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Paolo Becchi: Cyberspace und Demokratie - Wie das Netz Welt und Politik verändert (Annales, 2014., 393-409. o.)

Das Verhältnis zwischen Politik und Kommunikationsmitteln fristet in politischen und juristischen Theorien bisher ein Schattendasein. Weil sich gängige Theorien vor allem auf die Inhalte politischer Konzepte und Ideen hin ausrichteten, mochte das mediale Verhältnis dabei als nebensächlich erscheinen. Dass die Nutzung bestimmter Kommunikationskanäle für die Politik tatsächlich aber von zentraler Bedeutung ist, belegen schon historische Beispiele: So den geschriebenen Text, zuerst für die die Kanonisierung der christlichen Glaubensquellen, danach für die Kodifikation des Römischen Rechts durch Theodosius II. und Justinian. Beide Vorgänge bewirkten das Wiedererstarken der kaiserlichen Macht. Oder dann die Druckpresse: Ohne Gutenberg wären heute allgemein anerkannte Grundrechte wie die Meinungs- und Pressefreiheit wohl kaum wirksam umzusetzen gewesen.

Das Aufkommen der digitalen Technologie, vor allem des Internets, wird gerne mit der revolutionären Entdeckung des Buchdrucks verglichen. Damals wie heute ist ein völlig neues und einzigartiges Kommunikationsmittel entstanden. Das Internet unterscheidet sich aber von den herkömmlichen Kommunikationsmitteln, weil es in unglaublich kurzer Zeit zum weltweit verbreitetsten Massenkommunikationsmittel der Geschichte wurde. Ein neuer, unbegrenzter Raum ist entstanden, den man in Anlehnung an William Gibson mit einem Begriff aus der Science-Fiction "Cyberspace" taufte.

Zum ersten Mal wird ein von Martin Heidegger in Sein und Zeit (§ 24) formulierter Gedanke wahr: es ist nicht die Welt, die im Raum ist, sondern der Raum, der "in" der Welt ist. Aber es ist ein anderer Raum als der eines noch "umwelträumlichen" Daseins, weil er nunmehr von einem räumlichen "da" losgelöst ist. Er ist "ausser uns", wie Michel Serres sagte.[1] Ein lichter Raum, der den ganzen Planeten umhüllt und keinen Herrscher

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hat. Auch wenn man darin "surft", tut man es anders als im Meer: Die neue Freiheit des Internets übersteigt jene "Freiheit der Meere", die Carl Schmitt in Land und Meer dem "Nomos der Erde" gegenüberstellte.[2] Jetzt wird die Luft zum Träger der neuen Wissensgesellschaft, die an die Stelle der Industriegesellschaft getreten ist. Fasst man die Weltgeschichte als Reise durch die vier Elemente auf, wären wir nun bei der Luft angelangt, nachdem wir das Festland verlassen und das offene Meer bezwungen haben.

Der Cyberspace ist zunächst ein virtueller Raum, dessen Bewohner nichts anderes wünschen, als in Frieden gelassen zu werden, wie John Perry Barlow schrieb.[3] Die Regierungen der Industriegesellschaft, "träge Giganten aus Fleisch und Stahl", bekommen vom Internet als dem neuen Sitz des Geistes zu hören: "Ihr seid bei uns nicht willkommen. Ihr habt keinen Einfluss an den Orten, wo wir uns treffen". Es gibt keine Regierung für das Netz und man will auch keine. Es ist ein Raum, der zugleich überall und nirgendwo ist. Wer ihn betritt, kann seine Meinungen frei äussern. In diesem virtuellen Raum gelten die traditionellen Regeln, welche im realen Raum gelten, nicht mehr - weder die wirtschaftlichen noch die rechtlichen. David Clark beschrieb ihn zutreffend: "We reject: kings, presidents and votings. We believe in: rough consensus and running code" (Wir lehnen ab: Könige, Präsidenten und Wahlen. Wir glauben an: "Rough Consensus and Running Code").[4] Der Cyberspace erscheint gleichsam als neue anarchistische Utopie, in der wir uns zumindest im Netz von den Regeln der Marktwirtschaft und des Staates lösen könnten.

Letzterer ist eigentlich schon nach Hegel überflüssig geworden, jedoch nicht durch die marxistische Kritik, sondern durch die Grossräume, von denen Carl Schmitt sprach.[5] Aber mit dem Internet sind auch diese Grossräume klein geworden. An ihre Stelle müsste ein neuer Nomos treten - nicht einer des realen, sondern einer des virtuellen Raumes. Das Netz umgibt so viele Gebiete, dass es in der Tat allgegenwärtig geworden ist.

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Das Internet greift die Marktwirtschaft auch mit ihrer gift economy an. Diese könnte durch freien und kostenlosen Zugang zum Wissen, "kollektive Intelligenz" sowie Abschaffung des geistigen Eigentums ein auf nicht-monetären Werten gründendes Wirtschaftssystem schaffen. Internet übersteigt die Möglichkeiten der Marktwirtschaft, indem es für andere Werte wie das Geschenk und die Glücksökonomie empfänglich ist. Beispielsweise wird eine Software von Programmierern geschaffen. Sie übersetzen logische Befehle (den so genannten Quellcode) in eine codierte Sprache (den Objektcode), die der Computer verarbeiten kann. Beim Vertrieb der Software kann der Hersteller entscheiden, ob er den Quellcode freigeben will oder nicht. Tut er es, spricht man von "open source" bzw. "free Software". Deren Benutzer kann das Programm nach Belieben abändern und verbessern und der so geschaffene Mehrwert wird wiederum ein öffentliches Gut. Offensichtlich setzt diese "free Software" - im Gegensatz zur kommerziellen - einen freien und kostenlosen Wissenszugang voraus und ist im Prinzip von marktwirtschaftlichen Fesseln befreit. Wie zuerst Erich Steven Raymond[6] und Richard Stallman[7] bemerkten, hat eine freie, offene und bearbeitbare Software keinen Urheber. Niemand hat die Kontrolle über ihre Weiterentwicklung. Bei einer Software mit Eigentümer "verlieren die Benutzer die Freiheit, über einen Teil ihres Lebens zu verfügen".[8] Wenn der Code nicht einem Einzelnen, sondern seinen Usern gehört, hat er eigentlich keinen Eigentümer, und seine Weiterentwicklung hängt vom Willen der Benutzer ab. Man könnte etwas überspitzt sagen, dass das Copyright durch die Creative Commons ersetzt wird.[9] Wie Ideen zirkulieren und verwendet werden, wird nicht mehr gelenkt. Der Wille aller Benutzer stellt sich der Vorstellung eines zentralen Urhebers entgegen, der für alle anderen über die Entwicklung des network entscheiden sollte. Im Netz gibt es kein Zentrum, sondern nur Knoten. Im Netz gibt es keine Leaders, die im Voraus über seine Weiterentwicklung entscheiden würden, und die Leitungsfunktion erfolgt - in der Sprache der Informatiker - end to end.

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Im Netz zählt jeder gleich. Aber aus der Vernetzung der Kommunikationsteilnehmer erwächst, wie Pierre Lévy zutreffend ausdrückte, eine "kollektive Intelligenz", die das Wissen jedes Einzelnen übersteigt und eine unbegrenzte Macht besitzt.[10] Das Netz führt so zu einer Erweiterung unseres Wissens und unserer Fähigkeiten, so dass die ganze Gesellschaft zur "Wissensgesellschaft" wird, wie Marc Luyckx Ghisi prophezeit.[11] Mit Wikipedia und den Suchmaschinen hat die Wissensteilung eine Beschleunigung erfahren, die im Zeitalter des gedruckten Wortes noch nicht denkbar gewesen wäre. In der Wissensgesellschaft ist das "Produktionsmittel" nicht mehr die Maschine, sondern der menschliche Geist, der sein Wissen im Netz zur Verfügung stellt. Das on-line-Zeitalter generierte den neuen Begriff des electronic speech - der elektronischen Sprache, deren wir uns in E-Mails, Newsletters, Files oder bei Publikationen in Websites, Blogs und E-books bedienen.

Darauf ist näher einzugehen: Was haben E-books und Blogs gemeinsam? Nicht etwa nur dieselbe digitale Technologie, sondern auch dass sie jegliche Intermediation zwischen Autor und Leser aufgehoben haben. Wir treten in das "Zeitalter der Disintermediation" ein. Dieser Begriff geht auf ein 1983 erschienenes Buch von Paul Hawkins, The Next Economy, zurück.[12] Er zeigte darin erstmals auf, dass die neuen digitalen Medien nicht mehr auf herkömmliche Verkaufskanäle von Gütern und Dienstleistungen angewiesen sein werden. Das E-book bedarf so wenig der Vermittlung durch einen Verlag wie der Blog derjenigen eines Chefredakteurs, der die zu publizierenden Nachrichten auswählte. Die Publikation eines Posts in einem Blog wird in der Regel von niemandem kontrolliert und unterliegt keiner Zensur oder Beschränkung. Wer einen Post liest, kann seinerseits in die Diskussion eintreten oder neue Diskussionen anregen, aus denen wiederum neue Posts erwachsen. Die Blogs schaffen so einen virtuellen öffentlichen Raum, der jedermann offensteht und in dem alle frei diskutieren können: Sie regen den politischen Diskurs an, ohne dass wir uns an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit

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versammeln müssen. So bieten sie eine Plattform an, wo Meinungsfreiheit und politische Einflussnahme nicht wie in Presse und Fernsehen eingeschränkt oder vorgeformt sind. Für Lawrence Lessig ist unsere repräsentative Demokratie "verkümmert".[13] Aber gerade dank neuer IT-Kommunikationsmittel wie dem Blog wird die politische Einflussnahme wiederbelebt, indem die dafür benötigten Mittel wieder in die Hände der Bürger gelangen. Die alten Medien (Zeitungen, Radio und zuletzt vor allem das Fernsehen) waren von einem vertikalen, nur in eine Richtung laufenden Nachrichtenfluss geprägt, wo nach Michel Serres "wenige senden und viele empfangen".[14] Demgegenüber zeichnet sich das Netz durch einen horizontalen, pluridirektionalen Informationsfluss aus. Ein Medium mit wenigen Sendern und vielen Empfängern kann zum Objekt der Übernahme durch die Wenigen werden. Senden und empfangen dagegen viele, nimmt diese Gefahr ab. Die alten Medien verbreiten zwar Informationen, aber sie tun dies im Massenbetrieb. Auch dies ändert sich, wie Nicholas Negroponte aufzeigte, indem wir mit dem Internet zu einer individualisierten Information übergehen.[15] Jeder erhält aus dem Web, diesem digitalen multimedialen Reservoir, was ihm nützt, und jeder trägt nach Belieben zu dessen Weiterentwicklung bei. Filterfunktionen werden die Nachrichten weiter personalisieren. Heute liest jeder Einzelne Zeitungen, die für alle geschrieben sind. Morgen wird er im Internet die auf ihn "zugeschnittene" Zeitung finden. Das nennt man networked individualism.

Das Netz ist daran, unsere Lebensweise und damit die ganze Gesellschaft zu verändern. Und es wird dies weiterhin tun. Aus einem Netz von Personen wird ein Netz von Dingen, die ihrerseits "aktiv" werden - ähnlich wie in Objecto Quase von José Saramago.[16] Doch im Internet wird die Fantasie zur Realität. Blutdruckpille vergessen? Die Medikamentenpackung wird uns ein Signal geben. Warum sollte man immer zur gleichen Zeit aufstehen? Der Wecker wird je nach morgendlichem Verkehrsaufkommen früher oder später klingeln und wenn nötig auch ein Taxi rufen. Wird der Saucenfleck auf dem Abendkleid ausgehen? Die Waschmaschine wird

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es wissen. Dieses "everywhere Computing" erwartet uns. Man könnte vielleicht noch einmal in Anlehnung an Heidegger sagen, dass die Zeit des Weltbildes abgelaufen ist. Diese Epoche ist von der "Vorstellung" der gegebenen Realität geprägt. Im "digitalen" Zeitalter ist nicht mehr das passiv sehende Auge entscheidend, sondern der berührende Finger. Das Fernsehen ist das schlechthin optische medium, der PC mit seiner Maus das taktile. Beim Tablet wird der Finger gleich selbst zur Mouse, und mit dem eye tracking wird es sogar das Auge: Ein gleichsam taktiles Auge tritt an die Stelle des optischen. Bald wird das Auge mit einem fokussierenden Blick durch ein Google Glass mit objektbezogenen Informationen bedient und kann sogar direkt fotografieren. Brillen werden zu leistungsfähigen Computern, und ähnliches wird durch "wearable computing" mit Uhren und anderen portablen Hightech-Geräten passieren. Nicht mehr die gegebene Realität wird real sein, sondern die "gesteigerte Realität", zuletzt mit dem "everywhere computing". Das Fernsehen war ein Spiegel der Realität. Oder, wie McLuhan sagte, ein Spiegel, in dem man sich spiegeln konnte. Das Internet öffnet das Tor zu einer neuen Welt, die zugleich virtuell und real ist. Das Virtuelle wird zum Realen und umgekehrt. Beide vermischen sich und gehen ineinander über.

Das Ende eines Weltbildes ist auch das Ende der grossen Erzählungen, nämlich der politischen Ideologien, die sich im letzten Jahrhundert gegenüberstanden. Links und rechts, liberal und sozialistisch, konservativ und progressiv sind zu überholten Kategorien geworden, zu archäologischen Relikten. Wie die Parteien, die sich immer noch zu ihnen bekennen. Sie gleichen Kahlköpfigen, die sich um einen Kamm streiten. Bestes Beispiel hierfür ist Italien: Die beiden Parteien, die sich auf diese Traditionen berufen (Partito Democratico und Forza Italia), sind zu einer Kaste geworden, die dem einzigen Zweck der Selbsterhaltung dient. Ihr Erhalt kostet den Staat Unsummen, bringt aber keinerlei Nutzen für die Bürger. Schwierig zu sagen, wie lange dieser Zustand noch anhalten mag. Die Italiener wollen nur das, was die Bürger aller anderen technologisch entwickelten Länder wollen: Eine wettbewerbsfähige Wirtschaft, effiziente Verkehrsmittel, gute Schulbildung, öffentliches Gesundheitswesen sowie freien elektronischen Zugang zu sämtlichen staatlichen Einrichtungen. Statt bürokratischer Ineffizienz volle Transparenz, angefangen bei denjenigen, die uns zu vertreten vorgeben. Heute zählt für den Bürger

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vor allem eine effiziente staatliche Verwaltung. Ob nun die Regierung "rechts" oder "links" ist, interessiert niemanden mehr (ausser vielleicht einzelne Polit-Nostalgiker). Davon abgesehen regieren "Rechte" und "Linke" heutzutage oft zusammen. In Deutschland musste die CDU trotz eines beachtlichen Wahlsieges eine grosse Koalition mit der SPD eingehen. Und in Italien beruht entgegen allem Anschein die aktuelle Regierung auf einem Einvernehmen zwischen dem "Partito Democratico" und "Forza Italia". Wenn sie sich abwechseln, führen linke Regierungen nicht selten rechte Programme weiter und umgekehrt. Das ist kein unpolitischer "Qualunquismo", wie man in Italien sagt. Vielmehr der Abschied von einem politischen System, in dem Wenige (die gewählten Volksvertreter) über Viele (die Wähler) entscheiden und in dem sich die Demokratie auf den Wahltag beschränkt. Das alte politische System ist am Zusammenbrechen, aber wir wissen noch nicht, was es ablösen wird - das ist das Problem.

Was hat die gegenwärtige Krise und Epoche der Unsicherheit verursacht? Man sollte wohl nicht so weit gehen wie Levy, der im Internet den Grund sieht. Aber ohne Zweifel trägt es wesentlich zum aktuellen Umbruch bei. Das erste Beispiel dafür liegt ein wenig zurück, aber vielleicht hat doch alles damit begonnen: Die breite Mobilisierung gegen die World Trade Organization (WTO) 1999 in Seattle. Sie wäre zwar ohne Vorbereitung im virtuellen Raum über People 's Global Action unmöglich gewesen, aber ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gelangte "Seattle" erst, als es vom virtuellen in den realen Raum übertrat. Die neuen Technologien allein genügen eben nicht: Das Virtuelle muss real werden. Politbewegungen, die nur im Internet präsent wären, müsste man videogames schelten. Gleiches lässt sich zum italienischen «Movimento 5 Stelle» (M5S) sagen: Der einzigen im Internet entstandenen politischen Bewegung, die Meetups veranstaltet und deren Informationsorgan ein Blog ist - einer der bedeutendsten weltweit. Um jenen Grosserfolg bei den letzten Wahlen im Februar 2013 zu erzielen, war die "Tsunami tour" unerlässlich gewesen: Eine Wahlkampagne, in der sich der virtuelle und der reale Raum begegneten und deren Schlussveranstaltung fast eine Million Menschen auf der römischen Piazza San Giovanni zusammenbrachte. Nachdem die Bürger vom öffentlichen Raum - dem traditioneller Ort politischer Kommunikation - vor die heimischen Fernseher gelockt worden sind,

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füllen sich die Plätze dank des Internets nun wieder. Der virtuelle und reale Raum beeinflussen sich gegenseitig.

Das "Modell 5S" macht derweilen Schule: Julian Assange plante mit seiner "WikiLeaks Party" eine Teilnahme an den letzten australischen Wahlen. An seiner Seite stand John Shipton, der neulich erklärte, sich beim Aufbau der neuen politischen Kraft an das M5S angelehnt zu haben. In Griechenland gründete Theodoros Katsenava vor kurzem die ebenfalls vom M5S inspirierte Bewegung "Drachme". Die IT scheint wie dafür gemacht, jene horizontale, informelle und dezentrale Kommunikation zu ermöglichen, die auf Selbstorganisation und Entscheidungskraft beruht und Bewegungen wie die Indignados in Spanien, die Bewegung gegen die Hochgeschwindigkeitsstrecke im Susatal, Occupy Wall Street oder die Piraten in Deutschland und Schweden auszeichnet. Länderübergreifende Massenmobilisierungen wie der Arabische Frühling wären in der Zeit vor Facebook und Twitter kaum möglich gewesen.

Die Parteien denken für und anstelle der Bürger. Daraus resultierte die Trägheit und Abgehobenheit der Politik. Wollen wir dies ändern, gibt es ein einziges Mittel: Die Politik wieder in die Händer der Bürger zu legen, indem man sie vom Einfluss der Parteien befreit. Die neuen Mittel des Internets machen dies heute möglich. In den virtuellen Politarenen wird schon jetzt debattiert, ohne blind den Haltungen dieser oder jener Partei zu folgen. Es entsteht eine neue Demokratie ohne Parteien - und eine neue Politik des Dialogs und des Diskurses, anstelle der bekannten politischen Konflikt- und Selbstbezogenheit. Die "Politik der Muskeln" der Parteien wird durch die "molekulare Politik" der Politbewegungen abgelöst. Wir brauchen keine "bessere" Politik, aber vielleicht etwas Besseres als Politik in der heutigen Form.

Was haben diese so verschiedenen Protestbewegungen gemeinsam? Es ist ihre Kritik an der "Gesellschaft des Spektakels", wie sie Guy Debord schon in den 60er Jahren nannte. Im letzten Entwicklungsstadium des Kapitalismus wird alles zum "Spektakel", sogar die Politik. Diese Mediendemokratie beruht auf drei Pfeilern: Presse, Fernsehen und Wahlen. Ihr Kommunikationsmodell ist pyramidenförmig und vertikal. Dem Bürger verbleibt nur eine passive Rolle: Zeitungen zu lesen, fernzusehen und eine

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Partei zu wählen. Die Politik verkommt zum Spektakel und die Wahlen zur Farce, wenn das Entscheidende nur noch darin liegt, das eigene Angebot gut zu vermarkten. Politisch wichtige Entscheidungen werden nicht mehr von Parteien getroffen, sondern von wirtschaftlichen Oligarchien, die die Fäden der Regierungen ziehen. Ein Musterbeispiel dafür ist Italien, wo die Regierung Monti aus einem Putsch hervorging.[17] Die Parteien sind personenbezogene Wahlmaschinen geworden, die sich auf einen Leader konzentrieren. Sie benötigen die Presse und vor allem das Fernsehen, um ihr einziges Anliegen an den Mann zu bringen: den Wahlerfolg. Die Parteien bewegen nicht mehr Personengruppen durch "starke" Ideologien, sondern wollen nur noch den einzelnen Wähler beeinflussen, ähnlich wie die kommerzielle Produktewerbung. So entsteht der neue Berufspolitiker. Er ist nicht mehr der Weber'schen Verantwortungsethik verpflichtet. Er denkt nur noch daran, den Wähler zur eigenen (Wieder-)wahl zu beeinflussen oder die Sympathie des Manager-Leaders zu seiner Wiedernominierung zu gewinnen. Mediendemokratie und Parteienherrschaft sind somit zwei Seiten derselben Medaille. So ist nicht erstaunlich, dass sich die Protestbewegungen gegen sie stellten. Bezeichnenderweise erzielte das M5S seinen ausserordentlichen Wahlerfolg, der es zur stärksten Kraft in der grossen Kammer machte, ohne die Unterstützung des Fernsehens, mit beinahe der ganzen Presse gegen sich, indem es die "populistische" Parteienkritik zu seinem Leitmotiv machte.

Die Protestbewegungen misstrauen den Medien und weisen Fernsehen und Journalisten bisweilen heftig von sich. Letztere suchen nur nach einem Scoop, nach Aussergewöhnlichem und Unerhörtem. Sie blähen Ereignisse auf, die sich schon nach wenigen Tagen im Nichts auflösen. Es gibt keine oder nur eine ad hoc gelenkte Diskussion. Die Newsmeldung verläuft zunächst vertikal, wird dann zur Skandalerzeugung zwischen Presse und Fernsehen hin- und hergeschoben, um spätestens nach wenigen Tagen in Vergessenheit zu geraten. Dies alles macht keinen Sinn, ausser dass man die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zieht, um Einschaltquoten und Auflagen zu steigern. Würden diese zurückgehen, sänken die Erträge, und Fernsehsender und Zeitungen müssten schliessen. Aber dies soll unbedingt vermieden werden, denn ohne sie würden auch die Parteien sterben. Deswegen werden

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die traditionellen Medien mittels öffentlicher Subventionen künstlich am Leben erhalten. Dabei verlieren sie freilich ihre Autonomie und verkommen zu schieren Propagandamaschinen. Etwas zugespitzt ausgedrückt werden Medien und Parteien eins. Daraus lässt sich z.B. die Feindseligkeit des M5S gegen die traditionellen Medien und besonders das Fernsehen erklären. Eine ähnliche Haltung haben aber fast alle Protestbewegungen, die im Internet das für sie geeignete Kommunikationsmittel gefunden haben. Im Netz äussern sie ihre Standpunkte und im Netz entwickeln sie, was bereits eine neue Form von Demokratie und politischer Einflussnahme ist. Die deutschen Piraten benutzen als Plattform die Software Liquid Feedback. Das M5S hat derweilen eine Art "elektronisches Parlament" auf die Beine gestellt, das Wähler und Gewählte so nah wie möglich zusammenführt. Eine Softwareplattform, über welche die Volksvertreter des M5S ihre Gesetzesentwürfe den Mitgliedern der Bewegung unterbreiten, damit sie Kommentare und Verbesserungsvorschläge dazu abgeben können. Umgekehrt können die Mitglieder der Bewegung neue Gesetzesvorlagen anregen, die dann von ihren Vertretern in die parlamentarische Beratung eingebracht werden müssten.

In den Blogs wie in allen Social networks ist der Informationsfluss frei und erfolgt oft in entgegengesetzter Richtung zu den "offiziellen" Kanälen.[18] Immer zahlreicher werden ständig aktualisierte Seiten, ausführliche On line-Zeitungen, die meistens kritischer sind.

Wikipedia wird die Nachschlagewerke, Google die gedruckten Zeitungen, Napster die Musikindustrie und Amazon den Buchhandel zu Grabe tragen. Das Internet bringt Protestbewegungen hervor und lässt die Parteien schwinden. Werden nun die Protestbewegungen die traditionellen Parteien schlagen?

So unkonventionell die Protestbewegungen in ihrer medialen Darstellung sind, so lassen sie sich auch nicht in Schemen der repräsentativen Demokratie pressen. Neben der digitalen Demokratie erscheinen als Leitmotive fast aller Protestbewegungen weltweit Slogans wie: "Que se

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vajan todos!", "Tutti a casa", "Go home!". Die politische Grundvorstellung ist somit, sich von der Zwischenschaltung der Parteien zu befreien. Die repräsentative Demokratie soll überwunden oder wenigstens mit dem Einbau direktdemokratischer Elemente ergänzt werden. Internet hat die Idee der direkten Demokratie wiederbelebt, wie als Erster Robert Paul Wolff erkannte.[19] Das Netz macht somit möglich, was bis vor kurzem nur als Traum der Anarchisten galt: die "Regierung für das Volk" durch die "Regierung durch das Volk" abzulösen. Tatsächlich wird sich dank der neuen Technologien jeder Bürger direkt zu politischen Fragen äussern können, und wichtige Entscheidungen werden von allen - nicht mehr nur von wenigen Gewählten - getroffen. Internet eröffnet dem Bürger einen neuen, direkten Zugang zur politischen Entscheidung, indem es die Einflussnahme durch die Parteien aufhebt.[20] Auch dem Parlament vermag es seine Stellung als eigentliches politisches Entscheidungsorgan zurückzuverleihen. Es erscheint paradox, aber es waren gerade die Parteien, die das Parlament zu einem Ort gemacht haben, an dem nicht mehr diskutiert wird (und nur noch die Parteilinie gilt), wo die Transparenz schwindet (und gewisse Entscheide geheim gefällt werden) und wo nur noch Entscheidungen abgesegnet werden, die vorher ausserhalb des Parlaments getroffen wurden. Das Netz liesse das Parlament seine Würde wiedererlangen, sobald die Debatte nicht mehr zwischen den Parteien ausgetragen würde, sondern zwischen den Volksvertretern. Und zwar solchen, welche die Probleme eines Landes mit Rücksicht auf den Wählerwillen nicht nur bei, sondern auch nach der Wahl angehen. Es wäre der Übergang von der "intermittierenden" zur "dauernden" Demokratie.[21] Während der Bürger in der "intermittierenden" zwischen den Wahlen schweigt, behält er in der "dauernden" die Hauptrolle. Rousseau käme so zu einem späten Sieg: "Die Abgeordneten des Volkes sind also nicht seine Vertreter und können es gar nicht sein; sie sind nur seine Bevollmächtigten und dürfen nichts entscheidend beschließen. Jedes Gesetz, das das Volk

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nicht persönlich bestätigt hat, ist null und nichtig; es ist kein Gesetz. Das englische Volk wähnt frei zu sein; es täuscht sich außerordentlich; nur während der Wahlen der Parlamentsmitglieder ist es frei; haben diese stattgefunden, dann lebt es wieder in Knechtschaft, ist es nichts. Die Anwendung, die es in den kurzen Augenblicken seiner Freiheit von ihr macht, verdient auch wahrlich, dass es sie wieder verliert".[22]

Internet ermöglicht mit seinen neuen Mitteln den Übergang von der intermittierenden zur dauernden Demokratie. Repräsentative und direkte Demokratie verändern sich: Die repräsentative erneuert sich im neuen Verhältnis zwischen Wählern und Gewählten, während die direkte erst ihr eigentliches Wesen annimmt, das eben nicht auf eine Art Volksbefragung reduziert werden kann. Es entsteht somit etwas Neues, eine gemischte Demokratie, in der sich repräsentative und direkte Demokratie zum ersten Mal die Hand reichen.

Um weiterbestehen zu können, muss die repräsentative Demokratie folgende Forderungen umsetzen: Die Gewählten im Dienst der Wähler (Einführung des imperativen Mandats), direkte Wahl der Kandidaten (die im jeweiligen Wahlkreis wohnen müssen), Abschaffung der geheimen Abstimmung, obligatorische parlamentarische Beratung über Volksbegehren. Man kann sich fragen, ob solch ein ambitioniertes politisches Programm von einer Protestbewegung umgesetzt werden kann. Bis anhin beschränkten sich die Protestbewegungen in der Regel auf die Mobilisierung zu vielleicht global bedeutenden, aber stets einzelnen, konkreten "issues". Es gibt Stimmen wie Manuel Castells, wonach nur Parteien imstande wären, die Reformbestrebungen der Protestbewegungen zu "institutionalisieren".[23] Bewegungen und Parteien würden sich demnach gegenseitig ergänzen. Die jüngste politische Entwicklung in Italien hat diese Analyse jedoch widerlegt. Die Parteien haben sich sämtlichen Reformvorschlägen des M5S widersetzt, das seinerseits bewiesen hat, dass eine "Institutionalisierung" möglich ist, ohne den eigenen Protestcharakter zu verlieren.

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Der Unterschied zwischen direkter und repräsentativer Demokratie besteht nicht nur in der Anzahl politischer Instrumente und lässt sich nicht auf "Referendum gegen Wahlen" reduzieren.[24] Für Lévy "kann es nicht darum gehen, plötzlich eine Masse von Individuen über einfache Vorlagen eines telegenen Demagogen abstimmen zu lassen, sondern eine dauerhafte, breit abgestützte politische Problemlösung anzustreben".[25] Obwohl die vollkommene Eigenverantwortung des Individuums aufgrund seiner Autonomie und Unabhängigkeit eine Fiktion ist, darf auf die Einsamkeit des freien Bürgers, der nur für diese oder jene Partei stimmen kann, nicht diejenige des virtuellen Bürgers folgen. Deswegen muss der virtuelle Bürger in den realen Raum treten.

Das Internet und die neuen Medien haben etwas bisher Undenkbares entstehen lassen: Ein neues Modell politischer Einflussnahme, das die Parteienherrschaft, wie sie sich in Europa ab dem 19. Jahrhundert entwickelte, weit hinter sich lässt. Deren Krise hat schon vor einiger Zeit begonnen und zeigt sich in allen westeuropäischen Ländern, in Italien aber am deutlichsten. Die traditionellen Parteien prägten als ideologische Massenorganisationen fast das ganze letzte Jahrhundert. Das Ende der grossen Erzählungen und politischen Ideologien führte sie in die Krise. Sie versuchten, durch Verwandlung zu überleben: Vermittelten sie in der alten "Parteiendemokratie" noch zwischen Zivilgesellschaft und Staat, haben sie sich nun der "Publikumsdemokratie" verschrieben, wie Bernard Manin sie nannte.[26] In der "Parteiendemokratie" wählte man noch Parteien, ihr Parteiprogramm und ihre Kandidaten. In der "Publikumsdemokratie" wählt man nun einzelne Leader, und die Parteien verkümmern zu ihren Unterstützungskomitees. Die Personalisierung der Politik gipfelt in der Personalisierung der Regierung. Es zählt nicht mehr die Regierungsmannschaft, sondern nur noch der Regierungschef. Alle Aufmerksamkeit der Medien ist auf ihn gerichtet, Leadership wird hyperpersonalisiert. In Italien begann dieser Prozess in den 90-er Jahren mit dem Untergang der Ersten Republik und dem Aufstieg Berlusconis. Dem "centrosinistra" gelang die Anpassung an die neue Politkultur erst

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jetzt, mit Renzi. Auf der neuen politischen Bühne sind Berlusconi und Renzi die Protagonisten. Den Bürgern verbleibt lediglich die Rolle der Zuschauer in einem Schauspiel, in dem die Leader mit ihren Parteien machen, was sie wollen. Während Berlusconi seine Partei neu gründete, brachte Renzi als Zünglein an der Waage die alte Regierung und ihren Premierminister zu Fall, um dessen Stelle einzunehmen. In der Tat ist Renzi nun auf keine Partei mehr angewiesen. Er benötigte sie nur, um sich durch das Massenritual einer Primärwahl legitimieren zu lassen. Nach dem Untergang der traditionellen Parteien sind die Bürger zu Konsumenten geworden. Sie können nur noch zwischen zwei Produkten "von der Stange" wählen, die sich voneinander nur oberflächlich unterscheiden. In der "Publikumsdemokratie" kommt es nicht mehr darauf an, was man sagt, sondern wie man nach aussen erscheint. Es sind nicht mehr gesellschaftliches Engagement und Präsenz vor Ort entscheidend, sondern der Live-Auftritt im Fernsehen. Was in dieser Entwicklung auf der Strecke bleibt, ist die aktive Rolle der Öffentlichkeit. Die Bürger sind nur noch passive (Fernseh-)Zuschauer, die auf das Programm keinerlei Einfluss haben.

Aber in neuester Zeit können sie den Fernseher aus- und das Internet einschalten. Im Netz kommt die allgemeine Unzufriedenheit zur Sprache. Im Netz ist eine Bewegung entstanden, welche die Publikumsdemokratie überwinden will, damit jeder Bürger wieder zum echten Mitspieler der Politik wird. Die Bürger stellen sich gleichsam "von unten" im Netz zur Verfügung, und das Netz wählt die Fähigsten unter ihnen aus. Der Hyperpersonalisierung der Parteien steht die programmatische Leaderless der Protestbewegungen gegenüber. Nachdem sich die Parteien einer übertriebenen Leadership verschrieben haben, organisieren sich nun Bürger, die sich von ihnen nicht mehr vertreten fühlen, in Protestbewegungen. Die Parteien bedienen sich zur Verteidigung ihrer Machtstellung der herkömmlichen Instrumente der repräsentativen Demokratie. Demgegenüber begehen die Protestbewegungen den Weg der direkten Demokratie, heute wirkungsvoll unterstützt durch das Internet.

Man darf dabei aber etwas nicht vergessen: Das Internet ist zwar immer mehr Personen zugänglich, aber ein bedeutender Teil der Bevölkerung nutzt es immer noch nicht. So informieren sich viele Wähler nach wie

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vor durch das Fernsehen. Nun stehen sich alte und neue Medien aber nicht etwa frontal gegenüber, sondern es kommt zu einem gegenseitigen Kontakt. Social media wie Twitter treten mit dem Fernsehen in einen Dialog und umgekehrt. Bei den letzten italienischen Wahlen hatte Twitter die höchsten Frequenzen als Berlusconi in der Sendung "Servizio Pubblico" auftrat. Und das bei den letzten Wahlen unerwartet erfolgreiche M5S, das anfänglich jegliche Teilnahme an Fernsehsendungen ablehnte, ist jetzt weniger zurückhaltend: Zwar bleibt es den Talkshows fern, nutzt aber andere Formate des Fernsehens. So wie die Politik in Zukunft ein Hybrid zwischen repräsentativer und direkter Demokratie sein wird, so werden in der künftigen politischen Kommunikation alte und neue Medien miteinander leben müssen.

Einige abschliessende Gedanken: Um die Jahrtausendwende glaubten die Bewohner des Cyberspace, endlich das "gelobte Land" erreicht zu haben. So rosig war es nicht.[27] Die Überwachung im Netz durch Grosskonzerne wie Microsoft, Apple, Google, Facebook, Amazon usw. hat zugenommen. Nun sind sie die Vermittler des neuen informativen und kulturellen Schaffens. Die Navigation im Netz ist weniger frei als es scheint, und die Informationskanäle werden zunehmend uniform.

Der oft nicht ausgereifte, chaotische Informationsfluss im Netz sowie dessen schiere Grösse erschwert es, zwischen vertrauenswürdigen und nicht vertrauenswürdigen Quellen zu unterscheiden.[28] Einige Autoren[29] warnen, das Internet befördere einen überhasteten, unaufmerksamen und oberflächlichen Denkstil, der den Bürger unfähig macht, schwierige Fragen gründlich zu analysieren und durchdacht darauf zu antworten.

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Ausserdem erinnert sich das Internet für immer an alles. Als kollektives Gedächtnis macht es uns zu Gefangenen unserer Vergangenheit. Es verwahrt auch jene Dinge, die wir vergessen oder für uns behalten möchten. Haben wir den Cyberspace einmal betreten, können wir ihn kaum mehr verlassen, bleiben doch alle unsere Daten darin hängen. Im Netz ist jeder registriert, erkennbar und wiedererkennbar. Google, Facebook und Amazon kennen uns bald besser als unsere Verwandten und Freunde. Die traditionelle Konzeption der Privacy, die uns vor Eingriffen in die Privatsphäre schützen sollte, wird radikal in Frage gestellt. Über jeden Einzelnen bestehen Unmengen an öffentlichen Daten, deren Sammlung detaillierte Persönlichkeitsprofile liefert. Dies alles ruft nach neuen Regelungen, die jeder Person das Recht auf wirksame Kontrolle ihrer persönlichen Daten erlauben.

Vermögen die angesprochenen, nicht einfach zu lösenden Probleme, alle Hoffnungen zu zerstören? Nicht unbedingt. Vielleicht muss man nur einräumen, dass es gar nie ein "gelobtes Land" zu erreichen gab. Der Mensch ist als Sohn der Erde unbesiegbar wie Antäus, solange er auf dem festen Boden seiner Mutter Gaia blieb. Nun aber stösst er in den Herrschaftsbereich der Luft vor und muss zunächst fliegen lernen. Ob wir wollen oder nicht, wir entfernen uns "mit Fluchtgeschwindigkeit von der festen und sicheren Welt der Hardware in Richtung der fremden und phantastischen Welt der Software", wie es Mark Dery ausdrückte.[30] Der Eintritt in diese neue Welt will gut vorbereitet sein.

Wie jede andere Technologie ist auch die digitale janusköpfig. Sie kann gebraucht werden, um den Menschen von alten Ketten zu befreien - oder ihn in neue zu legen, gar als "Opium des Volks" des Dritten Jahrtausends. Die Software, ob offen oder nicht, bleibt ein Programm für eine Maschine, das zu den unterschiedlichsten Zwecken gebraucht werden kann. Die Wissensgesellschaft könnte zur Überwachungsgesellschaft werden, in welcher der Einzelne jegliche Kontrolle über die eigenen Daten verliert. Der "eiserne Käfig", von dem Max Weber sprach, könnte zum

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elektronischen Käfig werden.[31] Die Staaten könnten das Netz zur totalen Kontrolle durch Cyberspionage nutzen, wie die Datagate-Affäre neulich zeigte. Es bleibt somit gültig, was Joi Ichi Ito schrieb: Internet "wird eine neue Form von Demokratie ermöglichen, die im Stande ist, komplexe Themen anzugehen und unsere gegenwärtige repräsentative Demokratie zu stärken, zu verändern oder zu ersetzen, aber es ist auch möglich, dass die neuen Technologien die totalitären Regime stärken".[32]

Doch dagegen hat das Netz Antikörper: Julian Assange brachte das UK und die USA mit seinen unangenehmen Enthüllungen in Wikileaks zum Zittern, während Edward Snowden bewies, dass eine einzelne Person ausreicht, um den gesamten Kontrollmechanismus der US-amerikanischen National Security Agency (NSA) auszuschalten. Das Spiel ist somit unentschieden. Das Internet hat bereits unseren Alltag positiv revolutionieren können. Ob ihm in der Politik Gleiches gelingt, wird die nahe Zukunft zeigen.

Sicher aber wird unsere Zukunft - wie es Andrew Chadwick in einem Wort ausdrückt[33] - "hybrid" sein und einiges verschmelzen lassen: Gedruckte und elektronische Medien, Fernsehen und Internet, realen und virtuellen Raum, repräsentative und direkte Demokratie. Alte und neue Elemente vereinigen sich zu etwas bisher Unvorstellbaren. ■

ANMERKUNGEN

[1] M. Serres, Atlas (Paris 1994).

[2] C. Schmitt, Land und Meer (Stuttgart 1994).

[3] J. P. Barlow, Declaration of Independence of Cyberspace (Davos 1996).

[4] D. Clark, A Cloudy Cristal Ball. Visions of the Future (Presentation at the 24[th] meeting of the Internet Engineering Task Force, Cambridge Mass., 13-17 July 1992).

[5] C. Schmitt, Land und Meer (Stuttgart 1994).

[6] E. S. Raymond, The Cathedral and the Bazaar (Sebastopol 1997).

[7] R. Stallman, Free Software, Free Society (North Charleston 2002).

[8] R. Stallman, Free Software, Free Society (North Charleston 2002).

[9] L. Lessig, Code and Other Laws of Cyberspace (New York 1999).

[10] P. Lévy, L 'Intelligence Collective: Pour une Anthropologie du Cyberespace (Paris 1994).

[11] M. L. Ghisi, La Société de la Connaissance: Une Nouvelle Vision de l'Économie et du Politique (Luxembourg 2007).

[12] P. Hawkins, The Next Economy (New York 1983).

[13] L. Lessig, Free Culture (www.web-libero.it).

[14] M. Serres, Petite Poucette (Paris 2012).

[15] N. Negroponte, Being Digital (New York 1995).

[16] J. Saramago, Objecto Quase (São Paulo 1978).

[17] Vgl. P. Becchi, Colpo di Stato Permanente (Venezia 2014).

[18] Vgl. H. Jenkins, Fans, Bloggers and Gamers: Exploring Participatory Culture (New York 2006).

[19] E. R. R Wolff, Preface to In Defence of Anarchism (Oakland 1998), am Ende des Vorworts der zweiten Auflage.

[20] Vgl. M. Castells, Networks of Outrage and Hope: Social Movements in the Internet Age (Cambridge 2012); S. Rodotá, Iperdemocrazia: Come Cambia la Sovranitá Democratica con il Web (Roma-Bari 2013).

[21] S. Rodotá, Tecnopolitica: La Democrazia e le Nuove Tecnologie della Comunicazione (Roma-Bari 2004).

[22] J. J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag (Amsterdam 1762), Buch III, Kapitel 15.

[23] M. Castells, The Power of Identity (Hoboken 1997).

[24] Vgl. G. Sartori, Democrazia: Cosa É (Milano 2000).

[25] P. Lévy, Cyberculture (Paris 1997).

[26] B. Manin, The Principles of Representative Government (Cambridge 1997).

[27] Vgl. die Beiträge in D. DE Kerckhove - A. Tursi (Hrsg.), Dopo la Democrazia? Il Potere e la Sfera Pubblica nell'Epoca delle Reti (Milano 2006).

[28] Vgl. C. Sunstein, Republic.com (Princeton 2001); R. Dahrendorf, The Crisis of Democracy: In Conversation With A. Polito (London 2005); Z. Bauman, Things We Have in Common (New Haven 2012).

[29] N. Carr, The Shallows: What the Internet Is Doing to Our Brains (New York 2010); G. Lovink, Networks Without A Cause: A Critique of Social Media (Cambridge 2012); A. Ferrazzi, 'Internet Favorisce il Rinnovamento della Democrazia?' (2013) 1 Rivista di Politica 1.

[30] M. Dery, Escape Velocity, Cyberculture at the End of the Century (New York 1997).

[31] Vgl. D. Lyon, Surveillance Society: Monitoring Everyday Life (Milton Keynes 2001); E. Morozov, The Net Delusion. The Dark Side of Internet Freedom (New York 2011).

[32] J. I. Ito, Emergent Democracy (2003), joi.ito.com/joiwiki/EmergentDemocracyPaper.

[33] A. Chadwick, The Hybrid Media System: Politics and Power (Oxford 2013).

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