Krise kämpfenden volksfeindlichen Systeme bald den Boden unter den Füssen verloren. Hauptsächlich nach dem Zusammenbruch der Republik Polen wurde z.B. die Lage der Baltenstaaten aussichtslos. Die Verteidigungsabkommen mit der Sowjetunion hinderten aber vorübergehend noch die weitere (Ost-) Ausdehnung des faschistischen Deutschland. "Die erstarkenden Massenbewegungen" sahen jedoch in der Wiederherstellung der Volksmacht eine gewisse Sicherheit gegen die weitere Ausdehnung der Volksmacht. So zuerst erklärten die westukrainischen bzw. westbelorussischen Voksvertretungsorgane ihren Anschluss an die Ukrainische bzw. Belorussische Sowjetrepublik.[7] Nach der Abwehr des Angriffs Finnlands, das auf aktives deutsches Betreiben hin in den Krieg geraten war, erhielt Karelien den Status einer Autonomen Unionsrepublik (März 1940). Das aus der Macht des königlichen Rumänien befreite Moldawien bat, als selbständige Sowjetrepublik in die Union aufgenommen zu werden (Aug. 1940).
All diese Veränderungen wirkten natürlich direkt und indirekt auf eine Linksentwicklung der Massenbewegungen der Baltenländer. Dies führte schliesslich zum unblutigen Zerfall der bürgerlichen Ordnung in diesen Ländern. Als erste wurde die Litauische Sowjetrepublik proklamiert,[8] dann folgte die Gründung der Lettischen und Estnischen Sowjetrepublik. Bis Ende Oktober (1940) wurden die Verfassungen der neuen Sowjetrepubliken herausgegeben. Diese Entwicklungen wurden offenkundig durch die wachsende äussere Gefahr beschleunigt. Ohnehin blieb kaum Zeit, die Institutionen der Volksmacht von unten zu organisieren. Der Ausbau der neuen Organe der Staatsmacht und der Verwaltung war noch im Gange, als die gesamte Region der neuen europäischen Sowjetrepubliken zum Kriegsgebiet wurde. Die umfassende Legislativierung des sozialistischen Rechts konnte erst nach dem zerstörerischen Krieg erfolgen. In dieser europäischen Region konnten somit erst nach dem Grossen Vaterländischen Krieg [9] "die gesellschaftlich-ökonomischen Grundlagen des Sozialismus" gelegt werden.
Dennoch konnten auch in dieser kontinentalen Region die grundlegenden Institutionen der Sowjetmacht nicht mehr beseitigt werden. Unter Leitung des Staatlichen Verteidigungskomitees wurden sie zu Objekten für die Durchführung von Sonderaufgaben. Der Wirkungsbereich der exekutiven Machtorgane
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der Republiken erweiterte sich in der Praxis. Der Oberste Sowjet der Union ergänzte dies, indem er den zum Kriegsschauplatz gewordenen Unionsrepubliken das Recht zur Aufstellung selbständiger Militäreinheiten (1944), sowie zur Errichtung von selbständigen Aussenvertretungen gewährte. Das letztere Recht wurde den (europäischen) Sowjetrepubliken erteilt, die die schwersten Kriegslasten zu tragen hatten. Infolgedessen wurden die Ukrainische und die Belorussische Sowjetrepublik zu Gründungsmitglieder der UNO.[10]
Als wir die Ursprünge des europäischen volksdemokratischen bzw. sozialistischen Rechts suchten, griffen wir nicht zufällig auf die revolutionäre Epoche von 1917-1919 zurück. Dieses tun wir auch bei der Suche nach den staatsgeschichtlichen Besonderheiten, doch lenken wir die Aufmerksamkeit nicht mehr so sehr auf die grossen historischen Möglichkeiten des Übergangs, sondern indem wir die Derivate der verhältnismässig frühen Krise der betreffenden kapitalistischen Rechtsgruppenregion betrachten, suchen wir die grundlegendsten Merkmale der Unterregionen der sich später entfaltenden europäischen sozialistischen Rechtsgruppe. Statt der historischen Vorbilder verfolgen wir also die Folgen der akuten Krise der verfallenden bürgerlichen Rechtsgruppenregion.
Über eine verhältnismässig entwickelte Produktionsorganisation und ein institutionelles System, das die höchste Stufe des modernen Kapitalismus verkörperte, verfügten in dieser Region das sogenannte zweite deutsche Reich und die Nachfolgestaaten der österreichisch-ungarischen Monarchie. Doch befanden sich Gebiete des früheren Preussen-Deutschland oder Polens oder anderer aus der Habsburger Monarchie hervorgegangener (selbständig gewordener) Staaten bei weitem nicht auf gleichem Niveau. Im Gebiet der Weimarer Republik, der Österreichischen, der Tschechoslowakischen und der Polnischen Republik bildete sich der Schwerpunkt der Region heraus, doch gilt dies primär für die westlichen Gebiete der Region. Die auffälligen inneren Disproportionen erschienen insbesondere beim Vergleich der westlichen und östlichen Gebiete der Tschechoslowakischen Republik[11] sowie der deutschen und polnischen Gebiete. Natürlich bestanden auch auffällige Entwicklungsunterschiede zwi-
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schen den Gebieten der Polnischen Republik, die früher unter preussisch-deutscher, österreichischer oder russischer Herrschaft gestanden hatten. Aber selbst für das letztere, das vormals zum Russischen Reich gehörige Gebiet war nicht mehr das Entwicklungsniveau des Agrarkapitalismus charakteristisch. Somit wirkte auch die relative Entwickeltheit der ererbten gesellschaftlich-ökonomischen Bedingungen dahingehend, dass jene Staaten, die die Nachfolge der Länder mit verspäteter bürgerlicher Umgestaltung angetreten hatten, zu Staatsverhältnissen einer modernen bürgerlichen Republik übergehen konnten. Insofern konnten sich in der Zeit zwischen den Weltkriegen die lebensfähigen Elemente bürgerlich-demokratischer Systeme nur in dieser Region herausbilden.
Bei der Prüfung der Staatsstruktur der sozialistischen Länder in Europa traten auch die Kennzeichen einer inneren Gliederung der gegebenen Rechtsgruppe zutage. So ist es z.B. offensichtlich, dass von vornherein gewisse Niveauunterschiede zwischen den mit einem relativ entwickelten sozialökonomischen Hintergrund beginnenden sozialistischen Ländern in Mittel- und Osteuropa und den am Anfang noch auf der Stufe des Agrarkapitalismus stehenden Staaten entstehen konnten. Die grössere Wirkung auf die Enwicklung der Staatsstrukturen hatten trotzdem die konkreten historischen Modalitäten (die Art und Weise) des Überganges zur neuen Gesellschaftsordnung oder auch die sich aus der ethnischen Zusammensetzung des betreffenden Landes ergebenden besonderen Anforderungen. Letztere Faktoren bargen auch bedeutende zeitliche Unterschiede in sich, doch im grossen und ganzen waren wir doch Zeugen eines fast eines halben Jahrhundert andauernden, seinen Merkmalen nach in allen Ländern gleichen entwicklungsgeschichtlichen Trends in der Entfaltung der europäischen sozialistischen bzw. "volksdemokratischen" Staatssysteme. Selbst die durch äussere Faktoren verursachten Umwege (Zwangsbahnen) traten in nahezu gleicher Weise in Erscheinung, und auch die Berichtigungen der erkannten Fehler im Staatenaufbau begünstigten die Weiterentwicklung der gemeinsamen Merkmale.
Es soll also nicht nur dem besseren Verständnis dienen, wenn wir auch die in der neuesten Zeit erfolgte Rechtsentwicklung der Gesellschaften in den nahen bzw. Nachbarländern einer methodischen vergleichenden Untersuchung unterziehen. Die konkreten geschichtlichen Prozesse erlangen nämlich dadurch besondere Aktualität, dass die Wirkungen innerhalb der gegebenen Rechtsgruppe in grösserem Masse als je zuvor Wechselwirkungen sind. Dies ist ein charakteristisches Merkmal des östlichen Teils Europas in der neuzeitlichen Geschichte, die Wechselwirkung zwischen den sozialistischen Rechtsgruppenregionen in
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Europa ist jedoch mehr als ein geschichtlicher Erscheinungskomplex, denn wir können mit Recht sagen, dass die darin zur Geltung kommenden Prozesse in einigen Fällen noch nicht abgelaufen sind. Wer könnte es z.B. bestreiten, dass die "Geschichtswissenschaft - wenn überhaupt, dann - gerade durch Aufdeckung der jüngsten Vergangenheit der Gegenwart eine unmittelbare Lehre geben kann".[12] Diese Wechselwirkungen sind nämlich in der jüngsten Geschichte der Völker Osteuropas im wahren Sinn des Wortes von "gegenwartsgeschichtlichem" Charakter, d.h. sie sind Träger von oft heute noch lebenden kreativen Prozessen in der Entwicklung der ost-mittel-europäischen Rechtsgruppen.[13]
Jahrhunderte unserer neuzeitlichen Geschichte (Rechtsentwicklung) verstrichen so, dass unsere Vorfahren nur vom Einfluss der am weitesten entwickelten (westlichen) Gesellschaften einen Fortschritt im Leben der ins Prokrustesbett der bekannten Vielvölkerreiche erwarten konnten. Die jüngste Geschichte Osteuropas hat jedoch diese Einseitigkeit endgültig bewältigt und den Wechselwirkungen Vorrang gegeben. Wie wir auch bei der staatsgeschichtlichen Behandlung der Region sehen konnten, traten diese Wechselwirkungen sehr vielschichtig in Erscheinung[14] und wurden oft zu nahezu determinanten Faktoren in der Entwicklung der gegebenen Staatsstrukturen bzw. Institutionssysteme. Mutatis mutandis gilt das noch mehr für die Entwicklung der ost-mittel-europäischen Formen des Rechtstyps, denn die Entwicklungsgeschichte der in den Staatsmacht war immer eng mit der juristisch geregelten Ordnung der staatlichen Tätigkeit, d.h. vor allem mit der konstitutionellen (staatsrechtlichen) Rechtsschöpfung verbunden, die die Quelle unserer zuvor erwähnten staatsgeschichtlichen Untersuchungen bildete. Es ist offensichtlich kein Beweis dafür erforderlich, dass das ost-mittel-europäische Recht in diesem Rechtszweig im letzten Vierteljahrhundert einen Rückstand von Jahrhunderten aufholte und sich so entwickelte, auch in rechtsdogmatischer Hinsicht so auffällig gut fundierte Verfassungssysteme erarbeitete, die oft auch in den erfolgreich geführten nationalen Unabhängigkeitskämpfen ferner Kontinente als Modell dienten.
Der bekannte bürgerliche Neukonstitutionalismus geriet also nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig ins Hintertreffen, und in mehreren Bereichen der garantierten (und realisierten) staatsbürgerlichen Rechte konnte die konstitutionelle Legislation der sozialistischen Länder in Europa ausdrücklich ein Beispiel sta-
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tuieren.[15] Es besteht natürlich kein Zweifel, dass dieser auffällige staatsrechtliche Fortschritt die gesellschaftlichen Erfahrungen in sich trug, in vielen Bereichen wurde jedoch Originales geschaffen. In den letzten Jahrzehnten spielte sich jedoch eine ganze Reihe ähnlicher geschichtlicher Prozesse in den traditionellen Rechtszweigen und überhaupt im radikalen Rollenwechsel des Rechts ab.
Die Entwicklung unserer relevanten Rechtsverhältnisse prüfend, müssen wir vor allem auf den heteromorphen Zustand Osteuropas vor dem Entstehen der neuen gesellschaftlichen Formation verweisen. Als Ganzes gesehen, ist dieser Raum ohnehin schon als Region des verzögerten (verspäteten) kapitalistischen Rechts bekannt, in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wurden jedoch die Niveauunterschiede noch grösser. So wurde es für den Übergang kennzeichnend, dass es aus der akuten Krise der veschiedenen bürgerlichen Rechtssysteme schliesslich keinen Ausweg mehr gab, und diese besondere geschichtliche Situation brach früher oder später ausnahmslos überall an die Oberfläche. Von diesem Umstand ist es übrigens abzuleiten, dass die antifaschistische, volksbefreiende Bewegung im Osten des Kontinents von vornherein einer geschichtlichen Situation gegenüberstand, die auch die Lebensfähigkeit der bestehenden Rechtsordnung in Frage stellen musste. Ja, je kraftvoller (und erfolgreicher) also die innere antifaschistische Volksbewegung war, desto schneller näherte sich das gegebene Land der Schaffung der Grundlagen für das sog. "volksdemokratische Recht". So wurde es zu einer Besonderheit des Übergangs, dass die relativ schwächsten Kettenglieder der Region die Schaffung der neuen gesellschaftlichen Formation (bzw. des neuen Rechts) initiierten und ihre ersten Ergebnisse den Veränderungen in Mitteleuropa weit zuvorkamen. Dabei spielt natürlich auch die Tatsache mit, dass z.B. die betroffenen Gesellschaften einst zumeist auf dem Niveau des Agrarkapitalismus in der Entwicklung steckenblieben und eine Bindung an die traditionellen Elemente der kapitalistischen Rechtsordnung in Wirklichkeit gar nicht erst entstehen konnte. Die mit einem relativ weiter entwickelten sozialökonomischen Hintergrund startenden sozialistischen Länder in Europa erbten dagegen von den verschiedenen faschistischen bzw. faschistoiden Systemen eine völlig oder fast völlig verfallene bürgerliche Rechtsordnung. Insgesamt gesehen trat also im östlichen Teil des Kontinents - zwar unter unterschiedlichem Vorzeichen - allgemein (und dauerhaft) die Unhaltbarkeit der vielfach deformierten bürgerlichen Rechtsordnung in Erscheinung. Bevor also die volksfeindlichen Systeme unter den Schlägen der Roten Armee der Reihe nach zusammenbrachen, erschöpften sich auch die Zwangsbahnen (die Umleitungen), und die betroffenen kleinnationalen kapitalistischen Rechtssysteme fielen hilflos auseinander.
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Diese besondere geschichtliche Situation ist im allgemeinen im Zusammenhang mit dem Endergebnis des Zweiten Weltkrieges bekannt. Die historisch notwendige Umwälzung wies jedoch noch eine frühere Komponente auf, die wir heute leicht ausser acht lassen. Die akute Krise der bürgerlichen Rechtsordnung trat nämlich zuerst bei den Baltenvölkern in Erscheinung. Der Begründung der volksdemokratischen Rechtsordnung in den neugeschaffenen baltischen Sowjetrepubliken konnte nur der Krieg gegen die Sowjetunion vorübergehend Einhalt gebieten. So spielte sich in der Rechtsordnung der Baltenrepubliken schon die Beschränkung der zur Ausbeutung geeigneten (kapitalistischen bzw. feudalen) Besitzverhältnisse ab (Verstaatlichung, Aufteilung des Grossgrundbesitzes usw.), als in den zum Schauplatz des Grossen Vaterländischen Krieges werdenden Gebieten jede der Entwicklung des Rechts dienende Tätigkeit vorübergehend in den Hintergrund gedrängt wurde.
Wir müssen also nicht die historischen Besonderheiten des Entstehens des sozialistischen Rechts in Europa antizipieren, um die regionale Gliederung der sich herausbildenden Rechtsgruppe zu sehen. Die Konturen der konkreten Subregionen würden wir jedoch vergeblich im Zuge der Leitideen der bürgerlichen Komparatistik suchen, die oft auch heute noch die Rechtsgruppenregionen der Länder mit sog. westlichen Traditionen und der Balkanländer als Derivate der lateinisch-germanischen bzw. der byzantinisch-slawischen Kulturkreise hinstellt.[16] Übri gens können wir auch durch eine konkrete Analyse der konkreten Verhältnisse das Wesen der Rechtsgruppe erkennen bzw. die grundlegendsten Merkmale der gegebenen nationalen Rechtssysteme systematisieren. Unsere diesbezüglichen Kenntnisse bieten jedoch bis heute äusserst bescheidene Möglichkeiten, da wir weder auf eine methodische rechtsgeschichtliche Erschliessung der gegebenen Rechtssysteme noch auf eine vergleichende Untersuchung der einzelnen Rechtszweige zurückgreifen können. Anhaltspunkte für die erwähnten staatsgeschichtlichen (synthetisierenden) Versuche liefern uns praktisch nur die wirtschaftsgeschichtlich-politischen bzw. die die Rechtszweige vergleichenden Untersuchungen.[17],[18] Der Weg zu einer methodischen rechtsge-
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schichtlichen (vergleichenden) Analyse unseres Themenkreises führt also auch heute nur über die Systematisierung des relevanten Tatsachenmaterials der Rechtsentwicklung.[19] Die Untersuchung der grundlegendsten Anhaltspunkte der jüngsten Rechtsentwicklung der benachbarten zeitgenössischen Gesellschaften bzw. aufgrund dieser Anhaltspunkte die Untersuchung der Hauptkomponenten des sozialistischen Rechts in Europa bleibt einer nahen oder auch möglicherweise etwas ferneren Zukunft vorbehalten.
Die Studie untersucht die historischen Vorereignisse der europäischen sog. volksdemokratischen Umgestaltungen. Aus diesen konkreten historischen Vorereignissen wird es nämlich sichtbar, dass die bourgeoise Rechtsordnung in Osteuropa schon nach den Revolutionen 1918-1919 in eine kritische Lage geriet. An der Schwelle des Zweiten Weltkrieges wiederum erschien auch eine Reihe neuer sowjetischer Republiken (baltische, moldauische). Im weiteren lenkt der Verfasser die Aufmerksamkeit auf die Entstehung der einzelnen volksdemokratischen Staaten und erörtert die Gründe der Entstehung der wichtigsten Rechtsgruppenregionen.
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The study analyses the historic precedents of so-called people's democratic changes in Europe. These specific historic precedents make it evident, that the bourgeois law and order in Eastern Europe had already got into a critical situation after the revolutions in 1918-1919. On the threshold of the Second World War new soviet republics appeared (Baltic, Moldavian). The author focuses afterwards on the evolution of the people's democratic states and discusses the reasons for the evolution of the most important regions of legal systems. ■
ANMERKUNGEN
[1] Siehe hierzu die Untersuchung des Autors über die Resultanten des bestehenden sozialistischen Rechts. A szocialista jog fejlődése. Bp. 1984. 68-72, 111-118. pp.
[2] S.o. unter Titel "Rolle der staatsgeschichtlichen Spezifika" (államtörténeti sajátosságok szerepe).
[3] z.B. in Richtung auf die baltischen und die Kleinentene-Staaten.
[4] Siehe die zitierten sowetisch-französischen und sowetisch-tschechoslowakischen Abkommen über gegenseitigen Beistand (1935).
[5] Siehe zur Zeit des Anschlusses (1938) bzw. des Überfalls auf die Tschechoslowakische Republik (1939).
[6] Ähnlich wurden die moldauischen Gebiete im Rahmen der Versailler-Washingtoner Friedensregelung dem bourgeoisen rumänischen Königreich angegliedert.
[7] Was auch in den vom Obersten Sowjet der Union verabschiedeten Gesetzen (Nov. 1939) fixiert wurde. Siehe Istorija Sowetskoi Konstitucii 1917-1956. Red. S. S. Studenikina. Moskau, 1957. 809-810 pp.
[8] Aufgrund der Entscheidung des Litauischen Sejm, siehe ebenda (1957) 813-814 pp. Vergleiche: Obrasowanie i raswitie Sojusa Sowjetskich Sozialistitscheskich Respublik (w dokumentach) Red. A. P. Kosyzin, Moskau, 1973. 491-497 pp.
[9] Bzw. parallel zu den schweren Jahren des Wiederaufbaus.
[10] Später (1956-1957) wurde dieser Fortschritt von der Regierung bei der Vornahme sog. Korrekturen als Ausgangspunkt dafür betrachtet, die Gesetzgebungs- und exekutiven Machtbefugnisse der in der Union vereinigten Sowjetrepubliken weiter auszudehnen. A szocialista jog fejlődése (1984) 317-319 pp.
[11] Gegenüber dem verhältnismässig hohen Entwicklungsstand von Böhmen und Mähren war die slowakische Region auffallend rückständig. Das angegliderte Gebiet der Karpatho-Ukraine blieb noch unter diesem Niveau.
[12] In: A szocialista jog fejlődése, Budapest 1984, 400-401 pp.
[13] Siehe vom Verfasser: S. die treffende Feststellung bei Pach, Zs. P.: Új történelmünk, új történetírásunk (Neue Geschichte, neue Geschichtsschreibung) In: Történetszemlélet és történettudomány, Budapest 1977, 551-552 pp.
[14] Dass "... solche Einflüsse in (nahezu) jeder Richtung zur Geltung kamen und jede Nation diese Einflüsse annahm, dabei jedoch aber auch auf andere Einfluss nahm". Unter Hinweis auf die direkte Vorgeschichte s. Niederhauser, E.: A nemzeti megújhodási mozgalmak KeletEurópában (Nationale Erneuerungsbewegungen in Ost-Europa) 100. cit. (1973) 374 p.
[15] S. Horváth, P.: A szocialista jog fejlődése (1984) 414-419 pp. Vergl. Kudrjawzew, B. N.: Konstituzija obschenarodnogo gossudarstwa, in: Sowjetskoje Gossudarstwo i Prawo 1977, Heft 11, 10-19 pp.
[16] S. dieses Bild z.B. bei David, R.: Die grossen Rechtssysteme der Gegenwart (1977), 140-141 pp.
[17] S. z.B. Uspenskij, A. A.: Ekonomitscheskaja istorija sarybeschnych sozialistitscheskich stran Europy (Moskau, 1971), Kowatschew, D. A.: Sakonodatel'nyj prozess w evropejskich sozialistitscheskich gossudarstwach (Moskau, 1966) und die mit den Namen Ivan T. Berend und György Ranki verknüpften ungarischen Forschungen. Vergl.: Kalbe, E.: Die eine neue Form des Übergangs zum Sozialismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jahrgang 1982, Heft 10-11, 899-909 pp., Bajtin, M. J.: Raswitie prawa w evropejskich narodnodemokratitscheskich gossudarstwach, in: Sowjetskoje Gossudarstwo i Prawo, Jahrgang 1956, Heft 1, 28-38 pp.
[18] Als Beispiele für letztere Bestrebungen s. Ciskovska, V.: Vlastnicka soustava europskych socialistickych statu (Prag, 1975), Semejnoje prawo sarubeschnych evropejskich socialistitscheskich stran. Sbornik, st. is. bolg. weng, etc. (Moskau, 1979), Eminescu-Popescu, T.: Les codes civils des pays socialistes. Étude comparative (Bukarest-Paris, 1980), Andrejew, J.: Otscherki po ugolownomu prawu sozialistitscheskich gossudarstw (Moskau, 1978), Ugolownyj, prozess sarubeschnych sozialistitscheskich gossudarstw (Red. Tschugonow, Moskau, 1967), Kleinman, A. F.: Graschdanskoje prozessual'noje prawo w evropejskich norodno demokratitscheskich stran (Moskau, 1960), In der ungarischen Rechtsliteratur s. z.B. Trócsányi, L.: A munkajogviszonyok alapkérdései az európai szocialista országok jogában (Grundfragen der Arbeitsrechtsverhältnisse im Recht der sozialistischen Länder Europas) (Dissertation, 1979).
[19] Wie der Historiker sagt, "ist eine solche Untersuchung erst dann vorstellbar, wenn wir in jedem Land schon über eine einigermassen sichere Basis verfügen". S. Niederhauser, E.: A nemzeti megújhodási mozgalmak (Die nationalen Erneuerungsbewegungen) 1977, 375 p.
Lábjegyzetek:
[1] Lehrstuhl für Allgemeine Rechtsgeschichte, Telefonnummer: (36-1) 411-6535
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