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Károly Bárd[1]: Strafjustiz und Moral (Annales, 2009., 399-403. o.)

Im Folgenden versuche ich den Zusammenhang zwischen Moral und Strafjustiz am Beispiel des Schweigerechts des Beschuldigten bzw. Angeklagten darzustellen. Zahlreiche rechtswissenschaftliche Publikationen befassen sich mit der Beziehung zwischen materiellem Strafrecht und Moral. Das Interesse ist selbstverständlich, da das Strafrecht, oder zumindest das Kernstrafrecht eine Art Sammlung ethischer Befehle bzw. Verbote ist. Das Interesse an den ethischen Aspekten des Strafprozesses ist auffallend geringer, was ich jedoch für unbegründet erachte. Denn der Strafprozess dient nicht nur der Durchsetzung des materiellen Strafrechts; das Strafprozessrecht ist nicht lediglich eine Sammlung rechtstechnischer Normen und bei weitem nicht ethisch neutral: die Normen des Prozessrechts sind Widerspiegelung des Welt- und Menschenbildes einer Epoche, der historisch-politischen Erfahrungen und ethischen Grundwerte der jeweiligen Gemeinschaft.

Das Strafprozessrecht ist also nicht ausschließlich als Sammlung der die Wahrheitsforschung fördernden technischen Regeln aufzufassen, das keine Beziehung zur Moral hat. Der ethische Inhalt des Strafprozesses kommt in jenen Normen deutlich zum Ausdruck, die der Wahrheitsforschung Schranken setzen: in den Regeln über das Zeugnisverweigerungsrecht, in den Beweisverboten oder in den Vorschriften über die Unzulässigkeit rechtswidrig erlangter Beweise. Die Beziehung zwischen Strafjustiz und Moral kann aus verschiedenen Perspektiven untersucht werden. Man kann zum Beispiel analysieren, ob die Rechtsregeln moralisch koherent sind, ob die Teilnehmer des Prozesses den in den Normen enthaltenen Erwartungen gerecht werden können. Wir können die prozessualen Normen auch auf ihre Übereinstimmung mit den ethischen Normen der Gemeinschaft untersuchen. Letzteres versuche ich im Hinblick auf das Schweigerecht des Beschuldigten.

Mein Ausgangspunkt ist, dass etwas mit diesem Recht nicht stimmt. Wie kommt es - frage ich mich -, dass das ungarische Verfassungsgericht, der Europäische Menschengerichtshof oder das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten, all diese Gerichte bereit sind hinzunehmen, dass Angeklagte, die von ihrem Schweigerecht Gebrauch machen, dafür manchmal einen bitteren Preis bezahlen müssen.

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Bereits was seine Entstehung betrifft, ist das Schweigerecht tatsächlich ein rätselhaftes Recht. Als Geburtsort des im modernen Sinne aufgefassten Schweigerechts wird England angegeben und die Anerkennung des nemo tenetur Satzes wird gewöhnlich als Triumph des common law gefeiert. Die common law Gerichte aber, die durch die Abschaffung des sogenannten ex officio Eides dem Star Chamber und der High Commission verboten hatten, die Angeklagten zu einem Geständnis zu zwingen, taten es eben nicht mit Berufung auf das common law sondern das ius commune, nach welchem diese Gerichte (und die Gerichte auf dem Kontinent) zu verfahren hatten.

Auch besteht Unsicherheit hinsichtlich der Reichweite des Schweigerechts. Nach der Rechtsprechung des Supreme Court der USA beschränkt sich das Schweigerecht auf Aussagen bzw. Geständnisse. Der internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien der Vereinten Nationen dagegen ist der Meinung, dass das Schweigerecht neben dem Verbot der Zwangsanwendung für die Erzwingung eines Geständnisses den Behörden untersagt, den Beschuldigten zu einer Schriftprobe zu zwingen. Der EGMR dehnt die Reichweite des Schweigerechts in eine andere Richtung hinaus: laut des Funke Urteils (und den späteren Urteilen, die sich auf Funke berufen) verbietet der nemo tenetur Satz unter gewissen Umständen, dass Verdächtige zur Übergabe von sich in ihrem Besitz befindenden Dokumenten, Urkunden gezwungen werden.

Auch ist das Schweigerecht recht merkwürdig, zumal es einerseits breit anerkannt ist: es ist in dem UNO Pakt über politische und bürgerliche Rechte, in dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofes, ja sogar in den Genfer Konventionen ausdrücklich festgelegt. Andererseits ist die Daseinsberechtigung des Schweigerechts seit seiner Entstehung bis zum heutigen Tage heftig umstritten. Bentham hatte es abgelehnt, weil er der Meinung war, die Unschuld verlange das Recht zu sprechen und die Schuld das Recht zu schweigen. Gemäß der heute herrschenden Meinung in der amerikanischen Literatur fehlt dem Schweigerecht jegliche vernünftige Begründung.

Die ambivalente Haltung des kontinentalen Verfahrensmodells gegenüber dem Schweigerecht ist eindeutig. Zwar wird das Recht anerkannt, doch versucht man im kontinentalen Recht den Beschuldigten zum sprechen zu bringen. Das folgt aus der Logik des Freibeweissystems bzw. der freien Beweiswürdigung. Aber auch im anglo-amerikanischen Modell gibt es Zeichen, die von einem Misstrauen gegenüber dem Schweigerecht zeugen. Als Folge der Gesetzesänderungen, die kurz vor der Jahrtausendwende erfolgten, sind die Richter im Vereinten Königreich heute ermächtigt, aus dem Schweigen Folgerungen zu ziehen, die dem Angeklagten nachteilig sind.

Im Murray Urteil hatte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof diese Regelung nicht beanstandet. Damit hatte der EGMR die klare Aussage gemacht, dass Angeklagte für ihr Schweigen manchmal auch bezahlen müssen. Das gleiche hatte das ungarische Verfassungsgericht in seinem Beschluss über die Ent-

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Schädigung für Freiheitsentzug ausgesagt, wie auch der Supreme Court der USA. Letzterer legte dar, dass auch bei in der Verfassung verankerten Rechten Maßnahmen, welche die Ausübung dieser Rechte erschweren oder zum Verzicht dieser Rechte anregen, nicht notwendig ungültig seien.

Ich möchte betonen, dass in diesen Entscheidungen nicht nur einfach behauptet wird, dass das Schweigerecht kein absolutes Recht ist. Dies erachtet sicherlich niemand als problematisch, denn das gilt für alle Elemente des fairen Verfahrens. Die Konfrontation mit den Zeugen der Anklage kann beschränkt werden im Interesse des Zeugenschutzes. Sogar Aussagen anonymer Zeugen können von den Gerichten bewertet werden. Ähnlich sind bestimmte Beschränkungen des Rechts auf Verteidigung unter gewissen Umständen akzeptabel. Wir würden es jedoch zweifelsohne bei diesen beiden Rechten für unannehmbar halten einerseits diese zu gewähren und andererseits, sollte der Beschuldigte von diesen Rechten tatsächlich Gebrauch machen, ihn dafür einen hohen Preis zahlen zu lassen. Und an Letzterem nimmt niemand auch nur im geringsten Anstoß, sofern der Beschuldigte die Aussage verweigert. Der Grund für die unterschiedliche Beurteilung des Schweigerecht auf der einen Seite und den übrigen Fairnessrechten muss darin liegen, dass das Schweigerecht sich von den anderen Garantien seinem Wesen nach unterscheidet. Aber ist das wirklich der Fall?

Formell gibt es tatsächlich einen Unterschied, zumal alle anderen Fairnessrechte als positive Rechte formuliert sind, die das Handeln des Beschuldigten ermöglichen. Das Schweigerecht hingegen ist als negatives Recht formuliert: es berechtigt den Beschuldigten die Kooperation abzulehnen und verbietet den Behörden jegliche Tätigkeit, die auf die Erzwingung der Kooperation gerichtet ist. Doch dem Wesen nach sind das Schweigerecht und die übrigen Fairnessrechte gleich. Durch all diese Rechte wird die Subjektstellung des Beschuldigten gewährt, wird die Autonomie, die Entscheidungsfreiheit des Beschuldigten anerkannt. Den engen Zusammenhang des Schweigerechts mit den anderen Fairnessrechten zeigt unter anderem, dass es im Grunde genommen die logische Konsequenz der Unschuldsvermutung ist: muss die Schuld durch den Ankläger bewiesen werden, so versteht es sich von selbst, dass der Angeklagte berechtigt ist zu schweigen. Das Schweigerecht kann auch als eine Form der Ausübung des Rechtes auf Verteidigung aufgefasst werden.

Vielleicht liegt dann der Unterschied darin, dass die übrigen Garantien, wie zum Beispiel das Recht auf Verteidigung, der Erforschung der Wahrheit dienen, während durch das Schweigerecht andere Werte anerkannt werden. Das besagte das Oberste Gericht der USA in der Tehan Entscheidung. Mein, durch weitere Entscheidungen desselben Gerichts, d.h. des Supreme Court unterstützter Standpunkt hingegen ist, dass die Fairnessnormen nicht im Allgemeinen der Wahrheitserforschung dienen, sondern zu verhindern versuchen, dass Unschuldige verurteilt werden. Das gilt für das Schweigerecht sowie für das

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Recht auf Verteidigung oder die Konfrontation mit den Zeugen der Anklage. Wigmore glaubte noch, dass das Kreuzverhör das beste juristische Mittel zur Wahrheitsforschung ist. Heute wissen wir bereits, dass das Kreuzverhör auch zur völligen Verzerrung der Wahrheit sehr gut geeignet ist. Nichtsdestotrotz ist die Einrichtung als unbedingte Garantie eines fairen Verfahrens zu betrachten, denn es ist zweifellos geeignet, der Verurteilung Unschuldiger vorzubeugen.

Die unterschiedliche Bewertung und Behandlung des Schweigerechts könnte vielleicht damit begründet werden, dass sie ihre Funktion: die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung Unschuldiger zu verringern - im Vergleich zu den anderen Fairnessnormen - weniger erfolgreich erfüllt. Durch die Beschneidung der Fairnessnormen wird die Effektivität der Strafverfolgung erhöht und von den tatsächlich Schuldigen werden wenigere der Strafe entgehen. Zugleich steigt jedoch die Möglichkeit, dass Unschuldige verurteilt werden.

Nun mag man argumentieren, dass wir im Interesse der effektiveren Strafverfolgung das Schweigerecht "opfern" könnten, denn dieses Recht bietet den Unschuldigen einen geringeren Schutz als die übrigen Fairnessnormen. Das Problem mit diesem Gedankengang ist jedoch, dass durch dessen Beschränkung die "Leistung" des Schweigerechts weiter sinkt, was wiederum eine weitere Beschränkung desselben rechtfertigen würde. Letzten Endes führt diese Logik zur völligen Abschaffung des Schweigerechts und ihrer Ablösung durch die Aussagepflicht. Doch niemand wagt über die Abschaffung des Schweigerechts zu sprechen, nur über die Beschränkung dieses Rechts. Und das mag historische Gründe haben. Mit unserer heutigen moralischen Auffassung wäre die Einführung der Aussagepflicht unvereinbar, wir würden dies als eine Rückkehr zum barbarischen Inquisitionsprozess bewerten. Gleichzeitig sind wir bereit, für die Ausübung des Schweigerechts einen Preis zahlen zu lassen mit der Begründung, dass das Schweigerecht ethisch anders zu beurteilen sei als die übrigen Fairnessnormen.

Die moralische Bewertung des Schweigerechts ist tatsächlich ambivalent. Einerseits ist es zweifelsohne ein notwendiges Nebenprodukt des Parteiverfahrens und dient damit zum Schutze der Angeklagten. Doch dadurch, dass es zum Schweigen anregt, entwertet es die Würde der Angeklagten. Die Angeklagten werden systematisch aus dem Diskurs über die Strafrechtspflege ausgeschlossen, es wird ihnen nicht gewährt, ihr eigenes Narrativ vorzutragen. Die Kritiker des Schweigerechts in Amerika weisen darauf hin, dass die Anregung zum Schweigen mit der im ersten Zusatz verankerten Meinungsfreiheit in Konflikt steht und dadurch undemokratisch ist. Die Meinungsfreiheit garantiert, dass durch den freien Verkehr von Ideen die soziale Wahrheit hervorgerufen wird. Und durch die Anregung zum Schweigen werden gerade die am meisten Betroffenen vom Marktplatz der Ideen ferngehalten.

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Das Schweigerecht steht auch in Konflikt mit der Forderung nach partizipatorischer Demokratie und Selbstverwaltung, die zur Legitimierung der demokratischen Ordnung bestimmt sind. Da die Legitimation der politischen Prozesse ihre Wurzeln in der Möglichkeit der expressiven Teilnahme hat, macht der Umstand, dass Angeklagte sich nicht äussern und es kaum Interessengruppen gibt, die im politischen Prozess in ihrem Namen auftreten würden, die Legitimität des ganzen Strafjustizsystems äußerst fragwürdig. Aber auch auf dem Niveau der Alltagsmoral ist das Schweigerecht problematisch. Die ethische Beurteilung der positiven Fairnessnormen - Recht auf Verteidigung, Befragung der Zeugen der Anklage, usw. - ist eindeutig positiv. Doch moralisch halten wir es nicht für unannehmbar, wenn seine Umgebung über das Individuum ein negatives Werturteil fällt, sollte es sich für das Schweigen entscheiden und damit keine Antwort auf die Anschuldigungen geben.

Recht und Moral stehen einander auch aufgrund der Tatsache gegenüber, dass das Schweigen genau von dem Zeitpunkt an als Recht im Sinne von Berechtigung anerkannt wird, wenn es nach der Alltagsmoral unannehmbar erscheint. Solange der Verdacht durch keine Indizien begründet ist, ist das Schweigen von der Moral her ein adäquates Verhalten. Es ist moralisch zu denken die völlig unbegründete Anschuldigung sei nicht einmal eine Anwort wert. In dem Moment jedoch, wenn der Verdacht mit Indizien unterstützt wird, ist das Schweigen moralisch nicht mehr akzeptabel: die Moral verlangt, dass der Beschuldigte eine Erklärung abgibt, etwas zu seiner Verteidigung vorträgt. Im Recht ist es meistens genau umgekehrt: solange keine Verdachtsgründe bestehen und damit keine Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung, ist das Individuum zur Kooperation verpflichtet, das verlangt die allgemeine Loyalitätspflicht der Bürger dem Staat gegenüber. Doch in dem Moment, wo die von den Behörden gesammelten Informationen den Verdacht einer Straftat begründen, gewährt das Recht der unter Verdacht geratenen Person, auf die Anschuldigung mit Schweigen zu reagieren und verbietet den Behörden diese zum sprechen zu zwingen.

Was ist also die Folgerung der Analyse? Erwiesen ist, dass mit prozessrechtsdogmatischen Argumenten die Beschränkung des Schweigerechts, sprich dem Beschuldigten mit Nachteilen zu drohen, falls er vom Schweigerecht Gebrauch macht, nicht gerechtfertigt werden kann. Anhand der prozessrechtsdogmatischen Analyse ergeben sich nur zwei Folgerungen: Entweder darf die Ausübung des Schweigerechts überhaupt keine Nachteile nach sich ziehen, oder das Schweigerecht muss völlig abgeschafft und mit der Pflicht zu sprechen ersetzt werden. Wenn wir jedoch den prozessrechtsdogmatischen Rahmen verlassen und berücksichtigen, dass die Strafjustiz sich nicht völlig von den ethischen Werten der politischen und sozialen Umgebung, in der sie tätig ist, nicht von der Alltagsmoral loslösen kann, so bekommen wir die Antwort auf die Frage, warum Gesetzgebung und Rechtspraxis sich für eine Lösung entscheiden, von der wir bewiesen hatten, dass sie prozessrechtsdogmatisch nicht zu rechtfertigen ist. ■

Lábjegyzetek:

[1] Lehrstuhl für Strafrecht, Telephonnummer: (36-1) 411-6583, E-mail: bard@ajk.elte.hu

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