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Hans-Heiner Kühne[1]: Die Bedeutung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und ihre Grenzen (MJSZ, 2019., 2. Különszám, 2/2. szám, 97-104. o.)

1. Dedikation

Dieser Beitrag ist meinem langjährigen Freund und Kollegen Ákos Farkas gewidmet, der nunmehr ebenfalls in das Alter eingetreten ist, in welchem man anfängt das Lebenswerk zu würdigen. Das tue ich sehr gerne und wünsche ihm noch viele erfolgreiche weitere Jahre des wissenschaftlichen Schaffens wie auch der privaten Zufriedenheit.

2. Einführung

2.1. Die Anfangszeit von EMRK und EGMR. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist zurecht nach ihrer Ratifizierung durch die ersten Staaten des Europarats in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts gefeiert worden als Meilenstein im Menschenrechtsschutz. Das erste Mal hatte sich ein ziemlich vollständiger Menschenrechtskatalog der einheitlichen Rechtsprechung durch ein Supranationales Gericht unterworfen. Wenn auch keine rechtlich umsetzbaren Vollzugsmechanismen vorgesehen waren, so gab es doch die Völker-vertragsrechtliche Verpflichtung der Signatarstaaten, die Straßburger Entscheidungen zu respektieren und umzusetzen. Als Instrument der Umsetzung dieser Verpflichtung diente und dient noch das Ministerkomitee, welches durch politischen Druck die Vertragstreue der Mitgliedstaaten fördern soll.

Dieses Konzept ging in den ersten Jahren der Rechtsprechung des EGMR auch sehr gut auf. Es gab wenig Beschwerden und entsprechend wenig Entscheidungen, die man auch ohne Spezialist auf diesem Gebiet sein zu müssen, gut überschauen - und akzeptieren - konnte. Selbst die Mitgliedstaaten, die bei Signierung und Ratifizierung davon ausgegangen waren, dass nicht sie, sondern andere Mitgliedstaaten von der Kontrolle durch den EGMR betroffen sein würden, mussten

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dabei schon die ersten Entscheidungen akzeptieren, welche eine Korrektur ihres Rechtssystems erforderlich machten. So war etwa Deutschland durchaus betroffen, wegen Überlänge des Verfahrens gerügt zu werden[1], und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) war keinesfalls amüsiert später im selben Zusammenhang, lesen zu müssen, dass es aus Sicht der EMRK zum Rechtszug gehöre und damit die bei diesem Gericht üblicherweise recht langen Wartezeiten zu der allgemeinen Verfahrensdauer hinzu zu rechnen seien[2]. Der aus Deutschland dagegen empörte Widerspruch, zum einen gehöre der Weg zum BVerfG nicht zum allgemeinen Rechtsweg und zum anderen seien die Wartezeiten beim EGMR mittlerweile ebenso lang, wenn nicht länger, verhallten ungehört. Die vom EGMR geforderte kostenlose Dolmetscherleistungen im Strafverfahren[3] wurde hingegen kurzfristig durch Änderung des § 187 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) ins deutsche Recht überführt.

2.2. EMRK und EGMR der 47 Mitgliedstaaten. Diese nachgerade idyllische Situation hat sich in den letzten dreißig Jahren allerdings dramatisch verändert. Mit der steigenden Zahl der Mitgliedstaaten, insbesondere denen, deren Rechtssysteme durchaus noch erkennbare rechtsstaatliche Defizite hatten bzw. noch haben, vergrößerte sich naturgemäß das Fallaufkommen.

Die wachsende Akzeptanz des EGMR durch die Rechtsanwaltschaft, eigentlich ein zu lobendes Phänomen, führte dazu, dass menschenrechtsrelevante Verfahren regelmäßig durch den Instanzenzug, die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit und dann zum EGMR geführt wurden. In diesem Zusammenhang gilt es inzwischen als Kunstfehler, den EGMR - und zwecks erforderlicher Ausschöpfung des nationalen Rechtszugs, Art. 35 EMRK, auch das nationale Verfassungsgericht - nicht anzurufen.

Das alles hat einerseits zu einer Situation geführt, die trotz aller Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR für die Rechtsstaatlichkeit insbesondere der Strafverfahrensordnungen der Mitgliedstaaten den Weg nach Straßburg nicht nur beschwerlich, sondern auch aus individueller Sicht zumeist wenig effizient erscheinen lässt.

Es ist andererseits dabei aber nicht zu verkennen, dass der EGMR als Gericht geschaffen wurde, welches im Verhältnis zu den nationalen Gerichten der Mitgliedstaaten nur subsidiäre Funktion haben sollte. Das bislang nicht in Kraft getretene 15. Zusatzprotokoll von 2013 betont dies nochmals. Die reale und oben dargestellte Tätigkeit sowie Funktion des EGMR ist aber weit über eine Subsidiär Funktion hinausgewachsen. Die Annahme der weitgehenden Gleichheit in Verständnis und Umsetzung der Menschenrechte in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten war bestenfalls im frühen Beginn der Tätigkeit des EGMR gegeben und wurde mit der Beitrittswelle ab den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts

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immer fiktiver. Zugleich wuchs insbesondere für diese Staaten die Bedeutung der Rechtsprechung des EGMR für die rechtsstaatliche (Re)Strukturierung ihrer Rechtsordnungen, insbesondere aber der Strafverfahrensordnungen. Damit war der EGMR in eine neue bedeutsame Rolle gedrängt worden, die fernab des Subsidiaritätsprinzips spielte und es noch immer tut. In dieser neuen und wichtigen Funktion ist der EGMR zwar vollständig überlastet, leistet aber unverzichtbare Arbeit für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtsschutz in den Ländern des Europarats, weshalb eine verstärkte Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip heute als sachlich verfehlt zurückgewiesen werden muss.

Im Folgenden sollen die unzweifelhaften Erfolge der Rechtsprechung des EGMR für die Rechtsstaatlichkeit innerhalb der Mitgliedstaaten kurz angesprochen werde. Hierbei beschränken wir uns auf die zumeist für das Strafverfahrensrecht wesentlichen Art. 5 und 6 der EMRK. Diesen durchaus bekannten positiven Aspekten sollen weniger bekannte negative gegenübergestellt werden, die in den letzten Jahren die Bedeutung dieser Rechtsprechung für den Einzelfall massiv eingeschränkt haben.

3. Die segensreiche Rechtsprechung zu Art. 5 und 6 EMRK in beispielhafter Darstellung

Es ist ebenso offensichtlich wie unstreitig, dass die Rechtsprechung des EGMR insbesondere dazu beigetragen hat, den in Bezug auf Menschenrechtsschutz besonders empfindlichen Bereich des Strafverfahrensrechts Europaweit deutlich rechtsstaatlicher zu gestalten. Hier soll dies, allein schon aus Gründen mangelnden Raums, nicht im Detail, sondern nur beispielhaft angesprochen werden, um die wesentlichen Grundlagen - und häufigsten Schwachpunkte - strafprozessualen Menschenrechtsschutzes kurz zu unterstreichen.

Als Grundvoraussetzung aller Gewährung staatlicher Gerechtigkeit gilt die Unabhängigkeit der Richterschaft, die frei von Interessenkonflikten und der Drohung staatlicher Repressionen agieren können muss. Während dies der EGMR in vielen Entscheidungen immer wieder betont hat[4] und die formellen Voraussetzungen dafür in den Mitgliedstaaten weitestgehend erfüllt worden sind, haben sich hier allerdings Techniken entwickelt, die die Substanz richterlicher Unabhängigkeit aushöhlen, ohne dass dies als Konventionsverletzung erfolgreich gerügt werden könnte. Da gibt es beispielsweise in der Türkei, der Ukraine und wohl auch in Russland, die große Übermacht staatlicher Gewalt, die es für Richter von vornherein unmöglich erscheinen lässt, gegen die Interessen des Staates zu entscheiden. Aber auch insofern unverdächtige Staaten wie Frankreich[5] und

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Deutschland müssen sich vorhalten lassen, dass insbesondere Beförderungen von Richtern in höhere Ämter zumindest verdeckt von politischen Anschauungen der Richter geprägt sind. In Deutschland ist dies durch die Richterwahlgesetze zum Bundesgerichtshof (BGH) und zum BVerfG durch die Mehrheit staatlicher Entscheider in den Wahlgremien erkennbar geregelt. Auf Landesebene ist leicht zu erkennen, dass die Richter, welche der jeweils im Landtag regierenden Partei nahestehen oder deren Mitglieder sind, weit überproportional Beförderungsstellen innehaben.

Die Unschuldsvermutung, Art. 6 II EMRK ist ein weiterer Pfeiler rechtsstaatlicher Strafverfolgung. Sie begründet zunächst einmal die staatliche Pflicht, alle belastenden wie auch entlastenden Beweise beizubringen und den Beschuldigten bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig zu behandeln. Sie bedeutet damit zugleich, dass der Beschuldigte keinen Beitrag zur Beweiserhebung leisten muss. Hier hat der EGMR etwa in Hinblick auf die in allen Strafverfahrensgesetzen geregelte Pflicht des Beschuldigten, sich Fingerabdrücke, Blutproben oder andere Genproben abnehmen zu lassen, ein hilfreiches Dreistufenmodell entwickelt[6], innerhalb dessen die Mitwirkungsfreiheit des Beschuldigten sorgfältig mit dem staatlichen Verfolgungsinteresse abzuwägen ist.

Das Recht auf aktive Mitwirkung des Beschuldigten am Verfahrren ergibt sich nicht nur aus dem Prinzip der Fairness des Verfahrens, Art. 6 I EMRK, sondern in Hinblick auf das spezielle Recht auf Verteidigung sehr konkret aus Art. 6 III lit. b-d EMRK. Hier hat der EGMR die Rechte der Verteidigung/des Verteidigers etwa in Hinblick auf Zugang zum Beschuldigten und Anwesenheit während polizeilicher/staatsanwaltschaftlicher Vernehmungen[7] vor und in der Hauptverhandlung[8] sowie Aktenzugang[9] prononciert gestärkt.

Da die Untersuchungshaft in langer und bedauernswerter Tradition immer wieder dazu missbraucht worden ist, politisch unliebsame Bürger kalt zu stellen, beschäftigt sich Art. 5 EMRK besonders intensiv mit diesem Instrument im Verhältnis zu der allgemeinen Freiheitsgarantie. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs ist dazu fast nicht mehr zu überblicken[10] und zeigt, wie problematisch der Umgang mit diesem Instrument auch heute noch ist.

Angesichts einer nicht nur in der EU und dem Europa des Europarats, sondern sich global weitgehend ungehindert bewegenden Weltgesellschaft, ist auch die Kriminalität internationaler und vielsprachiger geworden. Das stellt dann besondere Schwierigkeiten bei der im Strafverfahren erforderlichen Kommunikation auf. Der EGMR hat hier in steter Aufbauarbeit die Erfordernisse einer gebührenfreien Dolmetscher- und Übersetzungsleistung auf alle wesentlichen Verfahrensteile ausgeweitet[11].

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Lediglich beim Erfordernis einer angemessen kurzen Verfahrensdauer, Art. 6 I EMRK (speedy trial)[12] scheint der EGMR gegen Windmühlen zu kämpfen. Dies nicht nur, weil er selbst ein schlechtes Vorbild abgibt, vgl. unten bei 4.1.1, sondern weil in vielen Signatarstaaten die Justiz aus strukturellen wie personellen Gründen nicht in der Lage ist, die Menge der Verfahren hinreichend zügig zu bearbeiten. Da hilft es auch nicht, wenn der Gerichtshof immer wieder betont, dass organisatorische Mängel der Justiz - dazu gehört auch mangelndes Personal - keine Rechtfertigung für Verfahrensverlängerungen seien[13]. Der Umstand, dass der Gerichtshof in Fragen der Verfahrensdauer in der Regel nur noch pauschal zu prüfen bereit ist[14], belegt die Häufigkeit solcher Beschwerden. Dabei tritt es fast in den Hintergrund, dass die Kriterien für die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens weitgehend im normativen Bereich der Einzelfallentscheidungen verschwimmen[15].

Das Problem der Verfahrensüberlänge - und damit die Frage der Effizienz der Justiz - ist allerdings eines der ältesten Probleme des Justizwesens überhaupt. Schon in der "Magna Charta Libertatum" von 1215 wird es in der Nr. 40 angesprochen (nulli vendemus, nulii negabimus aut differebimus rectum aut justiciam). Die amerikanische "Bill of Rights" von 1791 erwähnt im 6. Zusatzartikel bereits den Begriff des "speedy trial" und macht damit auf Verfassungsebene deutlich, dass der bestehende Zustand allzu lang andauernder Verfahren bekämpft werden müsse. Angesichts dieser unglücklichen Geschichte des Bemühens um angemessene Verfahrensdauer erscheint das diesbezügliche Unvermögen des EGMR eher als weiterhin erfolglose Fortschreibung solchen Bemühens als ein vorwerfbares Versagen.

4. Grenzen des gerichtlichen Menschenrechtsschutzes

Die oben beispielhaft zum rechtsstaatlichen Strafverfahren angeführten Entscheidungen des EGMR unter Anwendung der Art. 5 und 6 EMRK haben Europa weit ohne jeden Zweifel zu einer Verbesserung rechtsstaatlicher Bedingungen in nationalen Strafverfahrensgesetzen sowie der Praxis des Strafverfahrens geführt und damit einen nicht unerheblichen präventiven Einfluss auch auf von der Rechtsprechung nicht unmittelbar betroffene Mitgliedstaaten ausgeübt. Gleichwohl zeigt der Blick auf den Einzelfall, dass häufig ein adäquater Schutz auch bei letztendlichem Erfolg in Straßburg nicht erzielt wird. Das hat vielerlei Gründe.

4.1. Dauer und Kosten des Verfahrenswegs.

4.1.1. Dauer. Zum einen ist es die vom EGMR doch so hoch gehaltene Garantie der Schnelligkeit von Verfahren bei mitgliedstaatlichen Gerichten, die offenbar vom

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EGMR selbst nicht hinreichend umgesetzt wird. Allein das Verfahren in Straßburg kann, wie der Verfasser kürzlich selber aus Anlass einer von ihm vertretenen Beschwerde schmerzhaft erleben musste, deutlich länger als 10 Jahre dauern. Selbst die Umsetzung des 14. Zusatzprotokolls zur EMRK hat die Bearbeitungszeit der Überfülle von eingehenden Beschwerden nicht spürbar reduziert. Ob eine Ratifizierung des 15. Zusatzprotokolls von 2013, welches die Subsidiarität der Rechtsprechung des EGMR sowie den nationalen Beurteilungsspielraum bei der Interpretation von Normen der EMRK betont, in diesem Zusammenhang hilfreich wäre, ist eher zu bezweifeln, vgl. oben bei 2.2.

Das allein wäre schon für eine effiziente Rechtsdurchsetzung schlimm genug. Hinzu kommt aber die Pflicht zur Ausschöpfung des nationalen Rechtswegs einschließlich der Beschwerde beim jeweiligen Verfassungsgericht, Art. 35 I EMRK. Selbst in Mitgliedstaaten, die nach Ansicht des EGMR endemisch unzuträglich lange Verfahrensdauern haben, wie etwa Italien und die Türkei[16], dauert so ein Weg durch die Instanzen selten weniger als 5 Jahre. Das sind dann insgesamt meist 10 Jahre oder mehr, ein Zeitraum, in dem in der Regel die Menschenrechtsverletzung so lange zurückliegt, dass ihre Korrektur, wenn sie denn stattfindet - dazu sogleich - kaum mehr als Erfüllung von Gerechtigkeit empfunden wird. Im Falle andauernder Menschenrechtsverletzung -zumeist rechtswidriger Inhaftierung -tröstet deren Beendigung nach 10 oder mehr Jahren auch nur wenig.

4.1.2. Kosten. Hinzu kommt, dass der Weg durch die Instanzen sehr viel Geld verschlingt, weshalb ihn sich nur wenige Betroffene leisten können. Da der EGMR nur angerufen werden kann, wenn die nationale Rechtsprechung eine Menschenrechtsverletzung nicht anerkennt, handelt es sich in der Regel um Verfahren, für die die späteren Beschwerdeführer als Unterlegene innerhalb des nationalen Rechts die Kosten selbst zu tragen haben.

Ähnliches gilt auch für das Verfahren vor dem EGMR. Man findet in Europa keinen kompetenten Rechtsanwalt, der für eine Vertretung in Straßburg weniger als einen mittleren bis hohen fünfstelligen Betrag fordert. Demgegenüber ist die Praxis des EGMR bei der Erstattung von Gebühren im Falle des Obsiegens des Beschwerdeführers sehr restriktiv und deckt in der Regel kaum die Hälfte der zu zahlenden bzw. gezahlten Gebühren, ohne dabei die angefallenen Kosten vor den nationalen Gerichten zu berücksichtigen. Letztere müssen dann wiederum auf nationaler Ebene und im Zweifel mit gerichtlicher Hilfe eingefordert werden. Auch das ist durchaus abschreckend!

4.2. Die Umsetzung der Urteile durch die betroffenen Staaten. Die Statistik des Ministerkomitees zur Umsetzung der Entscheidungen des EGMR ist recht gut[17], was den Eindruck erweckt, trotz fehlender Zwangsmechanismen hielten sich die betroffenen Staaten an die Entscheidungen aus Straßburg. Aber auch hier haben sich Praktiken entwickelt, die eine substantielle Umsetzung eher verhindern.

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4.2.1. Verzögerungstaktiken. Zunächst einmal versuchen betroffene Staaten häufig, den Vollzug der Entscheidung weiter hinauszuzögern. Das bringt den erfolgreichen Beschwerdeführer durchaus in Schwierigkeiten. Eigentlich ist für solche Fälle der Weg zum Ministerkomitee vorgesehen, Art. 46 EMRK. Allerdings tagt das Komitee nur einmal im Jahr, und die für solche Beschwerden zuständige Vollzugsabteilung ist chronisch überlastet, so dass eine weitere für den Beschwerdeführer zeitlich nicht absehbare Verzögerung eintritt. Auch der auf der Januartagung 2019 des Ministerkomitees gemachte Vorschlag, eine "Joint Reaction Procedure" zu verabschieden, die in 7 Stufen die Ahndung der Verletzungen von "staturary obligatins" oder Fälle mangelnden Respekts gegenüber fundamentalen Prinzipien und Werten formal regeln soll, erscheint wenig hilfreich, weil ein solcher 7-Punkte Plan die Reaktion des Ministerkomitees zwar formalisieren und damit transparenter machen aber zugleich das Ganze eher noch weiter verlangsamen würde. Als Alternative für den Beschwerdeführer bliebe - je nach nationalem Recht - der Weg zum Verwaltungsgericht, zum Zivilgericht wegen Amtshaftung oder zum Verfassungsgericht wegen erforderlicher Rechtsänderung, um die Durchsetzung der vom EGMR begründeten staatlichen Verpflichtung zu erzwingen. Auch das führt den Beschwerdeführer wiederum auf einen langen und kostspieligen Weg durch die Instanzen.

4.2.2. Fordern von zusätzlichen Nachweisen. Wegen der Länge des gesamten Verfahrens gibt es immer mehr Fälle, in denen der Beschwerdeführer seinen Straßburger Erfolg nicht mehr erlebt. Vollzugsprobleme ergeben sich hier insbesondere, wenn es um die Leistung von Schadensersatz geht, Art. 41 EMRK. Eigentlich geht der Anspruch des verstorbenen Beschwerdeführers auf den Erben über und bewirkt beim leistungsverpflichteten Staat keinerlei hindernde oder verzögernde Einspruchsmöglichkeiten. Gleichwohl ist die Türkei dazu übergegangen, als Voraussetzung für die Zahlung der zugesprochenen Entschädigung einen notariell beglaubigten Lebendnachweis zu fordern, was wiederum Verzögerungen und Kosten verursacht.

4.2.3. Versteckte Minderung von Schadensersatz. Schließlich scheint die Türkei auch der "Erfinder" einer speziellen leistungsmindernden Technik zu sein. Obwohl der zu zahlende Schadensbetrag vom EGMR in Euro zugesprochen worden war, ist die Türkei im Falle Demir-Bank[18] nur bereit, einen Betrag zu erbringen, der zum Zeitpunkt der Entscheidung des EGMR einem bestimmten Betrag in Türkischer Lira (TL) entsprach, jedoch zum Zeitpunkt der Auszahlung aufgrund der dramatischen Abwertung der Türkischen Währung nur noch knapp die Hälfte des zum Zahlungszeitpunkt geltenden Wertes in Euro ausmachte. Die offizielle Begründung hierfür, zum Zeitpunkt des Urteils, als der Betrag in TL dem zugesprochenen Betrag in Euro entsprach, sei dieser Betrag in TL zurückgestellt worden, was hinreichend sei, ist ebenso absurd wie respektlos. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Ermessensfreiheit des Staates bei der

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Umsetzung des Urteils[19] betrifft deutlich nicht die in Art. 41 EMRK beschriebene Situation der Schadensersatzleistung. Aber auch hier steht der Beschwerdeführer vor dem Problem, entweder ein lange nicht antwortendes Ministerkomitee anzurufen oder sich auf weitere Klagewege zu begeben.

4.3. Die Unabhängigkeit der Richter des EGMR. Natürlich gilt für die Richter des EGMR das Privileg der Unabhängigkeit, Art. 21 EMRK. Das ist fast noch wichtiger als bei Richtern im nationalen System, weil die Richter des EGMR auch gegen ihr eigenes Land und dessen Recht in Theorie und Praxis entscheiden müssen. Ob diese Unabhängigkeit institutionell hinreichend abgesichert ist, mag jedoch fraglich erscheinen. Obwohl die Bezahlung der Richter sehr gut ist, gibt es keine Renten- oder Pensionsansprüche. Dies bedeutet für jene Richter, die nach ihrer Amtszeit nicht nach Hause zurück in ein Beamtenverhältnis oder eine andere ihnen offengehaltene Position kehren können, eine nicht unbeträchtliche Unsicherheit. Dies könnte dazu führen, dass ein staatsfreundliches Entscheidungsverhalten als Voraussetzung für andere staatliche Positionen nach dem Ausscheiden verstanden und unausgesprochen auch gefordert werden könnte. Ob diese Situation tatsächlich so besteht und konkrete Folgen für das Entscheidungsverhalten hat, kann mangels harter Fakten nicht geklärt werden. Strukturell muss diese Situation aber als potentielle Gefahr für die richterliche Unabhängigkeit und damit auch für die Qualität des Menschenrechtsschutzes beschrieben werden.

5. Ausblick

Die oben bei 4.2 beschriebenen Techniken hat der Verfasser in seiner Beratungspraxis selbst erlebt. Es ist davon auszugehen, dass es weitere gibt. Abhilfe kann hier nur ein Ministerkomitee schaffen, dessen Vollzugsabteilung personal verstärkt wird, um zeitnah solchen Techniken entgegen treten zu können.

Was die überlangen Verfahrensdauern beim EGMR selbst angeht, so wird schon seit langem und zu Recht gefordert, die Zahl der Richter, zumindest aber die Zahl der den Richtern zugeordneten Mitarbeiter deutlich zu erhöhen. Auch die weitere Reduzierung der Zahl der notwendigen Richter in einer Kammer wäre ein Schritt zur Förderung der Effizienz des EGMR. Schließlich würde eine pensionsrechtliche Absicherung der Richter einen nicht unerheblichen Beitrag zu ihrer Unabhängigkeit darstellen. Sollten diese Änderungen bzw. personellen Erweiterungen nicht stattfinden, würde der individuelle Rechtsschutz durch den EGMR weiter entwertet werden. Denn wenn immer weniger Individuen den Rechtsschutz des EGMR in Anspruch zu nehmen in der Lage oder willens sind, desto geringer wird naturgemäß auch der allgemeine rechtsstaatsfördernde Effekt der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR. Das wäre auch angesichts der bisherigen Leistungen des Gerichtshofs in höchstem Maße bedauerlich. ■

ANMERKUNGEN

[1] EGMR Eckle vs. Deutschland EuGRZ 1983, 371; vgl. auch Kühne, Hans-Heiner: Anmerkung zum EGMR-Urteil im Fall Eckle. Die Berücksichtigung und Kompensation überlanger Verfahrensdauer im deutschen Strafverfahren. EuGRZ 1983, 382.

[2] EGMR EuGRZ 1997, 210; Gast und Popp vs. Deutschland NJW 2001, 211; R. und T. vs. Portugal NJW 2001, 2692.

[3] Öztürk vs. Deutschland v. 21. 02. 1984 - 8544/79.

[4] Etwa Dewilde, Ooms und Versyp vs. Belgien v. 18. 06. 1971; Belilos vs. Schweiz v. 29. 04. 1988; weitere Nachweise bei Esser, Robert: Art. 6 EMRK. In: Löwe, Ewald - Rosenberg, Werner (Hrsg.): Strafprozessordung und das Gerichtsverfassungsgesetz. 26. Aufl., Bd. 11, De Gruyter, Berlin, 2012. 127 ff.; Kühne, Hans-Heiner: Art. 6 EMRK. In: Pabel, Katharina - Schmahl, Stefanie (Hrsg.): Internationaler Kommentar zur EMRK Carl Heymanns Verlag, Köln, Stand 2009. 285 ff.

[5] Dazu Kühne, Hans-Heiner: Strafprozessrecht. Eine systematische Darstellung des deutschen und europäischen Strafverfahrensrechts. 9. Aufl., C.F. Müller, Heidelberg, 2015. Rn. 1212.

[6] EGMR Saunders vs. UK v. 17.12.1996.; Jalloh vs. Deutschland v. 11.07.2006.; Halloran and Francis vs. UK v. 29.06.2007.

[7] EGMR Alexadr Zaicheno vs. Rumänien v. 18.02.2010.

[8] EGMR Marcello Viola vs. Italien v. 05. 10. 2006; Demebukov vs. Bulgarien v. 28.02.2008.

[9] EGMR Edwards vs UK v. 16. 12. 1992; Luboch vs. Polen v. 15.01.2008.

[10] Nachweise dazu bei Kühne, Hans-Heiner - Esser, Robert: Rechtsprechung des EGMR zur U-Haft. StV 2002, 387.

[11] EGMR Luedicke u.a. vs. Deutschland v. 28.11.1978; Katritsch vs. Frankreich v. 04.11.2010; Cuscani vs. UK v. 24.09.2012; vgl. näher Esser: aaO. Rn. 833 ff.

[12] Dazu Kühne, Hans-Heiner: Die Rechtsprechung des EGMR zur Verfahrensdauer in Strafsachen. StV 2001, 529.

[13] Etwa EMRK Gheorghe vs. Rumänien v. 15.03.2007.

[14] EGMR Mianowski vs. Polen v. 16.12.2003.

[15] Vgl. Kühne (1983): aaO. 382.

[16] Vgl. Bericht des 10. Ministerkomitees des Europarats von 2017.

[17] Vgl. hierzu ausführlich Werwie-Haas, Martina: Die Umsetzung der strafrechtlichen Entscheidungen des EGMR in Deutschland, Österreich" der Schweiz und im Vereinigten Königreich. Peter Lang, Frankfurt am Main, 2008.

[18] EGMR Fellner und andere vs. Türkei v. 11.12.2017.

[19] EGMR EuGRZ 1992, 12; Esser: aaO. Rn. 241 mit weiteren Nachweisen.

Lábjegyzetek:

[1] Der Autor ist Universitätsprofessor, Universität Trier; "doctor honoris causa", Universität Miskolc.

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