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Volker Lipp: Rechtsschutz gegen Untätigkeit des Richters (Annales, 2011., 215-224. o.)

I. Einleitung

"Justice delayed is justice denied", lautet ein altes Sprichwort. Das Gebot einer angemessenen Verfahrensdauer gehört deshalb zum anerkannten Bestand europäischer Verfahrensgrundrechte. Art. 6 Abs. 1 EMRK bestimmt, dass das Gericht "innerhalb einer angemessenen Frist" zu entscheiden hat. Das deutsche Verfassungsrecht kennt eine solche ausdrückliche Gewährleistung nicht. Das BVerfG hat sie jedoch als Bestandteil des Gebots effektiven Rechtsschutzes angesehen, das aus dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip folgt.

Das Recht einer Partei auf eine angemessene Verfahrensdauer ist also allgemein anerkannt und durch Grundgesetz und EMRK garantiert. Die entscheidende Frage lautet jedoch, wie eine Partei ihr Verfahrensgrundrecht im konkreten Fall durchsetzen kann. Denn dieses Recht wird ihr gerade von demjenigen verweigert, der in einem Rechtsstaat dazu berufen ist, Rechtsschutz zu gewähren, nämlich von dem Richter.

In Deutschland gibt es keinen gesetzlichen Rechtsbehelf gegen richterliche Untätigkeit. Ein solcher Rechtsbehelf ist zwar immer wieder gefordert worden, bis heute jedoch kennt ihn das deutsche Verfahrensrecht nicht. Eine Beschwerde setzt wie jeder andere Rechtsbehelf eine gerichtliche Entscheidung voraus. Daran fehlt es, wenn der Richter schlicht untätig bleibt. Daher ist ein Rechtsbehelf gegen die Untätigkeit des Richters nach h.M. unzulässig. Es bleiben die Möglichkeit einer Ablehnung des Richters wegen Befangenheit und die Dienstaufsichtsbeschwerde, die jedoch keinen Einfluss auf den Ablauf des konkreten Verfahrens haben und daher verfahrensfern sind.

Da das Recht auf eine Entscheidung in angemessener Zeit bzw. auf effektiven Rechtsschutz jedoch, ich sagte es bereits, durch GG und EMRK garantiert sind, haben zahlreiche Parteien Verfassungsbeschwerde zum BVerfG eingelegt bzw. sind den Gang zum EGMR nach Straßburg angetreten, um dort die Verletzung ihres Verfahrensgrundrechts zu rügen. Beim EGMR werden die überwiegende Anzahl der Beschwerden zumindest auch auf die überlange Verfahrensdauer gestützt. Angesichts dieser Zahlen hat das BVerfG seit langem betont, dass es Aufgabe der Fachgerichte sei, dem Verstoß eines Gerichts gegen ein Verfahrensgrundrecht einer Partei innerhalb der jeweiligen Gerichtsbarkeit abzuhel-

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fen.[1] In vergleichbarer Weise hat der EGMR die Pflicht der Staaten nach Art. 13 EMRK unterstrichen, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK zu gewähren.

Dementsprechend haben die Gerichte früher unter anderem bei der Untätigkeit eines Richters vielfach eine "außerordentliche", d.h. gesetzlich nicht vorgesehene Beschwerde zugelassen. Sowohl die prinzipielle Berechtigung als auch die Einzelheiten eines solchen Rechtsbehelfs waren und sind jedoch sehr umstritten.[2]

Das BVerfG[3] hat der Praxis der außerordentlichen Rechtsbehelfe im Jahre 2003 zudem deutlich widersprochen: Aus dem Justizgewährungsanspruch der Parteien folge zwar, dass ihnen ein Rechtsbehelf zustehen müsse, wenn das Gericht gegen ein Verfahrensgrundrecht verstoße. Allerdings müsse ein derartiger Rechtsbehelf wegen der rechtsstaatlich gebotenen Rechtsmittelklarheit im Gesetz geregelt und in seinen Voraussetzungen für den Bürger erkennbar sein. Daraus wird vielfach der Schluss gezogen, eine "außerordentliche", d.h. gesetzlich nicht vorgesehene Untätigkeitsbeschwerde sei heute ausgeschlossen.[4] Hier müsse der Gesetzgeber eingreifen.

Vor diesem Hintergrund legte das Bundesjustizministerium 2005 einen Entwurf vor, mit dem die Untätigkeitsbeschwerde für alle Verfahrensarten und Gerichtsbarkeiten eingeführt werden sollte. Der Entwurf wurde jedoch nicht weiter verfolgt.

Im Folgenden möchte ich daher zunächst die Anforderungen an einen solchen Rechtsbehelf aus Verfassung und EMRK darstellen und dann der Frage nachgehen, inwieweit das deutsche Recht diesen Anforderungen bereits heute gerecht wird bzw. gerecht werden kann und inwiefern der Gesetzgeber tätig werden muss.

II. Anforderungen aus Verfassung und EMRK

Das Grundgesetz enthält in Art. 19 IV GG eine ausdrückliche Garantie des Rechtsschutzes gegen Akte der vollziehenden Gewalt.[5] Die allgemeine Garantie eines wirksamen und effektiven Rechtsschutzes, d.h. der Justizgewährungsanspruch folgt dagegen aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 III

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GG.[6] Der Justizgewährungsanspruch sichert den Zugang zu Gericht und fordert ein faires Verfahren.[7]

Effektiv und wirksam ist der Rechtsschutz jedoch nur, wenn der Rechtsstreit in angemessener Zeit entschieden wird und damit endgültig beendet ist.[8] Eröffnung und Abschluss des Rechtswegs sind daher keine Gegensätze, sondern nur zwei verschiedene Aspekte des Gebots des effektiven Rechtsschutzes.[9] Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, den Rechtsweg und den Instanzenzug auszugestalten. Ein Instanzenzug ist von der Verfassung nicht garantiert. Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Entscheidung angefochten und ggf. von einer höheren Instanz überprüft werden kann.[10] Entscheidet er sich dafür, den Zugang zu einem Rechtsbehelf zu eröffnen, muss er dabei wiederum das Gebot des effektiven Rechtsschutzes beachten.[11]

Den Verfahrensgrundrechten kommt in diesem Zusammenhang eine zweifache Bedeutung zu. Sie sind zum einen konstitutiv für das faire Verfahren und enthalten zum anderen ein subjektives grundrechtsgleiches Recht der Partei.[12] In dieser zweiten Funktion richtet sich das Verfahrensgrundrecht an das Gericht, das über den Rechtsstreit entscheidet. Verletzt das Gericht ein solches Verfahrensgrundrecht, ist die Urteilsverfassungsbeschwerde erst eröffnet, wenn der Rechtsweg erschöpft ist (Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 II 1 BVerfGG). Vorrang hat daher die Korrektur solcher Verstöße innerhalb der Fachgerichtsbarkeit, sei es im Wege des Rechtsmittels durch ein höheres Gericht oder in Form einer "Selbstkorrektur" durch das entscheidende Gericht.[13] Das entspricht sowohl der Subsidiariät der Verfassungsbeschwerde als auch dem Gebot effektiven Rechtsschutzes.[14] Die Verfassung vertraut demnach die Abhilfe bei Verstößen eines Gerichts gegen Verfahrensgrundrechte dem Rechtsbehelfssystem der jeweiligen Gerichtsbarkeit an.

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Damit werden die verschiedenen prozessualen Beschränkungen der Anfechtbarkeit einer gerichtlichen Entscheidung bis hin zu ihrer generellen Unanfechtbarkeit verfassungsrechtlich problematisch. Sie sind zwar einerseits hinsichtlich des Ausgangsrechtsstreits im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes rechtsstaatlich geboten,[15] schließen aber andererseits zugleich die Überprüfung und Korrektur eines gerichtlichen Verstoßes gegen ein Verfahrensgrundrecht aus. Der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Justizgewährungsanspruch gewährleistet jedoch auch Rechtsschutz gegen die Verletzung eines Verfahrensgrundrechts durch das entscheidende Gericht. Den Parteien muss daher ein entsprechender Rechtsbehelf zur Verfügung stehen, mit dem sie sich gegen die erstmalige Verletzung eines Verfahrensgrundrechts durch das entscheidende Gericht wenden können.[16]

Für diesen Rechtsbehelf gelten wiederum die bereits dargestellten Grundsätze:[17] Er muss effektiven Rechtsschutz gewähren, d.h. eine wirksame Abhilfe in angemessener Zeit ermöglichen und die mögliche Fehlerhaftigkeit endgültig klären. Die Ausgestaltung obliegt auch hier dem Gesetzgeber. Er kann die Überprüfung entweder im Rahmen des allgemeinen Rechtsmittelsystems oder durch einen besonderen Rechtsbehelf vorsehen, der auch an den iudex a quo gehen kann.[18]

Letzteres wird in der Literatur kritisiert, weil die Selbstkontrolle durch den entscheidenden Richter nur in "Pannenfällen" effektiven Rechtsschutz gewähren könne, nicht aber in allen anderen Fällen. Aus dieser Sicht ist der Rechtsschutz nur effektiv, wenn der Rechtsbehelf wegen einer Verletzung von Verfahrensgrundrechten entweder zu einem höheren Gericht oder jedenfalls zu einem anderen Spruchkörper desselben Gerichts führt.[19] Das mag rechtspolitisch sinnvoll sein, verfassungsrechtlich geht es jedoch ausschließlich darum, ob das Grundgesetz den Gesetzgeber dazu verpflichtet bzw. einen Anspruch der Parteien darauf begründet. Das hat das BVerfG ausdrücklich verneint und als Vorbild für eine gesetzliche Regelung auf die Gehörsrügen der §§ 321a ZPO, 33a, 311a StPO verwiesen, die eine Abhilfe durch den iudex a quo vorsehen.[20] Ein Rechtsbehelf an den iudex a quo ist daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Wie alle Rechtsmittel und Rechtsbehelfe muss auch der Rechtsbehelf gegen eine gerichtliche Verletzung von Verfahrensgrundrechten dem Gebot der Rechtsmittelklarheit genügen. Die Rechtsbehelfe, ihre Voraussetzungen und ihr

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Verfahren müssen in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und für den Bürger erkennbar sein.[21] Verletzungen von Verfahrensgrundrechten sind daher im Rahmen des gesetzlichen Rechtsbehelfssystems zu korrigieren.[22]

Das BVerfG hatte zwar nur über das rechtliche Gehör zu entscheiden, weil sich die Vorlage des 1. Senats darauf beschränkte. Es stellte aber ausdrücklich fest, dass der Justizgewährungsanspruch auch bei der erstmaligen Verletzung anderer Verfahrensgrundrechte durch ein Gericht einen entsprechenden Rechtsschutz gebiete.[23] Auch sachlich spricht alles für eine Gleichbehandlung der Verfahrensgrundrechte.[24]

Hierzu muss man seit der Entscheidung des EGMR vom 8.6.2006 (Sürmeli)[25] auch die Verfahrensgrundrechte der EMRK und hier insbesondere diejenigen des Art. 6 I EMRK[26] zählen. Wie die Verfassungsbeschwerde ist die Beschwerde zum EGMR wegen der Verletzung eines Konventionsgrundrechts gegenüber den innerstaatlichen Rechtsbehelfen subsidiär (Art. 13, 35 I EMRK). Art. 13 EMRK flankiert die Grundrechte der EMRK, indem er eine Beschwerde im innerstaatlichen Recht zu ihrer Durchsetzung garantiert. Lange Zeit hatte diese Garantie jedoch keine eigenständige Bedeutung im Rahmen der EMRK. In der Entscheidung Kudla aus dem Jahre 2000 leitete der EGMR aus Art. 13 EMRK erstmals einen eigenständigen Anspruch auf eine innerstaatliche Beschwerde ab, die der Verletzung des Art. 6 I EMRK durch eine überlange Verfahrensdauer wirksam abhelfen kann.[27] Der EGMR hatte demnach für die EMRK bereits den Anspruch einer Partei auf einen wirksamen prozessualen Rechtsbehelf gegen die Verletzung eines Verfahrensgrundrechts durch das Gericht anerkannt, als das BVerfG im Jahre 2003 diesen Schritt für die Verfahrensgrundrechte des Grundgesetzes vollzog.

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Im Verfahren Sürmeli ging es dann darum, ob das deutsche Verfahrensrecht einen derartigen Rechtsbehelf enthält.[28] Dienstaufsichtsbeschwerde und Verfassungsbeschwerde hielt der EGMR für nicht effektiv, weil sie keine direkte Abhilfe herbeiführten. Die Amtshaftung ersetze nur den Vermögensschaden und bleibe daher hinter den Erfordernissen der EMRK zurück. Die "außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde" habe keine gesetzliche Grundlage. Sie sei umstritten, höchstrichterlich nicht anerkannt und im Übrigen als ungeschriebener Rechtsbehelf angesichts der Plenarentscheidung des BVerfG verfassungsrechtlich problematisch. Daher fehle es im deutschen Recht an dem von Art. 13 EMRK geforderten Rechtsbehelf. Deutschland sei deshalb nach Art. 41 EMRK verpflichtet, einen solchen effektiven Rechtsbehelf zu schaffen.[29] Art. 13 EMRK fordert einen "wirksamen Rechtsbehelf". Das kann nach Auffassung des EGMR entweder ein verfahrensrechtlicher Rechtsbehelf oder ein nachträglicher Ausgleich der Nachteile sein, die der Partei durch die Untätigkeit des Richters entstanden sind.[30] Mittlerweile hat der EGMR diese Auffassung in zwei weiteren Entscheidungen aus den Jahren 2008 und 2009 bekräftigt.[31]

Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass den Parteien eines gerichtlichen Verfahrens sowohl nach dem Grundgesetz als auch nach der EMRK ein prozessualer Rechtsbehelf zustehen muss, wenn das Gericht in diesem Verfahren erstmalig ein Verfahrensgrundrecht verletzt. Dieser Rechtsbehelf muss der Verletzung effektiv abhelfen. Die Abhilfe kann entweder im Rahmen des allgemeinen Rechtsmittelsystems oder durch besondere Rechtsbehelfe erfolgen, die auch an den iudex a quo gerichtet sein können. Wegen der rechtsstaatlich gebotenen Rechtsmittelklarheit müssen die Rechtsbehelfe, ihre Voraussetzungen und ihr Verfahren in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt sein.

III. Untätigkeit des Richters und gesetzliches Rechtsbehelfssystem

1. Grundsatz

Für die Abhilfe bei Verletzungen von Verfahrensgrundrechten ist daher auf die in der jeweiligen Prozessordnung vorhandenen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe zurückzugreifen. Gleichwohl lässt sich die Frage, welche Rechtsbehelfe das gesetzliche Rechtsbehelfssystem bei Verletzung eines Verfahrensgrundrechts durch

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das erkennende Gericht enthalte, nicht durch den bloßen Verweis auf die Vorschriften über die Rechtsmittel beantworten. Denn sowohl der Justizgewährungsanspruch des Grundgesetzes als auch Art. 13 EMRK gebieten, die einschlägigen prozessualen Vorschriften erforderlichenfalls verfassungs- und konventionskonform auszulegen, um den gebotenen Rechtsschutz gegen die Verletzung eines Verfahrensgrundrechts durch das erkennende Gericht zu gewährleisten.[32]

Das Gebot der Rechtsmittelklarheit steht dem nicht entgegen. Es verlangt, dass der Rechtsbehelf gesetzlich geregelt sein muss.[33] Das schließt jedoch nur die Entwicklung neuer Rechtsbehelfe praeter legem aus, nicht jedoch eine verfassungs- bzw. konventionskonforme Interpretation der existierenden Regelungen.

Zunächst ist zu fragen, ob die Entscheidung tatsächlich bindend geworden ist. Falls dies wegen des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot zu verneinen ist, hat das später mit der Sache befasste Gericht die Frage neu zu prüfen. Eine derartige Einschränkung der gesetzlich vorgesehenen Bindung ist beispielsweise bei Entscheidungen über die örtliche Zuständigkeit in anderen Fällen durchaus anerkannt,[34] ebenso für andere Verfahrens- oder Zwischenentscheidungen.[35] Zulässig, ja gefordert ist des Weiteren die Erweiterung vorhandener, gesetzlich ausgeformter Rechtsmittel und Rechtsbehelfe im Wege der extensiven Auslegung oder Analogie.[36] Sie findet ihre Grenze - wie immer - erst dort, wo ihr der klare und ausdrückliche Wille des Gesetzgebers entgegensteht.[37]

Soweit diese Möglichkeiten nicht eingreifen, kommt schließlich die entsprechende Anwendung der in den Verfahrensgesetzen geregelten Anhörungsrüge in Betracht. Mit ihr kann eine Partei die Verletzung ihres rechtlichen Gehörs auch dann noch rügen, wenn die Entscheidung des Gerichts ansonsten unanfechtbar ist. Der Gesetzgeber ließ die Frage nach den Rechtsbehelfen bei der Verletzung anderer Verfahrensgrundrechte bewusst ungereg elt.[38] Für das Grundrecht auf rechtliches Gehör gab er der Abhilfe in derselben Instanz den

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Vorzug vor der Eröffnung eines Rechtsmittels an das übergeordnete Gericht. Er entschied sich darüber hinaus gegen eine Erweiterung der Wiederaufnahme[39] und schuf ein spezielles Verfahren zur Korrektur derartiger Grundrechtsverstöße.[40] Es entspricht daher der Systematik des heutigen Rechtsmittelrechts, wenn die Korrektur bei Verletzungen anderer Verfahrensgrundrechte ebenfalls auf diesem Wege erfolgt. Bei erstmaliger Verletzung anderer Verfahrensgrundrechte ist deshalb der verfassungsrechtliche Justizgewährungsanspruch bzw. Art. 13 EMRK durch eine entsprechende Anwendung dieser Vorschriften zu verwirklichen ("Verfahrensgrundrechtsrüge").[41] Dieser Rechtsbehelf ist Teil des gesetzlichen Rechtsbehelfssystems und entspricht damit den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit.[42]

2. Richterliche Untätigkeit

Für die Frage nach den Rechtsbehelfen gegen die Untätigkeit des Richters ergibt sich daraus Folgendes:

Eine verzögerliche Erledigung des Verfahrens kann mit der Dienstaufsichtsbeschwerde (§ 26 DRiG) gerügt werden[43] oder die Ablehnung des Richters wegen Befangenheit (§ 42 II ZPO)[44] begründen. Sie entsprechen jedoch nicht den Anforderungen von Grundgesetz und EMRK, weil sie dem Grundrechtsverstoß nicht abhelfen.[45]

Die von manchen Gerichten zugelassene "außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde"[46] ist umstritten und stellt deshalb nach Ansicht des EGMR keinen wirksamen Rechtsbehelf i.S.d. Art. 13 EMRK dar.[47] Vor allem aber genügt sie dem verfassungsrechtlichen Gebot der Rechtsmittelklarheit ebenso wenig wie

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andere "außerordentliche" Beschwerden.[48] Ein Grundrechtsverstoß durch richterliche Untätigkeit muss deshalb im Rahmen des gesetzlichen Rechtsbehelfssystems korrigiert werden, dessen Vorschriften dazu entsprechend den Vorgaben des GG und der EMRK auszulegen sind.[49] Dabei ist wie folgt zu differenzieren:[50]

Wird das Recht auf ein Verfahren in angemessener Zeit verletzt, weil das Gericht das Verfahren nicht wie geboten betreibt, kommt die Untätigkeit im Ergebnis einer - fehlerhaften - Aussetzung des Verfahrens (§ 252 ZPO) gleich und kann wie diese mit der Beschwerde angefochten werden.[51] Hiergegen ist demnach die sofortige Beschwerde statthaft, im Übrigen die Rechtsbeschwerde, sofern sie zugelassen ist.[52] Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist die (faktische) Aussetzung des Verfahrens. Die Befugnis des Beschwerdegerichts ist deshalb darauf beschränkt, einen Fortgang des Verfahrens anzuordnen; eine Sachentscheidung ist ihm verwehrt.[53]

Wird dagegen der Partei aufgrund der Verfahrensdauer das Recht verweigert, das Gegenstand des Verfahrens bildet, stellt die Untätigkeit im Ergebnis eine Sachentscheidung gegen die betreffende Partei dar und kann mit den für die Endentscheidung vorgesehenen Rechtsmitteln angefochten werden.[54] Damit fällt der Verfahrensgegenstand beim Rechtsmittelgericht an, das nach Maßgabe des jeweiligen Rechtsmittelrechts auch die Kompetenz hat, eine Sachentscheidung zu treffen.[55] Das ist insbesondere in kindschaftsrechtlichen Verfahren von Bedeutung, weil sich hier die Rechtsposition des Beteiligten häufig bereits durch bloßen Zeitablauf verschlechtert.

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Man darf daher die richterliche Untätigkeit nicht als eine einheitliche Erscheinung ansehen, sondern muss anhand der Folgen dieser Untätigkeit differenzieren und zwischen der reinen Verzögerung einerseits ("faktische Aussetzung") und der Verzögerung, die einer Sachentscheidung gegen die Partei gleichkommt ("faktische Sachentscheidung"), unterscheiden.[56] Dementsprechend muss man auch hinsichtlich des Rechtsbehelfs gegen die Untätigkeit differenzieren. "Die Untätigkeitsbeschwerde" als einheitlichen Rechtsbehelf gibt es daher nicht.

In beiden Fällen kann die Untätigkeit allerdings nur dann zu einem Rechtsbehelf führen, wenn die Aussetzung bzw. die Endentscheidung des Gerichts ihrerseits einem Rechtsbehelf unterliegt.[57] Soweit Aussetzung bzw. Endentscheidung unanfechtbar sind, bleibt de lege lata[58] in beiden Fällen nur die Grundrechtsrüge entsprechend den Vorschriften über die Anhörungs-rüge.[59] Da es an einer Entscheidung fehlt, wird die jeweils dafür vorgesehene Rechtsbehelfsfrist nicht in Gang gesetzt.[60] ■

ANMERKUNGEN

[1] Vgl. nur BVerfGE 55, 1, 5; BVerfGE 63, 77, 79; BVerfGE 73, 322, 327 ff.

[2] Überblick bei MünchKommZPOAAW, 3. Aufl. 2007, § 567 ZPO Rn. 14 ff.; Schwarze, ZZP 115 (2002), 25 ff.

[3] BVerfGE 107, 395, 407 ff., 416 f.

[4] BAG, AP Nr. 1 zu § 78a ArbGG = BAGE 115, 330 (außerordentliche Beschwerde); Düwell/Lipke/Treber, ArbGG, 2. Aufl. 2005, § 78 ArbGG Rn. 62 f.

[5] BVerfGE 107, 395, 403 ff.; Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, Kommentar zum Grundgesetz (Stand November 2006), Art. 19 IV GG Rn. 45 ff.

[6] BVerfGE 93, 99, 107; BVerfGE 107, 395, 406 f.; Maunz/Dürig/Grzeszick (Fn. 5), Art. 20 GG VII. Rn. 132 f.

[7] BVerfGE 107, 395, 401; BVerfGE 70, 297, 308; Maunz/Dürig/Grzeszick (Fn. 5), Art. 20 GG VII. Rn. 135.

[8] BVerfGE 107, 395, 401 f.; Maunz/Dürig/Grzeszick (Fn. 5), Art. 20 GG VII. Rn. 139; vgl. auch BVerfGE 88, 118, 123 f.; BVerfGE 60, 253, 269; BVerfGE 55, 349, 369; und schon BVerfGE 1, 433, 437.

[9] BVerfGE 88, 118, 123 f.

[10] BVerfGE 107, 395, 402 f., 408; BVerfGE 54, 277, 291; v. Mangoldt/Klein/Starck/Huber, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 19 GG Rn. 471.

[11] BVerfGE 107, 395, 405; BVerfGE 96, 29, 39; v. Mangoldt/Klein/Starck/Huber (Fn. 10), Art. 19 GG Rn. 453, 471; Dreier/Schultze-Fielitz, Grundgesetz-Kommentar, 2. Aufl. 2004, Art. 19 GG Rn. 94 f. Dasselbe gilt für die Garantien des Art. 6 I EMRK, vgl. EGMR, NJW 2001, 2694, 2697 (Kudla) m.w.N.

[12] BVerfGE 107, 395, 407 (allgemein), 408 (rechtliches Gehör).

[13] BVerfGE 55, 1, 5; BVerfGE 63, 77, 79; BVerfGE 73, 322, 327 ff.; Arens, Anhörungsrüge und Gegenvorstellung, 1987, S. 30 f.

[14] BVerfGE 107, 395, 410, 413 ff.

[15] Oben im Text bei Fn. 8.

[16] BVerfGE 107, 395, 407 ff.

[17] BVerfGE 107, 395, 411 ff.; vgl. auch Voßkuhle, NJW 2003, 2193, 2197.

[18] BVerfGE 107, 395, 411 f.

[19] So z.B. Voßkuhle, NJW 2003, 2193, 2196 f.; Vollkommer, NJW-Sonderheft Bay-ObLG 2005, S. 68 f.; Ders., FestschriftBeys, 2003, S. 1697, 1711 f.

[20] BVerfGE 107, 395, 412, 416.

[21] BVerfGE 107, 395, 416 f.; VOßKUHLE, NJW 2003, 2193, 2198.

[22] Zöller/Heßler ZPO, 28. Aufl. 2010, § 567 ZPO Rn. 25; Voßkuhle, NJW 2003, 2193, 2198 ff.

[23] BVerfGE 107, 395, 407 f. = NJW 2003, 1924; vgl. auch BVerfG (1. Kammer des 1. Senats), NJW 2004, 1371.

[24] Vgl. dazu BVerfG (3. Kammer des 1. Senats), NJW 2005, 3059 f.; HessStGH, NJW 2005, 2217, 2218 und NJW 2005, 2219, 2220; sowie Voßkuhle, NJW 2003, 2193, 2197; Kroppenberg, ZZP 116 (2003) 421, 434 f.; Scheuch/Lindner, ZIP2004, 973, 976; Bloching/Kettinger, NJW 2005, 860, 862; GEHB, DÖV 2005, 683, 685; Treber, NJW 2005, 97, 100; und schon S. Pawlowski, Zum außerordentlichen Rechtsschutz gegen Urteile und Beschlüsse bei Verletzung des Rechts auf Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG durch die Zivilgerichtsbarkeit, 1994, S. 177; H.-M. Pawlowski, Festschrift E. Schneider, 1997, S. 39, 44 ff., 60 ff.

[25] EGMR, NJW 2006, 2389 (Sürmeli); vgl. schon EGMR, NJW2001, 2694 (Kudla).

[26] Auf Art. 6 I EMRK hatte schon das BVerfG in seinem Plenarbeschluss ergänzend hingewiesen, vgl. BVerfGE 107, 395, 408 f.

[27] EGMR, NJW 2001, 2694, 2698 ff. (Kudla).

[28] Zum Nachfolgenden EGMR, NJW 2006, 2389, 2391 ff. (Sürmeli).

[29] Zum Referentenentwurf eines Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Rechts auf ein zügiges gerichtliches Verfahren (Untätigkeitsbeschwerdengesetz) vom 22.8.2005 vgl. Kroppenberg, ZZP119 (2006), 177, 189 ff.; Jakob, ZZP119 (2006), 303, 327 ff.

[30] EGMR, 11.09.2002, 57220/00, Slg. 2002-VIII Nr. 17, Mifsud ./. Frankreich.

[31] EGMR, StV 2009, 561, 562 (K. und T. ./. Deutschland); EGMR, FamRZ 2009, 105 (B. ./. Deutschland).

[32] Für den Justizgewährungsanspruch des GG ebenso Vollkommer, NJW-Sonderheft (Fn. 19), S. 64, 69; zum Gebot der verfassungskonformen Interpretation und Rechtsanwendung vgl. Starck in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 10), Art. 1 GG Rn. 326 ff.; Dreier/Dreier (Fn. 11), Art. 1 III GG Rn. 84 f.; zum Gebot der konventionskonformen Interpretation und Anwendung vgl. Giegerich in: Grothe/Maraun, Konkordanzkommentar EMRK/GG, 2006, Kap. 2 Rn. 19 ff., 45.

[33] BVerfGE 107, 395, 416 f.

[34] Etwa bei § 281 ZPO, vgl. dazu MünchKommZPO/Prütting (Fn. 2), § 281 ZPO Rn. 57.

[35] Germelmann, Festschrift Schwerdtner, 2003, S. 671, 674 ff.

[36] BGHZ 151, 221, 226 f.; Voßkuhle, NJW 2003, 2193, 2199; Volkommer, NJW-Sonderheft (Fn. 19), S. 69 f.

[37] BVerfGE 18, 97, 111; Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 10), Art. 1 GG Rn. 328 f.; Dreier/Dreier (Fn. 11), Art. 1 III GG Rn. 84.

[38] BR-Drucks. 663/04, S. 33.

[39] Dafür mit beachtlichen Gründen Braun, JR 2005, 1, 5 f.

[40] BT-Drucks. 15/3706, S. 16 f., 21 f. (Anhörungsrügengesetz); vgl. auch BT-Drucks. 14/4722, S. 85 (zu § 321a ZPO aF).

[41] BGHZ 150, 133; BGH, NJW 2004, 2529; OLG Köln, FamRZ 2005, 2075 f. (jeweils zu § 321a ZPO aF); MünchKomm ZPO/LIPP (Fn. 2), Vor § 567 ZPO Rn. 16, § 567 ZPO Rn. 23 f.; Zöller/Vollkommer (Fn. 22), § 321a ZPO Rn. 3; Thomas/Putzo/Reichold ZPO, 30. Aufl. 2009, § 321a ZPO Rn. 18; Wieczorek/Schütze/Peters/Jänich ZPO, 3. Aufl. 2005, Vor § 567 ZPO Rn. 63, 80; Seidel, Außerordentliche Rechtsbehelfe, 2004, S. 186 ff., 202 ff.; Scheuch/Lindner, ZIP 2004, 973, 979; Müller, NJW 2002, 2743, 2747; LIPP, NJW 2002, 1700, 1702.

[42] Anders (für § 321a ZPO) Gaul, DGVZ 2005, 113, 116 f.

[43] Musielak/Ball ZPO, 7. Aufl. 2009, § 567 ZPO Rn. 14 m.w.N.

[44] Musielak/Heinrich (Fn. 43), § 42 Rn. 11 m.w.N.

[45] EGMR, NJW 2006, 2389, 2392 (Sürmeli); KG, NJW-RR 2005, 374; Zöller/Heßler (Fn. 22), § 567 ZPO Rn. 21.

[46] Kroppenberg, ZZP119 (2006), 177, 183 ff.; Jakob, ZZP119 (2006), 303, 310 ff.

[47] EGMR, NJW 2006, 2389, 2392 (Sürmeli).

[48] OLG München, OLGR 2007, 149.

[49] BSG, SGb 2006, 553, 556 = NZS 2006, 560; Meyer-Ladewig, SGb 2006, 559 ff.; Peters, Festschrift Schütze, 1999, S. 661, 664 ff.; grds. ebenso Jakob, ZZP 119 (2006), 303, 313 ff., der aber eine - mit dem Gebot der Rechtsmittelklarheit nicht vereinbare - außerordentliche Beschwerde sui generis annimmt.

[50] Vgl. MünchKomm ZPO/Lipp (Fn. 2), § 567 ZPO Rn. 25; Jakob, ZZP 119 (2006), 303, 320 ff.; Wieczorek/Schütze/Jänich (Fn. 41), § 567 ZPO Rn. 15; zum verfassungsrechtlichen Hintergrund vgl. BVerfG, NJW1997, 2811, 2812; BVerfG, NJW2001, 961 f.; BVerfG, NJW 2004, 835, 836.

[51] KG, ZIP 2004, 479; OLG, Köln NJW-RR 1999, 290 f.; vgl. auch OLG Hamburg, NJW-RR 1989, 1022; OLG, Saarbrücken NJW-RR 1998, 1531, 1532; Wieczorek/Schütze/Jänich (Fn. 41), § 567 ZPO Rn. 15; Musielak/Stadler (Fn. 43), § 252 ZPO Rn. 2.

[52] Vgl. Stein/Jonas/Roth, ZPO, Bd. 3, 22. Aufl. 2005, § 252 ZPO Rn. 7.

[53] BVerfG, NJW 2005, 2685, 2687; BVerfG, NJW 2005, 1105, 1106; OLG Frankfurt, NJOZ 2006, 3646; OLG Saarbrücken, NJW-RR 1999, 1290 f.; OLG Saarbrücken, NJW-RR 1998, 1531, 1532; OLG Hamburg, NJW-RR 1989, 1022, 1023; Zöller/HEßLER (Fn. 22), § 567 ZPO Rn. 21a.

[54] KG, NJW-RR 2005, 374, OLG Naumburg, FGPrax 2005, 26; OLG Karlsruhe, FamRZ 2004, 53, 54; OLG Jena, FamRZ 2003, 1673, 1674; OLG Zweibrücken, NJW-RR 2003, 1653, 1654; Peters (Fn. 49), S. 661, 667 f.; Wieczorek/Schütze/ Jänich (Fn. 41), § 567 ZPO Rn. 15; Zöller/Philippi (Fn. 22), § 127 ZPO Rn. 11.

[55] OLG Naumburg, FGPrax 2005, 26; OLG Jena, FamRZ 2003, 1673, 1674; OLG Zweibrücken, NJW-RR 2003, 1653, 1654; unklar Jakob, ZZP 119 (2006), 303, 324 f. (in Notfällen Sachentscheidung).

[56] So zB von OLG Karlsruhe, FamRZ 2004, 53, 54; vgl. auch BVerfG, NJW 2005, 2685, 2687; BVerfG, NJW 2005, 1105, 1106; Zöller/Heßler (Fn. 22), § 567 ZPO Rn. 21, 21a; Thomas/Putzo/Reichold (Fn. 41), § 567 ZPO Rn. 10.

[57] OLG Naumburg, FamRZ 2006, 1286; vgl. auch BVerfG, NJW 2005, 1105, 1106; Jakob, ZZP 119 (2006), 303, 324.

[58] Zum Referentenentwurf für ein Untätigkeitsbeschwerdengesetz siehe oben Fn. 29.

[59] Ebenso für den Verwaltungsprozess Schenke, NVwZ 2005, 732, 737 f.; aM Jakob, ZZP 119 (2006), 303, 326 ("außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde").

[60] OLG Jena, FamRZ 2003, 1673, 1674; OLG Zweibrücken, NJW-RR 2003, 1653, 1654; MünchKomm ZPO/Lipp (Fn. 2), § 569 ZPO Rn. 5. Die Fristlosigkeit ergibt sich aus dem gesetzlichen Rechtsmittelrecht und zwingt entgegen Jakob, ZZP 119 (2006), 303, 316 f., nicht zur Entwicklung eines außerordentlichen Rechtsbehelfs sui generis.

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