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Lajos Cs. Kiss[1]: Begegnungen mit Karl Mannheim. Mannheim-Rezeption in Ungarn (Annales, 2008., 71-118. o.)

I. Problemstellung und Begründung des Vortragsthemas

Das öffentlich-wissenschaftliche Interesse an Karl Mannheims Werk und Person in Ungarn konnte man, wie es in der ungarischen Rezeptionsgeschichte der Wissenssoziologie - mit besonderer Rücksicht auf die Rezeption des Lebenswerks des wissenschaftlichen[1] Gründers der Wissenssoziologie Karl Mannheims[2] - nachzuweisen ist, erst in den achtziger Jahren und besonders im Zeit-

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alter des Systemwandels theoretisch-praktisch rechtfertigen, begründen und anerkennen. An diesem Sachverhalt ist aber nichts selbstverständlich, deswegen drängen sich Fragen auf: Was soll es vor allem bedeuten, einen Anspruch auf Rezeption der Wissenssoziologie theoretisch-praktisch zu rechtfertigen, zu begründen und anzuerkennen, bzw. anerkennen zu lassen?[3] War und ist es nicht eine normalwissenschaftliche Selbstverständlichkeit in der ungarischen philosophisch-wissenschaftlichen Kultur, ein solches Rezeptionsunternehmen auszuführen? Wie es sich aus der Rezeptionsgeschichte herausstellen wird, ist es keine normalwissenschaftliche Selbstverständlichkeit gewesen, die Mannheimsche Wissenssoziologie in einem öffentlichen Diskurs zu rezipieren. Aus dieser Tatsache folgt sinngemäß die weitere Frage nach den möglichen Voraussetzungen einer Rechtfertigung, Begründung bzw. Anerkennung, die vorliegen müssen, damit der Anspruch auf Rezeption im Sinne der Normalität der Sozialwissenschaften geltend gemacht werden kann.

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Hinsichtlich des jetzigen Standes der Mannheim-Forschung sind diese Fragen eben deshalb mit Recht gestellt, und - freilich, wenn die Antworten richtig sind - aufschlussreich, weil Karl Mannheims Person und Werk in der zweiten Phase seiner Rezeption in den fünfziger Jahren nicht einfach herabgesetzt und abgewiesen, sondern im Interesse einer total-totalitär interpretierten Vernunftrettung von Georg Lukács ideologisch enthüllt und als Feinde der Vernunft geistig völlig, in jeder Dimension seiner Geltung - sollte man sagen: auf der "noologischen Ebene" seines Denkens - vernichtet wurde. Aus dieser Faktizität seiner geistigen, hermeneutisch-virtuellen Vernichtung - die zum Zweck des Aufhaltens (Katechon) der Zerstörung der Vernunft gerade die ideologische Enthüllung der absoluten Klassenfeinde als Feinde der Vernunft bedeutete, und im Fall Mannheims die paradoxerweise virtuell auch manche persönliche Züge hatte - muss darauf geschlossen werden, dass die Wissenssoziologie in bestimmten historischen Situationen für Autoritäten verschiedener Art gefährlich war und, von den Änderungen der politisch-geistesgeschichtlichen Lage abhängig, auch gefährlich sein kann. Wir möchten damit betont nur darauf hinweisen, dass es sich im Fall Karl Mannheim nicht bloß um einen Normalfall des In-Vergessenheit-Geraten-Seins handelt, wo etwas, was einmal im eigenen Traditionsgefüge zuhanden und prinzipiell für alle erreichbar war, wegen der geringen komplexitäts(kontingenz)verarbeitenden Kapazität dieser Tradition in Vergessenheit geraten ist. Denn im Normalfall von Vergessenheit und Erinnerung kann das Vergessene ohne weiteres - mit Erhöhung des Emergenzniveaus der die geistige Überlieferung hegenden Wissenschaften - wieder in Erinnerung gerufen werden, und Rezeptionen allerlei Art bedürfen der Selbstrechtfertigung nur im Sinne der Relevanzbestimmung eines normalwissenschaftlichen Erkennens.

Wenn aber in diesem Vortrag die Frage zu beantworten ist, in welchem Sinne und warum Karl Mannheim und seine Wissenssoziologie ideologisch für ein totalitär-autoritär aufgebautes politisches System gefährlich war, dann muss man sich darüber klar werden, dass es hier im Wesentlichen um einen Ernstfall des In-Vergessenheit-Geraten-Seins geht. Und im Zusammenhang damit fragt es sich auch, ob und wie das Außerordentliche dieses Ernstfalls in die Umbruchsituation des Systemwandels hineinragt, d.h. ob die Wissenssoziologie Mannheimscher Ausprägung für das freiheitlich-rechtsstaatlich fundierte gesellschaftlich-politische System im neu geordneten Ungarn auch irgendwelche Gefahren oder Unannehmlichkeiten in sich bergen kann. Aber nicht nur das. Meines Erachtens liegt das Interessante an der Mannheim-Rezeption darin, dass sie darüber hinaus einen Spezialfall verkörpert, indem sie eine selbstreflexive Interpretationsweise - oder anders: eine Art Selbstinterpretation - des Rezeptionsvorgangs nicht einfach ermöglicht, sondern auch dazu zwingt. Dementsprechend gehen wir von der im ersten Augenblick vielleicht überraschend

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scheinenden Annahme aus, dass die Mannheim-Rezeption in Ungarn als ein sich selbst beschreibender Prozess interpretiert werden kann,[4] und wenn man die Anwendbarkeit der Wissenssoziologie für die Totalitarismusforschung nicht nur veranschaulichen will, sondern auch nach einem Erkenntnisgewinn strebt, dann soll man es tun. Aufgrund dieser Annahme wird es hier versucht, den Rezeptionsprozess wissenssoziologisch, aus der Perspektive des Untersuchungsgegenstandes selbst darzustellen. In diesem Fall geht es um eine selbstreferentielle Interpretation des Rezeptionsprozesses, das heißt, er interpretiert sich selbst. Es sei aber dazu bemerkt, dass über diesen angenommenen zirkulären Selbstbezug der Interpretation in ihrer idealtypischen Reinheit methodologisch erst in der zweiten Epoche der Rezeption, wie wir sehen werden, nach der Feinderklärung durch Lukács gesprochen werden kann.

II. Methodologische Überlegungen und Entscheidungen

Vor diesem Hintergrund der wirklichen-potenziellen Gefährlichkeit Karl Mannheims als politischer Feind soll unsere hermeneutische Position in ihren allgemeinen Zügen auf das Kürzeste dargelegt werden, damit wir einige wichtige methodische Bedingungen der Rekonstruktion des Rezeptionsprozesses interpretativ klären können. Zunächst ist ein Kriterium für die Periodisierung

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des Rezeptionsgeschehens anzugeben, das uns ermöglicht, einerseits die einzelnen Epochen voneinander abzugrenzen, andererseits sie anhand der idealtypischen "hermeneutischen" Einstellung der Rezipienten näher zu bestimmen.[5] Mittels Zuordnung der idealtypischen "hermeneutischen" Einstellungen der Rezipienten zu den einzelnen Perioden kann das Rezeptionsgeschehen als ein Prozess dargestellt werden, der sich von den totalen-totalitären Formen der Ideologiekritik zur objektiv-sachgemäßen Kritik einer von der Politik allmählich unabhängig gewordenen Wissenschaftlichkeit entwickelt. Bei der Aufstellung dieser Typologie spielt die Mannheim-Interpretation von Lukács methodologisch, wie es angedeutet worden ist, eine entscheidende Rolle.

1. Kriterium der Periodisierung. Wir gehen von der Annahme aus, dass die Grundfrage der Mannheim-Rezeption angemessen nur im Hinblick auf die Faktizitäten des Politischen in Ost-Mittel-Europa gestellt und beantwortet werden kann. Deshalb soll für die Trennung der einzelnen Epochen des Rezeptionsgeschehens der Begriff des Politischen zum Kriterium gewählt werden. Aber dieser Begriff soll, um zu unserem Erkenntniszweck geeignet gemacht zu werden, auf einer bestimmten Art und Weise neu definiert werden. Diese spezifische Bestimmungsweise bezeichnen wir als synoptisch und nehmen an, dass sich der Rezeptionsprozess mit diesem synoptischen Begriff des Politischen entsprechend periodisieren lässt und darüber hinaus ermöglicht, in die Struktur der vorher angedeuteten Selbstreferenzialität der Mannheim-Rezeption auch eine gewisse Einsicht zu nehmen. Hier handelt es sich um zwei Typen der Problemstellung und Begriffsbildung, ausgeführt in der politischen Rechtslehre Carl Schmitts einerseits, in der Wissenssoziologie Karl Mannheims andererseits, die hermeneutisch zusammengeschaut werden können.[6] Als seinsmäßig-

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reale Möglichkeitsbedingung dieser Zusammenschau muss ein einfacher Sachverhalt in Betracht gezogen werden, auf dem sich unser hermeneutischer Ansatz eigentlich gründet. Wir gehen nämlich davon aus, dass jede Feindbestimmung und Feinderklärung als Aktualisieren des Politischen im Sinne Carl

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Schmitts einer Begründung und Rechtfertigung bedarf.[7] Eben diese letzte Begründung und Rechtfertigung einer Feinderklärung ist die wichtigste Funktion aller Ideologienlehren, mit besonderer Rücksicht auf jene Weisen der politischen Weltdeutungen, die in der Ideologie und Utopie mit dem speziell-totalen Ideologiebegriff bezeichnet und interpretiert wurden.[8] In diesem Punkt der seinsmäßig-funktionellen Verwirklichung des Politischen wird die unvermeidbare Berührung der beiden Begriffsbildungsstrategien sichtbar.

Mannheim musste, wie allgemein bekannt, zweimal emigrieren. Diese Tatsache beweist ohne jeden Zweifel, dass er wegen seiner existenziellen Verwurzelung und Zugehörigkeit - als Kollaborateur, als Rassenfeind, als Klassenfeind - mehrmals zum politischen Feind erklärt worden war. Das erste Mal wurde er in Folge eines innerstaatlichen Bürgerkriegs nur zum "wirklichen",

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das zweite und dritte Mal aber nicht nur einfach zum wirklichen, sondern auch zum "absoluten" Feind erklärt, der eine allerletzte Bedrohung für die kommende, vollkommene Einheit der Menschheit verkörpert.[9]

2. Hermeneutische Einstellungen und Perspektiven. Ausgehend von Lukács's Mannheim-Interpretation lassen sich drei idealtypische Einstellungen und Perspektiven von Vernichten, Verschweigen und Ansprechen unterscheiden, die im Rezeptionsvorgang einander nicht notwendigerweise in chronologischer Reihe folgen. Die tatsächliche Reihenfolge dieser hermeneutischen Figuren der Rezeption durchs Vernichten, Verschweigen und Ansprechen, und auch die Weise ihrer konkreten Verbindungen, hängen von den konkreten Konstellationen der geistigen Konkurrenz in der jeweiligen geistesgeschichtlichen Situation

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ab. Im Zusammenhang damit muss man davon ausgehen, dass die eigentliche "hermeneutische" Ausgangslage nur mit den Verbindungskombinationen der Einstellungen, die jeweils eine spezifische Perspektive des Welthorizonts (Gegenstandes) erschließen und bestimmen, und der jeweiligen Situationen zu beschreiben ist. In diesem Punkt soll den "standortbestimmenden" Entwicklungsphasen des "Ein-Partei-Staats-Sozializmus" methodologisch eine Schlüsselrolle in der Rezeption der Wissenssoziologie zugeschrieben werden.[10]

III. Epochen der Rezeption

Es kam zu der ersten Feinderklärung in den Jahren 1918-1920, weil er während der Räterepublik vom kommunistischen Regime eine Professur an der Budapester Universität angenommen hatte. Obwohl er kein Kommunist war und sich der Kommunistischen Partei nicht angeschlossen hat, machten die offensichtli-

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chen freundschaftlichen Kontakte mit seinen zu Kommunisten gewordenen Sonntager Freunden den Kollaborationsverdacht und damit seine politische Bedrohung als wirklicher Feind des "Kursus" eindeutig.[11] Im Dezember 1919 emigrierte er nach Wien und von dort nach Deutschland. In seiner zweiten, unfreiwillig gewählten Heimat suchte Mannheim im Medium der sich kultur-und wissenssoziologisch orientierten Selbstreflexion nach einem neuen, für ihn bewohnbaren Zuhause des Geistes. Seine Suche nach ihm vollzog sich im geistigen Konkurrenzkampf im Bereich der Wissenschaft.[12] Die damalige Schicksalsfrage Mannheims und seiner Wissenschaft kann folgendermaßen formuliert werden: Was kann und soll bedeuten, im geistigen Sinne als Wissender, der dem Wesen nach im Schreiben und Lesen, in der Bildung existiert, Deutscher zu sein?

Die zweite Feinderklärung erfolgte in Deutschland während der absoluten Herrschaft des nationalsozialistischen Ein-Partei-Staates. Als stigmatisierter, absoluter Rassenfeind musste Mannheim seinen im harten geistigen Konkurrenzkampf erworbenen soziologischen Lehrstuhl in Frankfurt am Main aufgeben und sein geistiges Vaterland endgültig verlassen.[13] Durch den Verlust seiner ganzen deutschen Existenz musste er am eigenen Leibe schicksalhaft zu spüren bekommen, wie es "im irrationalen Spielraum" der Politik zugeht, wenn

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sich die innenpolitischen Gegensätze zwischen den kämpfenden Parteien innerhalb eines Staates so verschärfen, dass die politischen Gegner aus den verabsolutisierenden Sichtweisen ihren speziell-totalen Ideologien einander gegenseitig nicht als Widersacher,[14] sondern als seinsmäßig Anderer und Fremder, als einen wirklichen Feind behandeln, und einander nicht nur geistig - auf der "noologischen" Ebene -, sondern auch existentiell total vernichten wollen.

IV. Erstes Ansprechen

Die erste Epoche der ungarischen Mannheim-Rezeption (1933-1947) begann in der Tat nach dieser zweiten Feinderklärung. Ironischerweise kehrte Mannheim nach Ungarn erstmals zurück, nachdem er aus seiner gewählten geistigen Heimat vertrieben worden war und in England wieder erfolgreich versuchte, seine wissenschaftliche Laufbahn neu aufzubauen. Nach seiner zweiten Emigration, zumindest nach dem jetzigen Stand der Mannheim-Forschung, war diese Reise seine erste persönliche Begegnung mit Ungarn. In dieser Zeit wurde Mannheim in Ungarn als wissenschaftlicher Gründer der deutschen Wissenssoziologie gewürdigt, der von nun an rezipiert werden sollte. Ungeachtet dessen, dass er im Grunde genommen als deutscher Philosoph und Wissenschaftler galt, war sein Vorname in den Übersetzungen und Veröffentlichungen bis zur Mitte der vierziger Jahre (noch genauer: bis 1952) noch "Károly".[15] Zu dieser ersten persönlichen Begegnung Mannheims mit Ungarn kam es im Frühling des Jahres 1934, als er in Budapest einer persönlichen und einer offiziellen Einladung gleichzeitig folgend, im Cobden Bund einen Vortrag hielt. Der Vortrag, dessen Titel Sinn und Leidenschaft in der heutigen Gesellschaft war, wurde in Századok veröffentlicht.[16]

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Obwohl es offensichtlich nur ein Zufall sein konnte, gerade in diesem Jahr erschien aber das Hauptwerk des ungarischen Rechtsphilosophen Barna Horváth, mit dem Titel Rechtssoziologie. Probleme der Gesellschafts- und Geschichtslehre des Rechts.[17] Dieses Buch, in dem Horváth, als Endergebnis seiner lebenslang dauernden Auseinandersetzung mit der reinen Rechtslehre von Hans Kelsen,[18] eine synoptisch-prozessuale Theorie des Rechts als Rechtssoziologie zu begründen und auszuführen versuchte, enthält an entscheidenden Punkten der Theoriebildung konstruktive Hinweise auf das wissenssoziologische Werk von Mannheim.[19] Aber darüber hinaus sei dazu noch bemerkt, dass die Wissenssoziologie am Problemhorizont des Lebenswerkes, in dessen verschiedenen Entwicklungsphasen stets anwesend war. Meines Erachtens kann mit den konkreten Hinweisen und dieser Präsenz eindeutig belegt werden, wie

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viel die soziologische Begründung der Rechtstheorie dieser Art der wissenssoziologischen Fragestellung zu verdanken hat. Es soll im Folgenden versucht werden, diese Verweisungen auf die Wissenssoziologie im Vollzug der Theoriekonstruktion der synoptischen Rechtslehre in abgekürzter Form zu behandeln.

Die unvermeidliche Tendenz zur Soziologisierung der Rechtslehre

Das als Ausgangspunkt dienende Paradigma der Soziologisierung der Rechtslehre stellt für Horváth eindeutig die reine Rechtslehre Hans Kelsens dar.[20] Seiner Interpretation nach ist die reine Rechtslehre von vornherein als Rechtssoziologie konstruiert, unabhängig davon, dass sie einerseits die Soziologie als kausal-explikative Naturwissenschaft strikt ablehnt und die Soziologie von der Bestimmung des Rechtsbegriffs ausschließt, andererseits Gesellschaft und Staat als Norm, als ideale Gebilde auffasst. Nach Horváth ist die reine Rechtslehre aus den folgenden Gründen Rechtssoziologie: (a) Recht und Staat werden als Teil der Gesellschaft betrachtet;

(b) gemäß der Bedeutungsanalyse des Begriffs "der Grundnorm" wird offensichtlich, dass Kelsen mit der Ausschließung aller empirischen Inhalte von der Bedeutungskonstruktion juristischer Begriffe nur die formale, nicht aber die transzendentale Allgemeinheit der rechtswissenschaftlichen Begriffsbildung erreichte. Diese Begriffe sind zwar formal gebildet, aber die Ausschließung des Inhaltes bedeutet noch nicht, dass sie durch Abstraktion und Verallgemeinerung, von der Aspektsstruktur des Rechts als Gegenstand des Rechtserkennens

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aus betrachtet, notwendig transzendental werden.[21] Mit den formalen Begriffen jeder überhaupt möglichen Rechtslehre können nur die Möglichkeitsbedingungen der Rechtserfahrung, nicht aber die der Welterfahrung, bestimmt werden. Daraus folgt, dass die formalen Begriffe der reinen Rechtslehre nur beschränkt, im Sinne einer transzendentalen Soziologie, über die Eigenschaft der Transzendentalität verfügen könnten, die, wie Kelsen sagt, Bedingungen des positiv, inhaltlich uneingeschränkt und beliebig wandelbaren Rechts interpretativ beschreiben sollen.[22] Der Begriff der Grundnorm, mit der Kelsen das Recht vom Nicht-Recht innerhalb der Gesellschaft und Kultur trennt und auf diese Weise es als Gegenstand des rechtswissenschaftlichen Erkennens bestimmt, besitzt den Status eines a priori transzendentalen Grundbegriffs nicht;[23] er ist höchstens ein transzendental-soziologischer Begriff, auf Grund dessen die geschichtlich-soziale Wirklichkeit als objektiv geltendes Recht erfasst werden kann.

(c) In der Identifizierung seines kritischen Rechtspositivismus mit einem transzendental-logischen Naturrecht kommt der Standpunkt der Methodenreinheit zum Ausdruck, nach dem die funktional autonomen und eigengesetzlichen Sphären von Sein und Sollen funktional gleichrangig, unvermittelbar und unersetzbar sind. Die Grundnorm hat keine Aufgabe innerhalb des Stufenbaus des Rechts, das Sein zum Sollen zu transformieren. Die Rechtswirklichkeit ver-

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wandelt sich niemals in Rechtsnorm und umgekehrt. Demzufolge existiert das Recht aus Sicht der reinen Rechtslehre, die nach Kelsen als paradigmatische Rekonstruktion der Aspektsstruktur der Rechtswissenschaft überhaupt zu begreifen ist, nur in der Weise der Synopse eines Tatbestandes und einer Rechtsnorm.[24]

Von der transzendentalen versus reinen Soziologie zur synoptischen Soziologie des Rechts

Auf diesem Punkt hat Horváth die Kelsensche Auffassung mit der begrifflichen Unterscheidung der Rechtswirklichkeit und des Tatbestandes einerseits, und mit der der Rechtsnorm und des Rechtswertes andererseits korrigiert und die Grundthese der Methodenreinheit radikalisiert. Die reine Rechtslehre selbst ist und wird Rechtssoziologie, insofern die transzendental-logisch interpretierte Unterscheidung von Natur (Sein als Identität von Wirklichkeit und Tatbestand) und Geist/Normativität (Sollen als Identität von Norm und Wert) methodologisch in die synoptische Schau, die in Wahrheit eine reine funktionelle Deutung des Rechts möglich macht, überführt wird. "Transzendental an diesen Zuordnungsschemata, in dieser Konfiguration ist die reinlogische Form der Norm und der Natur allein, also etwas, was für Recht nicht spezifisch ist. Das Spezifische, das besondere Schema der Zuordnung, ist dagegen nicht transzendental, sondern nur synoptisch. Die gegenseitige Funktionalität von logischer Sollform und Seinsform mag transzendental genannt werden, die spezifische Zuordnung von Rechtswert und Rechtswirklichkeit ist es nicht. Sie bedingt nicht Erfahrung, sondern setzt sie voraus. Diese Erfahrung ist die geschichtliche Erfahrung der Gesellschaftlichkeit des Rechts. Die Rechtslogik als Normlogik ist nicht Transzendentallogik, sondern Soziallogik oder Geschichtslogik."[25] Auf diese Weise muss die als transzendentale Soziologie verstandene reine Rechtslehre sich zur synoptischen Soziologie des Rechts umwandeln, und damit ist auch das Problem der Bestimmung der anthropologischen Voraussetzung eines selbstreflexiven Rechtserkennens von der Ebene der transzendentalen Subjektivität auf die der synoptischen Deutung der Subjektivität zu verlegen.

Fazit: Das Recht ist Ideologie und Utopie

Das Recht besteht weder aus reiner Natur (Tatsachen), noch aus reiner Norm (Werten), aber man kann es nicht einmal als irgendeinen dritten Gegenstand auffassen. Demzufolge kann im rechtswissenschaftlichen Erkennen das Recht nicht als Erkenntnisgegenstand, sondern nur als ein "bloß reflexives Denkgebilde" erzeugt werden, der in Wahrheit weder in der Rechtswirklichkeit, noch

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in der Rechtsnormativität vorkommt. Das Recht kann nur eben in der synoptischen Betrachtung, das heißt, im reinen Akt des Zusammenschauens der Juristen und Rechtsgelehrten gegeben sein, auf der Weise einer gegenseitigen und unaufhörlichen Zurechnung des Seins zum Sollen, und umgekehrt, des Sollens zum Sein. Infolgedessen lässt sich Rechtstheorie weder als reine Rechtslehre (wie Kelsen behauptet), noch als reine Rechtssoziologie (wie Sander behauptet), sondern nur als Soziologie des Rechts besonderer Art auffassen, die mit der Synopse als reiner Denkmethode arbeitet und sich selbst konstruiert.[26] An-

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hand dieser grundlegenden methodologischen Einsicht der synoptischen Selbstkonstitution des Rechts und des rechtswissenschaftlichen Erkennens, die mit einer Analyse der geistesgeschichtlichen Lage der Rechtswissenschaft in der Moderne auch untermauert wurde, zieht Horváth das folgende Fazit: Das Recht, das als ein von der Aspektstruktur der Rechtswissenschaft her sich selbst synoptisch konstruierendes Gedankengebilde, als objektivierter Sinnzusammenhang betrachtet werden muss, ist seinem Wesen nach Ideologie und Utopie.[27] Wenn aber diese Schlussfolgerung "richtig" ist, dann muss jede Rechtstheorie notwendigerweise auf eine wissenssoziologische Selbstreflexion angewiesen sein.

Dieses Endergebnis weist eindeutig darauf hin, dass bei der Geburt der synoptischen Rechtslehre als Rechtssoziologie auch die Wissenssoziologie entscheidend mitgeholfen hat. Im Bewusstsein dieser konstitutiven Beziehung hebt Horváth hervor, dass seine synoptisch-prozessual gedachte Rechtssoziologie weder spekulativ, noch materialistisch sei, noch zum Soziologismus gehöre, sondern im Wesentlichen eine Wissenssoziologie des Rechts sei. "Von der Wissenssoziologie erwartet sie viel, weil auch für sie alles Wissen seinsgebunden, in der Seinslage perspektivistisch verankert ist, aber die soziologische Seinslage selbst kann nur zum "Stehen" kommen in "Geltungsbeziehungen". Ist das für uns erblickbare Sollen eine Seinsfunktion, so ist das Sein auch nur eine Funktion der Sollgeltung. Wie das uns erreichbare Wissen eine Funktion soziologischer Seinslage ist, so besteht doch auch das Letztere nicht an sich, sondern ist eine Funktion der Wahrheit und, für uns, die des diese erfassenden Wissens. Auf dieser Gegenseitigkeit muss die synoptische Rechtssoziologie beharren."[28] Nun aus diesem Zitat soll es sich herausstellen, dass es hier nicht bloß um Anwendbarkeit oder Verwertung, nicht nur um Einbeziehen der wissenssoziologischen Fragestellung in die Theoriebildung der Rechtslehre geht, sondern darüber hinaus eine Korrektion auch durchgeführt wird. Sollte man aber Horváths Argumentation näher betrachten, dann wird sich herausstellen, dass diese Korrektion eigentlich einen Ansatz zur Ausführung einer alternativen Theorie des Wissens in sich birgt, oder noch mehr: dabei handelt es sich in der Tat um eine aus der Aspektstruktur der Rechtswissenschaft heraus konstruierte Variante der Wissenssoziologie selbst.[29] Mit Rücksicht darauf kann

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man also zusammenfassend behaupten, dass Karl Mannheims Wissenssoziologie hinsichtlich auf drei Problembereiche der synoptisch-prozessualen Rechtslehre in der Theoriekonstruktion eine konstitutive Rolle spielte, die analytisch mittels zwei Grundthesen und drei weiterer Thesen folgenderweise darzustellen ist.

Erste Grundthese: Synopse ist die richtige methodologische Antwort auf die Herausforderung des Historismus. Das Recht als Teil und Aspekt der Gesellschaft auf Grund seiner wesenshaften Geschichtlichkeit und Wandelbarkeit kann weder mit der Natur, noch mit der Norm gleichgesetzt werden.[30] Da seine phänomenologisch gegebene Raumzeitlichkeit auch nur von seiner Geschichtlichkeit her angemessen denkbar ist, so muss man einen Standort mit der dazu gehörenden Perspektiven ausmachen, von dem aus diese Geschichtlichkeit, Raumzeitlichkeit und Wandelbarkeit des Rechts zu sehen und begrifflich zu reflektieren ist. Für die Rechtswissenschaft sind diese Perspektiven in der der Sozialität innewohnenden Zeitlichkeit des Rechts, in der Synopse und im Verfahren als deren spezifischer Standort gegeben. Horváth nimmt an, dass man nur mit Hilfe der Synopse (Verfahren) imstande sein kann, auf die Herausforderung des Historismus von der Seite der Rechtslehre her richtig zu antworten, ohne dass sie dabei ihre Grundhaltung, und damit ihre letzten konstitutiv-regulativen Differenzen, aufgeben müsste. An diesem methodologisch entscheidenden Punkt bezieht sich Horváth auf den Historismus-Aufsatz von Mannheim.[31]

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Zweite Grundthese: Rechtssoziologie ist Wissenssoziologie des Rechts. Horváth unternimmt es im 4. Abschnitt (Wissen und Recht) seiner Rechtssoziologie, eine Theorie des Wissens als Wissen vom Recht und als Rationalisierung des Rechts auf Grund einer "methodenrein" funktionellen Deutung darzulegen. Man darf aber diese reine funktionelle Deutung des Wissens nicht bloß als eine theoriebildende Anwendung des Mannheimschen Ansatzes betrachten, weil hier auch eine wesentliche Korrektion der Wissenssoziologie Mannheims vor-

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liegt. Im Interesse der richtigen Einordnung der hermeneutischen Varianten der Mannheim-Rezeption muss daher dieser Korrektion unbedingt Aufmerksamkeit geschenkt werden, gerade deswegen möchte ich hier vier weitere Thesen von der reinen funktionellen Deutung des Wissens kurz ausführen.

(a) Jedes Wissen konstituiert sich synoptisch. Die Struktur der synoptischen Konstitutionsweise des Wissens lässt sich vereinfacht folgenderweise darstellen: die Welt als Etwas erscheint in ihrer ursprünglichsten Unmittelbarkeit im Erlebnis, indem sie als Objekt nur durch "willens- und gefühlsbetonten Erlebnisakte" in Differenz von Akt und aktualisierten Gegenstand gegeben ist. Die Welt als Erlebtes wird begrifflich mittels reinen, vom synoptischen Aspekt der weltlichen Grunddifferenzen (Natur/Geist=Normativität; Sein/Sollen; Wirklichkeit/Wert) aus vollzogenen Denkakte verarbeitet, und durch menschliches Verhalten (Handlungsakte)[32] aktualisiert, bzw. reaktualisiert, aus denen sich die gesellschaftlichen Objektivationen (Wirtschaft, Kampf, Macht, Verfahren) aufbauen. Daraus folgt als eine Art Selbstverständlichkeit - freilich nur, wenn man die Konsequenzen, die aus diesem Sachverhalt resultieren, nicht außer Acht lässt -, dass im Wissen allerlei Art die sozial-historische Welt nur als Differenz, nicht aber als Identität erlebt, gedacht und gehandelt werden kann. Das synoptisch produzierte Wissen als gesellschaftliche Objektivation, betont Horváth, sei "ein vermittelndes, mediatisierendes Element, das die Leistung von Wirtschaft, Kampf, Macht (und Verfahren auch: L. Cs. K.) einerseits zwar zu beeinträchtigen, durch sein Dazwischengeschobensein abzubiegen und abzuschatten vermag, andererseits aber sie notwendig vermittelt."[33]

(b) Jedes Wissen ist rein "standortgebunden", doch nicht "seinsverbunden". In diesem Punkt wird der Unterschied zwischen den beiden Standpunkten am allermeisten sichtbar. Im Kontext der Rechtssoziologie kann nämlich der Ausdruck "Standortgebundenheit des Wissens" ausschließlich eine reine funktionelle Bedeutung haben, weil einem Standort jedweder Art nur gleichwertiggegenseitige Verweisungen auf die Seinslage und auf die Geltungssphäre der Gesellschaft und Kultur[34] zugerechnet werden können, und man muss sich mit der Annahme abfinden, dass die soziologische Bestimmung eines Standortes nur solche funktional equivalente und zirkuläre Verweisungen enthalten kann.

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Auf Grund dessen lässt sich durch Bestimmungen der "Standortgebundenheit" einerseits "bloß" die synoptische Konstitutionsweise des Wissens, andererseits der funktionale Zusammenhang der Leistungen der einzelnen gesellschaftlichen Objektivation sichtbar machen und begrifflich ausdrücken.[35] Im Hinblick darauf kann der richtige Sinn der folgenden Sätze verstanden werden: "Die Standortgebundenheit des Wissens selbst sorgt dafür, dass es nicht ganz inadäquat wirken kann, um so weniger als es im Sein der übrigen Objektivationen bereits konstituierend enthalten ist. Ist es adäquat, so vermittelt es rein ihre Leistung."[36] Die "Standortgebundenheit des Wissens" bedeutet einerseits eine notwendige Gebundenheit an die Aspektstruktur der Synopse und bildet andererseits - indem jede gesellschaftliche Objektivation sich selbst als Sinngebilde synoptisch aufbaut - ein funktionelles Minimum für das Fortbestehen der Gesellschaft und Kultur. Nun vor diesem Hintergrund der als reine funktionelle Betrachtung verstandenen Synopse kann man die rechtswissenschaftliche Auslegung der Problematik von Ideologie und Utopie ins rechte Licht stellen. Wenn das in den Objektivationen enthaltene Wissen inadäquat ist, dann, behauptet Horváth, "wirkt es entweder nur verhüllend (Ideologie) oder gestaltend (Utopie), welche Gestaltung dann als die Entwicklung durch die übrigen Faktoren zugleich erscheint."[37]

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(c) Die Begriffe von Ideologie und Utopie als Strukturelemente und Aspekte der Synopse sind reine Funktionsbegriffe. Aus dieser These folgt, dass man mittels der Begriffe "Ideologie" und "Utopie" nur den geschichtlichen Wandel der Rechtsentwicklung und die gegenseitigen funktionellen Leistungszusammenhänge der gesellschaftlichen Objektivationen beobachten und beschreiben kann.[38]

(d) Die Rechtssoziologie als Wissenssoziologie ist eine reflexive Theorie der Entwicklung und Rationalisierung des Rechts. Anhand dieser These kann die rechtssoziologisch-operationelle Anwendung des Mannheimschen Utopiegedankens und seiner Methodologie an Rechtsentwicklung sehr wohl untersucht und mit Rücksicht auf deren Richtigkeit auch überprüft werden. Horváth geht nämlich von der entwicklungstheoretischen Annahme aus, nach der die Möglichkeit eines kritischen Rechtsbewusstseins nur auf der Evolutionsstufe der den Traditionalismus und die Magie überwundenen Rechtsutopien entstehen konnte, und dass sich utopisches Rechtsbewusstsein allmählich in "Wissensform der Rationalisierung" verwandelte. Mannheims methodologischem Vorschlag folgend, mit Hilfe des "gegenseitigen Distanzierens, Relationierens und Partikularisierens" der konkurrierenden Rechtsutopien kann man ein kritisches, selbstreflexives Rechtsbewusstsein zustande bringen, "das die Rechtsutopien mobilisiert oder dynamisiert und dadurch dem utopischen Rechtsbewusstsein zu einem selbsttranszendierenden Wandel verhilft."[39] Dementsprechend muss die Rationalisierung des Rechts durch Verfahren ebenfalls als ein synoptisch erfassbares Phänomen betrachtet werden, dessen Beschreibung Irrationalität (Magie und Tradition) und Rationalität (Rezeption und Rechtsutopie) der Rechtsentwicklung gleichzeitig zu umfassen und deutend zu erklären vermag. Eben darin liegt das Rätselhafte, das jede Rationalisierung und auch jede Beo-

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bachtung der Rationalisierung dazu zwingt, sich selbst durch Setzung und EntSetzung des Rationalen und Irrationalen zu paradoxieren und zu entparadoxieren. Horváth war davon überzeugt, dass der auf diese Weise begründete kritische Rationalismus seiner Rechtssoziologie allein imstande sein kann, durch Synopse (Verfahren) wirklich reflexives Wissen über ihren Gegenstand und sich selbst zugleich zu produzieren. All dies aber soll nur das besagen, dass die synoptisch-prozessuale Rechtssoziologie, dank der Wissenssoziologie Karl Mannheims, dazu befähigt wurde, selbstreferenziell etwas über seine eigene Funktion als Vermittlung aussagen zu können.

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Für den Beobachter des Rezeptionsvorgangs mag es also kein Zufall zu sein scheinen, dass die rechtssoziologische Deutung, die die Wissenssoziologie rein auf der Problemebene der Begründung (Theoriekonstruktion) thematisierte und aus der Sicht einer auf Selbstreferenzialität Anspruch erhebende Rechtserkenntnis verwertete, die erste Epoche der ungarischen Mannheim-Rezeption eindeutig bestimmt hat. Hoffentlich hat es sich aus unseren Ausführungen auch herausgestellt, warum die synoptisch-prozessuale Rechtssoziologie als die paradigmatische Ausprägung der hermeneutischen Grundfigur des Ansprechens zu betrachten ist.[40]

V. Vernichten

Die zweite Epoche der Rezeption (1952-1969) hat mit der dritten Feinderklärung im Jahre 1952 begonnen, als Karl Mannheim und seine Wissenssoziologie in Georg Lukács's berühmt-berüchtigt gewordenen Buch, in Die Zerstörung der Vernunft, mindestens durch Interpretation und virtuell, für absoluten Feind erklärt und als wissenssoziologischer Handlanger des Irrationalismus "zerstört" worden ist. Methodologisch, wie bereits angedeutet, stellt diese Feinderklärung die eigentliche hermeneutische Ausgangslage der Rezeption dar, weil dieses Werk, das unter anderen als der Prototyp des geistigen kalten Krieges galt -und freilich gilt, insofern man es in seinem richtigen Zusammenhang seiner "Genesis und Funktion" verstehen und untersuchen wollte -, die bedeutendste und langfristigste Wirkung auf die Nachkriegsgeschichte der ungarischen Mannheim-Rezeption ausübte. Gerade deswegen scheint die Behauptung gar nicht unbegründet zu sein, dass Lukács's einflussreiches Werk sich für die

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ungarische Philosophie und Sozialwissenschaft als schicksalbestimmend erwies.[41]

Die Zerstörung der Vernunft als Feinderklärung

Es wird also behauptet, dass sich Lukács - als er seine weltanschaulich-philosophische Letztentscheidung für den Rationalismus und gegen den Irrationalismus getroffen und in Buchform festgelegt hat - dem Wesen nach rein politisch, das heißt der "Logik" des Politischen gehorchend, entschieden hat. Im Zusammenhang damit vertreten wir die folgende hermeneutische These: Wenn man das Werk und darin die Mannheim-Interpretation in Wahrheit verstehen will, muss vor allem diese politische Letztentscheidung als Feindbestimmung und Feinderklärung totalitärer Art ausgelegt werden, die sich auf eine bestimmte Freund/Feind-Unterscheidung, bzw. Freund/Feind-Gruppierung (im Sinne Schmitts) bezieht und als richtungsweisender Bezugspunkt für die sich im "irrationalen Spielraum" der Politik (im Sinne Mannheims) orientierenden Handelnden dient.[42] Damit wird nur gemeint, dass dieses Werk, gerade weil es

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mit Rücksicht auf seine "theoretische" Absicht ein kritisches Gegenstück zur Wissenssoziologie selbst sein will, selbstreferenziell zu interpretieren ist. Aber nicht nur deshalb. Man muss sich auf diese Interpretationsweise einlassen, insoweit man Faktizitäten der geistesgeschichtlichen Lage, deren Produkt und paradigmatische Ausprägung sie ist, nicht außer Acht lassen will,[43] und zugleich seiner eigenen methodologischen Intention auch gerecht werden möchte.

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Die Zerstörung der Vernunft als totalitäres Umfunktionieren der Ideologienlehre

Im Folgenden sei gezeigt, dass der Unterschied zwischen der totalen und totalitären Ideologiekritik als Aktualisierungsweisen der Ideologienlehre auf entsprechender Weise nur dann geklärt werden kann, wenn man das Problem der Feindbestimmung und das der Ideologie(Utopie)bestimmung zusammen[44] behandelt. Aber eine theoretische Klärung dieser Art erfordert letzten Endes eine Interpretation jener politischen Entscheidung, die Lukács, der Logik des Politischen gehorchend, getroffen hat. Durch diese Logik wurde er vor die Alternative gestellt: Marx oder Lenin. Der Gegenstand dieser nur scheinbar theoretisch-hermeneutischer Entscheidung galt und gilt auch heute als eine der Grundfragen der marxistisch-leninistischen Tradition: Wie soll eigentlich vom Klassenstandort ausgehend, durch den die Position des wissenschaftlichen Beobachters vorbestimmt ist, das Verhältnis von Politik und Wissenschaft richtig gedeutet werden?[45] Oder anders formuliert: Wie soll eine marxistische

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Ideologienlehre richtig verstanden und konzipiert werden: als wissenschaftlichpolitische Theorie der Sozialität, die nur zur geistigen, bloß theoretisch-wissenschaftlichen Vernichtung des wirklichen Feindes ("auf der noologischen Ebene") geeignet ist, oder als praktische Theorie der Politik, die darüber hinaus schon zur faktisch-politischen Vernichtung des absoluten Feindes tauglich ist.

Die geistige Vernichtung der Kultur- und Wissenssoziologie, die Lukács unter dem Titel: Die Wehrlosigkeit der liberalen Soziologie Alired Weber, Mannheim als Übergangsphase und Bindeglied in der "von Soziologie zum Nationalsozialismus" vorschreitenden Entwicklung der deutschen Ideologie vorgeführt hat, zeigt uns ja exemplarisch, dass sich Lukács, wie es ansonsten allgemein bekannt ist, für Lenin, jedoch nicht für Marx entschied. Im Hinblick auf Lukács's Entscheidung soll man behaupten, dass durch sie die marxistische Ideologienlehre totalitär umfunktioniert worden ist. Im Folgenden wollen wir eine thesenhafte Rekonstruktion dieser von Lukács "immanente Kritik" genannten Destruktionsweise auszuführen versuchen, die "methodologisch" stets von der Faktizität einer vorherigen ideologisch-politischen Entlarvung und Vernichtung des Klassenfeindes durch "transzendente Kritik" ausgehen und sich immer nach ihr richten muss.[46]

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Beschreibung von Genesis und Funktion der Wissenssoziologie aus der Perspektive der transzendenten Kritik[47]

Im Zeitalter des Monopolkapitalismus verkörpert der Imperialismus jene fundamentale politische Herausforderung, auf die Philosophie und Soziologie mit ihren eigenen - man sollte sagen: immanenten - Mitteln eine richtige ideologische Antwort geben müssen. Aber die sich in irrationale Lebens- und Existenzphilosophie verwandelte Philosophie und die Soziologie, die als Wissenschaft selbst aus dem Geiste der Philosophie geboren wurden, gerieten in den Bann jener "verschwommenen Utopie" "von der Permanenz der relativen Stabilisierung (und nach deren Zusammenbruch: von ihrer Wiederkehr)"[48] und erwiesen sich als untauglich, dieser Provokation des in Bewegungsform des Imperialismus erscheinenden Politischen weltanschaulich-ideologisch entgegenzutreten. Die liberal gesinnte "qualifizierte deutsche Intelligenz" als angeblich "freischwebende" Trägerschicht dieser Utopie, sagt Lukács, sei ihrer ideologischpolitischen Untauglichkeit zufolge auch unfähig, mit der Synopse der Philosophie und Soziologie die wahre Wissenschaftlichkeit der Soziologie selbst und mit ihr auch Idee und Beruf der modernen Sozialwissenschaft zu retten. "Aus

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der jüngeren Generation der deutschen Soziologen ist Karl Mannheim der prägnanteste Vertreter dieser Richtung. Bei der Formierung seiner Anschauung spielen die Einwirkungen der "relativen Stabilisierung" eine noch wichtigere Rolle als bei dem älteren Alfred Weber. Darum tritt bei ihm an die Stelle von dessen offen mystisch-intuitionistischer Kultursoziologie eine skeptisch relativistische, mit der Existenzphilosophie kokettierende 'Soziologie des Wissens'."[49] Vor dem Hintergrund der transzendenten Kritik von Lukács muss also Karl Mannheims Wissenssoziologie als ein vergeblicher und ideologisch völlig nutzloser Rettungsversuch betrachtet werden, der von vornherein fehl greift und scheitert. Der von Max Weber beerbte Grundfehler liegt darin, lautet Lukács's Fazit noch am Anfang seiner immanenten Analyse, dass die Soziologie als Wissenschaft durch irrationale Philosophie und durch die relativierend-formalisierende Methodologie der Wissenssoziologie radikal neutralisiert wurde -und zu jener Zeit konnte Neutralisierung in diesem Kontext nur eins für die Soziologie bedeuten, entideologisiert und entpolitisiert zu sein.[50] Die Wissenssoziologie beraubte somit die Soziologie der eigentlichen Idee der rationalen Erkenntnis und des Berufs, politisch Stellung zu nehmen. Eben deshalb könne man, so Lukács, dieser radikal entideologisierten und entpolitisierten Wissenssoziologie nur schwer etwas Inhaltliches - das heißt etwas Politisches in Form einer letzten sinnstiftenden Stellungsnahme zum im Zeitalter des Imperialismus die Erde umfassenden Klassenkampf - entnehmen. Sogar trotz der Erfahrungen der Hitlerherrschaft bliebe seine Grundkonzeption auch unberührt.[51] Demzufolge können Mannheims Gedanken und Ausführungen bloß in jenen Punkten "wissenschaftlich" ernst genommen und akzeptiert werden, wo er zufälligerweise vermochte, einen eigenen politischen Standpunkt darzulegen.[52]

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Beschreibung der " theoretischen " Inhalte der Wissenssoziologi aus der Perspektive der "immanenten " Kritik

An dieser Stelle, um die Darlegung der Thesen der immanenten Kritik vorzubereiten, sollen wir vor allem einen Blick auf jene Charakterzüge Karl Mannheims werfen, die Lukács vor dem Hintergrund und als Folge seiner transzendenten Kritik aus dem Aspekt des Politischen heraus und ad hominem bewertend beschrieben hat. In der Schilderung von Lukács's Charakterstudie ist der schon verstorbene ehemalige geistige Weggefährte im objektiv-strukturellen Sinne als Feind erschienen, der sowohl praktisch, wie auch theoretisch handelnder Wissenschaftler als Defätist, Feigling und Abtrünniger dargestellt und zugleich abgetan worden ist. Dieser Schilderung zufolge wurde "Mannheim als Praktiker", der sich der ideologisch-politischen Sendung seiner Wissenschaft als Beruf (Rettung der Rationalität durch das Politische) hätte bewusst sein müssen, als ein Schwächling im politischen Sinne des Wortes vergegenwärtigt, den man sich eigentlich nur als eine Karikatur des geistigen Kampfes und Widerstandes gegen den Faschismus-Nationalsozialismus vorstellen kann und darf. Dieser Charakterzug wurde durch das Bild "Mannheim als Theoretiker" ergänzt, nach dem er als Agnostiker und Relativist eingestuft ist, der die Objektivität des Wahrheitskriteriums und der Wahrheitsfindung und damit die der Erkenntnis schlechthin nicht einfach verneint, sondern in der als Imperialismus verdammten Moderne auf der Art und Weise einer wissenssoziologischen Sophisterei endgültig für unmöglich erklärt.[53] Die in Zerstörung der Vernunft geübte immanente Kritik an Wissenssoziologie kann anhand einer Grundthese und vier weiteren Thesen zusammenfassend rekonstruiert werden.

Die Grundthese besteht aus zwei Behauptungen, die miteinander zusammenhängen und entscheidende wirkungsgeschichtliche Hinweise enthalten, bzw. aus Bewertungen, die sich auf die philosophische Grundlage der Theoriekonstruktion und auf das Novum der Mannheim'schen Leistung beziehen. Erstens stammen die konstitutiven Voraussetzungen und Grundgedanken der Wissens-

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soziologie, insofern sie richtig sind, aus der Ideologienlehre von Karl Marx. Der Grundgedanke der marxistischen Ideologienlehre (das Bewusstsein ist durchs gesellschaftliche Sein bestimmt) ist mit der ontisch-ontologischen Voraussetzung der Seinsverbundenheit des Denkens identisch. Aber dieser richtige gesellschaftsontologische Ausgangspunkt, der allein Objektivität und Wahrheitsfähigkeit jeder wissenschaftlichen Erkenntnis zu verbürgen imstande ist, wird durch Methode, Begriffs- und Theoriebildung der Wissenssoziologie völlig entstellt, und darüber hinaus - denn in und durch Wissenssoziologie ist der absolute Feind am Werk - verunstaltet. Nach Lukács ist die Theoriekonstruktion der Wissenssoziologie, insbesondere wenn man die Verbindung der Erkenntnistheorie mit der Ontologie in Betracht zieht, völlig verfehlt, nicht nur, weil sie sich mittels ihrer rein relationistisch-relativistischen, formalistisch-funktionalistischen Denkfigur die Soziologie radikal zu neutralisieren vermessen hat, sondern weil sie von Vornherein von einer entideologisiert-entpolitisierten pseudo-wissenschaftlichen Perspektive aus durchgeführt worden ist. Aber, wie wir sehen werden, aus dem Mangel an Politischem - oder anders: aus Entpolitisierung der Wissenschaft - folgt notwendigerweise die Unmöglichkeit, den historischen Materialismus entweder wissenschaftlich zu widerlegen, oder philosophisch zu irrationalisieren. Zweitens entbehrt die Wissenssoziologie in jeder Hinsicht der Originalität und Neuheit, denn ihre methodologisch entscheidenden Gedanken sind nur scheinbar Mannheims eigene Leistungen, sie stammen in der Tat von seinem Hintermann Max Weber, der für Mannheim zugleich als Paradigma des praktisch und theoretisch handelnden Wissenschaftlers gilt. "Der Zusammenhang mit Max Weber ist hier klar ersichtlich, nur tritt an die Stelle des Rickertschen Neukantianismus eine soziologisierte Existenzphilosophie a' la Jaspers-Heidegger. [...] Das Ergebnis der 'Mannheimschen Wissenssoziologie' ist nicht viel mehr, als eine Aktualisierung der Max Weberschen Lehre vom 'Idealtypus'."[54]

Erste These. Historischer Materialismus ist durch Relationismus nicht zu widerlegen. Es gibt keinen Unterschied zwischen Relativismus und Relationismus, weil es für die Soziologie auf der Objektseite des Erkennen keine ontisch-ontologische Gleichwertigkeit - aus synoptischer Sicht sollte man sagen: keine existenziell-funktionelle Äquivalenz - geben kann. Das Objekt des soziologischen Erkennen, ist durch konkrete Dialektik der Gesellschaftsgeschichte als Entwicklungsgeschichte des Klassenkampfes - mit einem Wort: durch das Politische - vorherbestimmt. Aus der historischen Logik des Politischen, die sich im Zeitalter der als Imperialismus verstandenen Moderne als Kampf zwischen Vernunft und Unvernunft, Rationalismus und Irrationalismus konkretisiert, muss darauf geschlossen werden, (a) dass sich Formen des richtigen Be-

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wusstseins jeweils Formen des falschen Bewusstseins entgegensetzen, und umgekehrt, (b) dass Relationismus nur eine der verschleierten Arten des Relativismus sein kann, und zum Schluss, (c) dass die Alternative von Absolutismus und Relativismus nicht zu überwinden ist. Wenn man Soziologie als objektiv-rational erkennende Wissenschaft betreiben will, dann muss man der konkret politischen Logik des Erkenntnisgegenstandes - oder anders formuliert: der Logik des Politischen selbst - gehorchen. Dies kann aber nur bedeuten, dass im Interesse der objektiven Erkenntnis auf der Subjektseite zum Politischen Stellung genommen werden muss, weil man in der Moderne immer und immer wieder, ohne es zu wollen, vor einer unüberwindbaren Alternative gestellt ist: Absolutismus oder Relativismus, Rationalismus oder Irrationalismus, Marxismus-Leninismus oder Faschismus-Nationalsozialismus. Wenn man (nämlich der Soziologe) politisch nicht Stellung nehmen will, dann wird die Geschichte ohne und gegen ihn Stellung nehmen.[55] Wenn man mit der Annahme von Relationismus und Synopse (funktionelle Äquivalenz der möglichen Erkenntnisobjekte und der möglichen Erkenntnissubjekte) und mit der Differenzierung des speziell-totalen und des allgemein-totalen Ideologiebegriffs[56] die soziologische Erkenntnis radikal entideologisiert und entpolitisiert

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hat, dann - weil dadurch das Objekt von Vornherein verfälscht ist - hat man keine Möglichkeit mehr, den sich auf der Ebene des speziell-totalen Ideologiebegriffs bewegenden historischen Materialismus zu widerlegen. Wenn die Soziologie als Wissenschaft im Sinne von Weber und Mannheim den historischen Materialismus bewältigen wollte, dann müsste sie sich selbst wiederum faktisch und praktisch sozusagen "zurück" politisieren und ideologisieren.

Zweite These. Historischer Materialismus ist durch Synopse von Existenzphilosophie und Soziologie nicht zu irrationalisieren. Mannheim hat die Existenzphilosophie "soziologisiert" und die Soziologie "entökonomisiert", um durch Irrationalisierung des historischen Materialismus das Werk der Neutralisierung der modernen rationalen Wissenschaft vollenden zu können. Da Seinsverbundenheit jedes Denkens und Erkennens bloß als "Situations- und Funktionsgebundenheit", bloß als abstrakt-formale Gleichwertigkeit des "existierenden" Menschen und Menschengruppen etc., also ausschließlich in ihrer Seinsrelativität zu denken ist, kann man beliebige Irrationalität durch formalisierend-funktionalisierende Begriffsbildung in den historischen Materialismus hineinprojizieren. Dazu mussten nur zwei parallele theoretische Schritte getan werden. Der erste Schritt zur Irrationalisierung wurde mit der "Entökonomisierung der Soziologie" durchgeführt: "Mannheim sagt in seinem späteren Werk, Konkurrenz und Regulierung seien keine ökonomischen, sondern "allgemeine soziologische Prinzipien" [...] Durch diese abstrahierende Entfernung von der objektiven ökonomisch-sozialen Wirklichkeit wird es erst möglich, "irrationale Motive" im historischen Materialismus zu entdecken. Mannheim betrachtet demzufolge die Methode des historischen Materialismus als "Synthese zwischen Intuitionismus und extremen Rationalisierungswollen."[57] Aber die "ökonomisch-soziale Wirklichkeit" kann nach Lukács nur als pure Manifestation des Politischen aufgefasst werden, wie es sich aus dem zweiten Schritt zur Irrationalisierung durch "Soziologisierung der Existenzphilosophie" erhellt. Durch Synopse von Philosophie und Soziologie dieser Art wird nämlich sowohl die reale, als auch die ideale Möglichkeit einer rational-planmäßigen Eroberung und Beherrschung der Gesellschaft durch revolutionäre Politik nicht nur in Frage gestellt, sondern völlig ausgeschlossen. Wenn das Politische als revolutionäre Entscheidung in den irrationalen Spielraum in beliebigen Augenblicken und in beliebigen Formen einbrechen könnte, dann wäre so etwas wie rational-strategisches Handeln in und durch Politik schlicht unmöglich. An dieser Stelle seines Buches behauptet Lukács, obwohl sich seine Argumentation scheinbar auf der Ebene einer Philosophiegeschichte als Problemgeschichte bewegt, dass diese Art Irrationalisierung des Politischen durch Chiliasmus und Anarchismus politisch unannehmbar und für ihn persönlich auch

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unerträglich wäre: "Die revolutionäre Situation, nach Mannheims Ausdruck: der 'Augenblick' erscheint als irrationale 'Lücke'. [...] Die im Marxismus so konkrete Dialektik der Revolution wird bei Mannheim ebenso kierkegaardisiert, wie die Neuhegelianer die Dialektik überhaupt kierkegaardisiert haben. Der so aufgefasste, d.h. dem extremen Relativismus entsprechend angepasste, lebensphilosophisch-irrationalistisch gemachte historische Materialismus Mannheims Ansicht hat große Verdienste, jedoch auch den Fehler, dass er die ökonomisch-soziale Struktur der Gesellschaft 'verabsolutierte'."[58] In diesem Punkt wird der Unterschied zwischen den beiden entgegengesetzten Auffassungen des Politischen sichtbar: von der Wissenssoziologie her wurde das Politische nur als Handeln und Entscheiden im "irrationalen Spielraum" - der weder durch irgendeine dialektische Logik des Geschichtsprozesses, noch durch andere außenpolitische Instanzen vorherbestimmt werden kann - radikal entpolitisiert und nur für Zwecke eines wertfreien (Max Weber) oder wertenden (Karl Mannheim) Erkennens angewendet;[59] dagegen wurde das Politische vom Leninismus ausgehend durch Lukács's Interpretation durchpolitisiert, was eigentlich mit "durchrationalisiert" gleichbedeutend ist. Die Unterscheidung zwischen richtigem und falschem Bewusstsein kann man niemals und durch keinerlei Wissenssoziologie aus der Gesellschaftsgeschichte wegdenken, weil deren Kriterium im Politischen wesenhaft verankert ist. Demzufolge kann nur derjenige das Rationalitätskriterium besitzen, der über das Monopol des Politi-

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schen und dessen öffentliche Auslegung verfügt; und derjenige, der darüber faktisch allein verfügt, kann nicht nur jede Irrationalität der Gesellschaft für einen wirklichen Feind erklären, sondern er ist auch in der Lage, sie durch Verabsolutisierung des Wirklichen zu einem absoluten Feind aus der Gesellschaft vollkommen und endgültig auszurotten.

Dritte These. Die verschiedenen konkurrierenden Formen und Stile des politischen Denkens sind nicht gleichwertig. Mit Bezug auf die wissenssoziologischen Axiome des Relationismus und der existenziell-funktionellen Äquivalenz der standortgebundenen politischen Denkstile und Formen lässt sich die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Politik oder die der Politik als Wissenschaft weder begründen, noch rechtfertigen. "Mannheim steht auf einem extrem formalistischen Standpunkt, von welchem aus nur eine ganz abstrakte Typologie der jeweils möglichen Stellungnahmen gewonnen werden kann, ohne über sie sachlich Wesentliches aussagen zu können. Diese Abstraktheit des Typologisierens geht bei Mannheim so weit, dass seine einzelnen Typen die heterogensten, in sich widerspruchsvollsten Richtungen umfassen, nur um in der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit eine übersichtliche, beschränkte Anzahl von Typen aufzeigen zu können."[60] Dementsprechend vermag die Wissenssoziologie mit ihrer idealtypischen Methodologie das Politische nur noch rein formell-funktionell zu erfassen, und damit begeht sie einen politischen Grundfehler. Unter anderem zeigt sich dieser ja vorbildlich darin, wie Mannheim "als einheitlichen Typen einerseits Sozialdemokratie und Kommunismus, andererseits Liberalismus und Demokratie identifiziert."[61] Und dieser politische Fehler der Wissenssoziologie scheint umso ernster zu sein, wenn wir beachten, dass Lukács in dieser Streitfrage der Erkenntnisweise[62] von Mannheim gegenüber auf den Standpunkt eines echten, und nicht bloß virtuellen absoluten Feindes, auf den eines Carl Schmitts positiv Bezug nimmt. "Der offene Reaktionär C. Schmitt ist ihm hierin, wie wir sehen werden, weit überlegen: dieser sieht im Gegensatz von Liberalismus und Demokratie ein wichtiges Problem der Gegenwart."[63] Hier kann aber eine korrigierende Bemerkung nicht nur unerlässlich, sondern auch aufschlussreich sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat sich Lukács in diesem Punkt absichtlich, wohl aber für uns exemplarisch, geirrt,

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weil Mannheims interpretative Beschreibung des Liberalismus in Ideologie und Utopie, die auch als eine Art synoptische Sachkritik ausgelegt werden kann, unmissverständlich ist.[64] Andererseits könnte man Carl Schmitt in Begriff des Politischen gleichfalls die Sünde des Formalismus seiner juristischen Begriffsbildung nachweisen, was Lukács im nächsten Abschnitt (VI. Präfaschistische und faschistische Soziologie: Spann, Freyer, C. Schmitt) seines Werkes auch getan hat. Nur derjenige kann imstande sein, die Möglichkeitsbedingungen einer wissenschaftlichen Politik oder die der Politik als Wissenschaft richtig zu bestimmen, der eine substantiv-rationelle Auffassung über das Wesen des Politischen und dessen Rationalitätskriterium zur Verfügung hat, und zugleich fähig und entschlossen genug ist, sie jederzeit aus seinem eigenen Standort heraus zu handhaben.

Vierte These. Es gibt kein "Freischweben", keine "mittlere Position", keine von der binären Logik des Politischen irgendwie " unabhängige " Intelligenz in der Gesellschaftsstruktur; einen solchen "Standort" kann man sich nicht einmal als Möglichkeit vorstellen. Das Zeitalter der relativen Stabilisation, einer endgültigen Nivellierung der Gesellschaft in der Gesellschaft ohne politische Entscheidung ist reine Utopie, für Lukács unbegreifbar und zugleich unakzeptabel. Er war in seinem ganzen Leben (ungefähr vom Zeitpunkt seines Beitritts zur Kommunistischen Partei) fest davon überzeugt, dass man sich den Zugang zum allein richtigen Verständnis der Strukturformen des gesellschaftlichen Seins ausschließlich auf das Politische eingelassen sich verschaffen kann, durch eine letzte Entscheidung, die jede Erkenntnis notwendigerweise aus dem wissenschaftlichen Bereich in die Politik transzendiert.

Aus den vier Thesen der immanenten Kritik, deren Beweiskraft durch transzendente Kritik bereits bewiesen wurde, geht eindeutig hervor, dass Wissenssoziologie vergeblich versuchte, den historischen Materialismus zu neutralisieren und zu entpolitisieren. Nach Lukács muss aus diesem misslungenen Unternehmen darauf gefolgert werden, dass eine geistige Kapitulation der Wissenssoziologie vor dem historischen Materialismus faktisch unvermeidbar ist.

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Lukács's Stellungnahme zum Kompetenzstreit zwischen Philosophie und Soziologie und sein verheerendes Urteil über die soziologische Aufklärung, deren erster Entwurf in Max Webers verstehender Soziologie entwickelt worden ist, kann man mit dem folgenden Zitat sehr wohl veranschaulichen: "Die tiefe Unfruchtbarkeit der soziologischen Bewegung, die von Max Weber ausgeht, zeigt sich klar in einem solchen Programm für die Vertreter jener bürgerlichen Intel-

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ligenz, die nicht ganz widerstandslos vor dem reaktionär-faschistischen Irrationalismus kapitulieren wollen, jedoch vollständig außerstande sind, ihm ein klares und entschiedenes demokratisches Programm gegenüberzustellen; ganz davon zu schweigen, dass sie in ihren erkenntnistheoretischen und soziologischen Anschauungen tief in jene reaktionäre Tendenzen verwickelt sind, aus denen, als ihre letzte Konsequenz, der Faschismus ideologisch entstanden ist. Diese Diskrepanz macht diesen, den Faschismus ablehnenden Teil der Intelligenz der faschistischen Demagogie gegenüber schwach, ja ideologisch wehrlos. Und diese Wehrlosigkeit ist, wie das Beispiel Mannheims zeigt, durch die Erfahrungen des Faschismus nicht überwunden worden."[65]

VI. Verschweigen

Nach Lukács's Feinderklärung (1952) ist Karl Mannheim zu einem gefährlichen Andersdenker geworden und auch geblieben bis zum Anfang der 1980er Jahre. In diesem Zeitraum des Ein-Partei-Staats-Sozialismus, den man üblich "Kádár-Ära" zu nennen pflegte, hat seine Wissenssoziologie nicht nur eine äußerliche politisch-ideologische Herausforderung verkörpert, sondern sie ist als eine immanent anwesende Gefahr der Delegitimation erschienen, durch deren "Irrationalitäts"potenz die absolute Geltung der Legitimitätsgrundlagen (Marxismus-Leninismus) des "existierenden Sozialismus" fortdauernd bedroht ist und bedroht werden kann. Deshalb ist es sicherlich kein Wunder gewesen, dass sie verschwiegen worden ist, und dass die dritte Phase der Rezeption erst im Jahre 1969 hat beginnen können.

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Diese Epoche der Rezeption hat merkwürdigerweise nicht mit Feinderklärung, sondern mit einer Übersetzung begonnen. Im Jahre 1969 erschien Karl Mannheims Generationsstudie[66] in ungarischer Sprache. Meines Erachtens zieht die

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Tatsache dieser Veröffentlichung in der Rezeptionsgeschichte der Wissenssoziologie eine klare Epochengrenze. Dieser Übersetzung soll vor allem große Bedeutung beigemessen werden, weil über Wissenssoziologie nach ihrer geistigen Vernichtung erstmal öffentlich diskutiert werden konnte, ohne ihre Kritik an der marxistischen Ideologienlehre oder an ihrem metatheoretischen Anspruch auf Begründung der Sozialwissenschaften zu erwähnen. In diesem Kontext also darf man den Ausdruck "öffentlicher Diskurs" nur in einem sehr beschränkten Sinne gebrauchen, insoweit unter Wissenssoziologie nur eine ideologisch-politisch noch annehmbare Fachsoziologie verstanden werden konnte und durfte. Deshalb konnte man Wissenssoziologie nur als Jugend- und Schulsoziologie behandeln und musste sie aus dem sich metatheoretisch orientierenden Grundlagendiskurs der Sozialwissenschaften ausschließen. Und aus diesem Sachverhalt folgte ferner, dass der durch "Zerstörung" entschiedene Kompetenzstreit zwischen Philosophie und Soziologie, noch immer der Logik des Politischen folgend - obwohl die Wissenssoziologie als Gegnerin des Marxismus-Leninismus weder zum absoluten, noch zum wirklichen Feind erklärt, sondern als Andersdenkerin, somit bloß als potenzieller Feind eingestuft worden ist - latent, unterdrückt geblieben ist. Das Monopol der metatheoretischen Begründung der Sozialwissenschaften, und damit die Kompetenz der Rechtfertigung und Anerkennung auch, hat weiterhin die sich immer mehr wissenschaftlich zeigende Weltanschauungsphilosophie des Marxismus-Leninismus besessen. Der auserwählte geistige Hüter dieser Monopolstellung, die öffentlich immer mehr mit dem politischen Begriff der Hegemonie Gramsci's gerechtfertigt und zugleich verhüllt wurde, ist Georg Lukács gewesen, der beim Schaffen des Verschweigensparadigma von der Philosophie her wiederum entscheidend mitgewirkt hat, und in dessen verspätetem Hauptwerk Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins sich der damalige Stand des Kompetenzstreites und Grundlagendiskurses vollkommen widerspiegelt hat.[67]

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Aber das Interessante an diesem Abschnitt der Rezeptionsgeschichte ist, dass inzwischen auch eine andere Übersetzung erstellt wurde, die sich im Fall Mannheims vom hermeneutischen Gesichtspunkt aus als exemplarisch erwies. Diese zweite Übersetzung setzte ein wichtiges Zeichen, das uns dazu verhelfen kann, die Paradoxie einer Rezeption durchs Schweigen zu verstehen und ihr Gesamtbild, so gut wie möglich, zu entwerfen. Am Anfang der 1970er Jahre hat man Mannheims Hauptwerk Ideologie und Utopie im Auftrag des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei (MSZMP) geheim übersetzen lassen, und genehmigt, das Werk, ohne alle offiziellen Angaben nur als so genannte nummerierte Exemplare, unter den Mitgliedern des Zentralkomitees und ihrer Anhängerschaft zu verbreiten.[68] Für die Gesamtbetrachtung des Rezeptionsgeschehens war dieses Ereignis, und das muss betont werden, durchaus paradigmatisch, insoweit seine innewohnende Doppelsinnigkeit und Halbheit eindeutig sichtbar geworden sind. Denn Doppelsinnigkeiten und Halbheiten solcher Art sind fast bei jedem Ereignis der Mannheim-Rezeption zum Vorschein gekommen; wir sollten sie eher eine "stillschweigende Rezeption ohne Feinderklärung" nennen. Die stillschweigende Rezeption gewann ohne Zweifel große Bedeutung, weil sie zusammen mit anderen Entwicklungen ermöglichte, dass Sozialwissenschaften sich allmählich von der Logik des Politischen distanzieren können.[69]

Gegen Ende der 1970er und in den 1980er Jahren, besonders in der Folge der Institutionalisierung der Soziologie als politisch genehmigte, ideologisch durch Duldung gerechtfertigte Wissenschaft und ebenso der Verwissenschaftlichung der Weltanschauungsphilosophie, wurde immer mehr über Mannheim und

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seine Wissenssoziologie publiziert und geforscht. In dieser Hinsicht sind zunächst jene wissenschaftlichen Leistungen hervorzuheben, die in erster Linie im Rahmen der Lukács-Forschung entstanden, die theoretische Ausgangslage der Mannheim-Forschung in Ungarn maßgebend bestimmten und öffentlich versuchten, die Rezeption auf der Begründungsebene durchzuführen und in Bezug auf Rechtfertigung und Anerkennung ihrer Leistungen von der Macht des Politischen zu befreien.[70] Von dieser Zeit an bewegte sich die MannheimRezeption auf zwei parallel laufenden, aber wissenschaftlich aufeinander angewiesenen Bahnen: die eine gehörte zur Philosophie, die sich selbst als reine Ideen- und Problemgeschichte radikal verwissenschaftlicht hat, die andere gehörte zur Soziologie, die sich selbst gleichzeitig als empirische Forschung und allgemeine Theorie der Sozialität verstanden hat. Die beiden Richtungen der Mannheim-Forschung waren und sind sich darüber einig, dass ohne die existentiell-funktionelle Autonomie der Wissenschaft, ohne Freiheit des Erkennens als "fundamentale Neugierde" diese Rezeptionsunternehmen überhaupt nicht auszuführen, und das rezipierte Theoriegutes für die eigene geistige Überlieferung nicht zu bewahren sind. In Anbetracht dieses stillschweigenden Konsenses zwischen Philosophie und Soziologie - man kann und soll es ohne jede Übertreibung feststellen - hat sich dieser Zeitabschnitt der Rezeption als eine Wendezeit erwiesen, weil es von nun an unmöglich zu sein schien, die öffentliche Auslegung der Welt zu monopolisieren, mindestens im Fall Karl Mannheims.

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VII. Zweites Ansprechen

Der Beginn der vierten Epoche der Rezeption im Jahre 1989 und deren Fortsetzung im Zeitalter des Systemwandels war im Grunde genommen unbemerkbar, weil Karl Mannheim und seine Wissenssoziologie mittlerweile zum Forschungsprogramm und Lehrmaterial geworden sind.[71] In der Monotonie des

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Forschungs- und Unterrichtsbetriebes - wie wir es bereits erfahren konnten -hörte man mit jenen Vorurteilen und Vorbehalten auf, anhand deren Mannheim und sein Werk ideologisch-politisch jahrzehntenlang als gefährlich beurteilt und behandelt wurden. Und es wird auch nicht anders sein, denn niemand kann prinzipiell unter den Bedingungen der rechtsstaatlichen Demokratie im vereinigten und sich vereinigenden Europa im Gebiete einer Wissenschaft, deren Autonomie durch verfassungsrechtliche Garantien geschützt ist, gefährlich sein, vorausgesetzt freilich, dass er in Wahrheit Wissenschaft betreibt. Man darf aber nie aufhören - wenn man im Sinne Karl Mannheims die Wissenschaft als ein Medium des freien Erkennens erlebt, denkt und gebraucht, die durch eine fundamentale, ununterbrochene Neugierde den Forscher vorantreibt, und die "jede andere Gruppe und jede andere Person in ihrem Anderssein begreifen

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möchte" -, Fragen zu stellen. Gerade im vollen Besitz der Erfahrung, dass seine Person und sein Werk von jetzt an nur im wissenschaftlichen Diskurs lebendig sind und wirken, sollen wir weiter fragen: Welche Herausforderungen liegen noch in Mannheims Werk für jene ungarische Philosophie und Wissenschaft, die in der vierten Phase der Rezeption einer sich radikal geänderten geistesgeschichtlichen Lage entgegensehen muss? Welche Provokationen könnte man noch aufbringen, wenn sein Werk höchstens für unangenehm, nicht aber für gefährlich gehalten werden kann? Auf Grund der bisherigen Erfahrungen des wissenschaftlichen Diskurses im Zeitalter des Systemwandels kann es nur festgestellt werden, dass in dieser Unannehmlichkeit der Wissenssoziologie besonders für die Politikphilosophie eine gewisse Provokation liegt, die ausreichend informativ ist, um wissenswert bleiben zu können.[72]

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VIII. Schlussbemerkung

Zum Schluss erinnern wir uns an Ciceros Worte: Ubi bene, ibipatria, "Dort ist mein Vaterland, wo es mir gut geht." In Anbetracht des Schicksals von Mannheim ist es aber höchst fragwürdig, wo es ihm eigentlich - im streng existenziellen Sinne des Wortes - gut gegangen ist. Die Fragwürdigkeit seines existenziellen Wohlbehagens steht fest, unabhängig davon, dass er sich im Konkurrenzkampf im Gebiet des Geistigen zweimal, sowohl in Deutschland, als auch in England, erfolgreich behaupten konnte, und dass er in England als Emigrant nicht einfach angenommen und verehrt wurde, und in seinem restlichen Leben sogar großes Ansehen genoss.[73] Gleichermaßen in Deutschland - dank der Rezeption und Wiederbelebung der Wissenssoziologie in der Nachkriegsgeschichte der deutschen Sozialwissenschaften. Jedoch nicht in Ungarn.

Gerade deshalb sollen wir eine der Grundfragen der Rezeption wieder stellen, die, weil es in der Natur des Falls Karl Mannheim liegt, eindeutig nicht beantwortet werden kann: Wenn es Karl Mannheim in Ungarn niemals wirklich gut gegangen ist, besonders nach Lukács's Feinderklärung, in welchem Sinne könnte man behaupten, dass er und seine Wissenssoziologie im Wesentlichen gleichermaßen zur ungarischen philosophisch-wissenschaftlichen Kultur gehören? Wäre seine Beziehung zu dieser Kultur, in der seine Persönlichkeit und sein Lebenswerk existenziell verwurzelt waren, niemals oder nicht so abgründig gebrochen und verwirrt gewesen, dann wäre selbstverständlich eine solche Frage sinnlos. Das Vorhaben dieses Vortrages war eben, im Geiste des zweiten Ansprechens zur Steigerung der Selbstreflexivität des Rezeptionsgeschehens beizutragen, und Karl Mannheim, zumindest theoretisch, die letzte Ehre zu erweisen, die ihm von seinen ehemaligen geistigen Weggefährten verweigert worden ist. Wir wollten zugleich zeigen, was in der Sache Rezeption in der ungarischen philosophisch-wissenschaftlichen Kultur für ihn und für sein Werk

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getan worden ist, um seine verspätete Wiederkehr nach Ungarn zu vollenden. Wir möchten glauben, dass es hier nicht bloß angedeutet, sondern auch gezeigt wurde, was noch zu tun ist, damit diese Kultur Karl Mannheims Person und Werk endgültig als ihre eigene überlieferbare Leistung aufnehmen, als einen organischen Teil ihrer eigenen geistigen Identität würdigen und bewahren kann.[74]

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Wenn man Karl Mannheim und sein Werk in der vierten Epoche seiner Rezeption trotz allem vergisst, dann wäre es nur noch ein Normalfall des In-Vergessenheit-Geraten-Seins durch Verschweigen.

Resümee - Begegnungen mit Karl Mannheim Mannheim-Rezeption in Ungarn

Die Studie beschäftigt sich mit der ereignisreichen ungarischen Rezeption des Lebenswerks von Karl Mannheim. Karl Mannheim, der während seines Aufenthaltes in Deutschland zusammen mit dem Philosophen Max Scheler die Disziplin der modernen Wissenssoziologie begründete, musste zweimal in die Emigration. In der Zeit des Kommunismus nach dem zweiten Weltkrieg galt er bis zur Wende als gefährlicher Denker und seine Werke standen auf dem Index. Die ideologisch-politische Gefährlichkeit von Mannheim wird durch den Umstand belegt, dass sein Hauptwerk aus dem Jahre 1929, Ideologie und Utopie, in Ungarn das erste Mal Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts auf Bestellung des Zentralkomitees übersetzt wurde - das Werk durfte jedoch nur "nummeriert", in begrenzter Auflage zur internen Verwendung im Zentralkomitee erscheinen.

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Die Studie geht methodologisch von der Problematisierung der ideologischpolitischen Gefährlichkeit von Karl Mannheim aus und stellt die Struktur und die bedeutenderen Ereignisse des Rezeptionsprozesses mit Hinsicht auf die Sachlichkeit seiner Erklärung zum wahren und absoluten politischen Feind vor. Zur Aufteilung der einzelnen Zeitabschnitte der Rezeption liefert der - in der politischen Rechtswissenschaft von Carl Schmitt und in der Wissenssoziologie von Karl Mannheim festgelegte - Begriff des "politischen" das Kriterium, den wir synoptisch umdeuteten, indem wir uns an die methodologischen Bedürfnisse der Ausführung gerichtet haben. Der Begriff des "politischen" ermöglicht - über die Periodisierung der Rezeptionsereignisse hinaus - auch die Bestimmung der idealtypischen hermeneutischen Attitüden und Standpunkte der Rezipienten (Anrede/Vernichtung/Verschweigen) und auf Grund dessen die empirische Analyse des Rezeptionsprozesses. Die Zeitabschnitte der Rezeption Mannheims, die gemäß der Erklärung zum politischen Feind aufgeteilt sind, können mit folgenden Attitüden charakterisiert werden: die erste Phase (19331947) mit der "Anrede", die zweite (1952-1969) mit der "Vernichtung", die dritte (1969-1989) mit dem "Verschweigen", und die bis heute andauernde vierte Phase (1989-) mit der "Anrede".

Alles in Allem wird die Tendenz der Rezeption auf Grund dieser Annäherung -und das ist zugleich die Schlussfolgerung der Studie - durch diejenige Entwicklung bestimmt, in der die totalen-totalitären Formen der Ideologiekritik schrittweise ungültig werden, und in der die Aspekte der von der Politik nach und nach unabhängig werdenden Wissenschaftlichkeit, der objektiv-sachlichen Kritik vorherrschend werden.

Summary - Encounters with Karl Mannheim Mannheim's Reception in Hungary

The essay discusses the controversies of the Hungarian reception of Karl Mannheim's works. While he lived in Germany, he and the philosopher Max Scheler laid the foundations of the modern sociology of knowledge. Political vicissitudes compelled him to emigrate from Hungary in 1919 and from Germany in 1933. In Hungary the authorities regarded his views "dangerous" and banned them between the Communist takeover of 1949 and the transition

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to a multi-party system around 1989. He was considered so harmful ideologically and politically that not until the early 1970s was his 1929 masterpiece, Ideology and Utopia, translated into Hungarian, and even then at the request of the Central Committee of the ruling Communist Party. The Hungarian translation was then made available for the top party officials only.

The paper shows the main stages in his reception in Hungary: how he was stigmatized as a political enemy in real and absolute terms. To separate the various stages of that process, the author employs the notion of "the political," which Carl Schmitt elaborated in his political-legal theory and Mannheim in his sociology of knowledge. For methodological reasons the author interprets "the political" in a synoptic manner. Interpreting "the political" in a synoptic way enables the author to define the idealized hermeneutical attitudes in Mannheim's reception. They are Ansprechen (approach), Vernichten (abolish) and Verschweigen (conceal), and those ideas facilitate an empirical analysis. The first stage in making Mannheim a political enemy was between 1933 and 1947 - "approach" - the second between 1952 and 1969 - "abolition" - the third between 1969 and 1989 - "concealment" - and the fourth between 1989 and the present - "second approach."

The message of the essay is that with time the totalitarian forms of ideological criticism gradually lost their validity to be superseded by impartial criticism, which gradually gained independence from the political sphere. ■

ANMERKUNGEN

[1] Obwohl Karl Mannheim, besonders in den früheren Phasen seiner geistigen Entwicklung, als ein sich hauptsächlich mit erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Problemen systematisch auseinandersetzender Philosoph seine Laufbahn begann, hat er nicht von dem Aspekt der Philosophie, wie Max Scheler, sondern von dem der Wissenschaft aus versucht, eine neue Disziplin zu begründen und zu gründen. Das Unternehmen Wissenssoziologie hat auf seiner sich am Ende der 1920er Jahre befestigenden Überzeugung beruht, dass die Geistes-, Kultur- oder Sozialwissenschaften empirisch-normativer Art im Medium der soziologischen Erkenntnis allmählich dazu geeignet und fähig geworden sind, die Grunderfahrung der Faktizität des ontisch-ontologischen Pluralismus der modernen Gesellschaften selbstreflexiv zu verarbeiten.

[2] Wissenssoziologie zu rezipieren war in Ungarn am Anfang gleichbedeutend mit der Rezeption des Mannheim'schen Lebenswerks. Freilich müssen dabei auch andere Rezeptionsgeschichten beachtet werden, vor allem die Rezeption von Max Webers verstehender Soziologie, die sich als eine der wichtigsten Faktoren der Entstehung bezeichnen lässt, indem sie zur theoretisch-praktischen Neubegründung der ungarischen Soziologie in den siebziger Jahren auf ausschlaggebender Weise beigetragen hat. Dieser Entstehungsprozess war teils von derjenigen Philosophie geführt und zugleich begrenzt, die in der total-autoritären Phase des EinPartei-Staats-Sozializmus nach und nach politisch-ideologisch enstalinisiert worden war und mit Namen wie Georg Lukács und Antonio Gramsci unter der Flagge der "Renaissance des Marxismus" Gefahren vermocht hatte, sich selbst fortbewegend in Richtung der Wissenschaftlichkeit bis zu einem gewissem Grade geistig zu befreien. Überdies aber soll hier noch eine vielleicht ungewöhnliche Bemerkung zu Carl Schmitts Rezeption in Ungarn mit besonderer Rücksicht auf seine Politische Theologie und auf seinen Begriff des Politischen gemacht werden, weil in diesen Werken nicht nur theoretische Ansätze, sondern auch die Darlegung und Demonstration einer möglichen Variante der Wissenssoziologie selbst bereits enthalten sind. Diese Variante, die aus dem Aspekt seiner politischen Rechtswissenschaft heraus entwickelt worden ist, wird für unsere folgenden Ausführungen gewisse methodologisehe Bedeutung gewinnen. Zur ungarischen Rezeptionsgeschichte des Lebenswerks Carl Schmitts siehe eingehender Cs. Kiss Lajos: Egy keresztény Epimétheusz (Ein christlicher Ephimetheus), Utószó (Nachwort) in: Carl Schmitt: A politikai fogalma. Válogatott politika-és államelméleti tanulmányok. (Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Ausgewählte politik- und staatstheoretische Aufsätze) (Übersetzt u. hrsg. von Cs. Kiss Lajos) Osiris -Pallas Studio - Attraktor KFT, Budapest, 2002, S. 241-286; Cs. Kiss Lajos (hrsg): Carl Schmitt jogtudománya. Tanulmányok Carl Schmittről (Carl Schmitts Rechtswissenschaft. Studien über Carl Schmitt), Gondolat Kiadó, Budapest, 2004, S. 7-145, 415-437.

[3] Im Interesse eines angemessen komplexen Umgangs mit der Mannheim-Rezeption soll zwischen den Begriffen Rechtfertigung, Begründung und Anerkennung nach ihrem Problembezug und nur im streng operationellen Sinne unterschieden werden. Der Begriff der Rechtfertigung (Legitimation) bezieht sich aufs Problem der existenziell-funktionellen Autonomie des Wissenschaftsgebietes, die die fundamentale Voraussetzung für wissenschaftliche Freiheit schlechthin bildet. Wie Mannheim damals im Jahre 1945 in seinem Carl Schmitt zu "antwortenden Bemerkungen" bewegenden Rundfunkvortrag sagte: Freiheit des wissenschaftlichen Erkennens bedeutete "eine fundamentale Neugierde, die jede andere Gruppe und jede andere Person in ihrem Anderssein begreiffen möchte". (Siehe Carl Schmitt: Ex Captivitate Salus. Erinnerungen der Zeit 1945/47 Greven Verlag Köln. 1950. S. 13.) Die Ausführbarkeit eines Rezeptionsunternehmens setzt das Vorliegen, bzw. einen gewissen Entwicklungsgrad dieser Autonomie und Freiheit von Wissenschaft voraus, durch die es überhaupt möglich wird. Im Falle der Rechtfertigung geht es vor allem um praktische Gründe. Der Begriff der Begründung bezieht sich auf das Problem des Emergenzniveaus des rezipierten Theoriebestandes, das heißt auf seine innewohnende Anschlussfähigkeit, anhand deren die durch Rezeption zurück gewonnene bzw. neu erworbene Theorie imstande sein kann, an den theoretischen Grundlagendiskussionen und empirischen Forschungen der Gegenwart emer-genzsteigernd teilzunehmen. Im Falle der Begründung geht es vor allem um "rein" theoretische Gründe. Der Begriff der Anerkennung bezieht sich auf das Problem der Akzeptanz des inner- und außerwissenschaftlichen Publikums als öffentlicher Rezipient, der das rezipierte Theoriegut als organischen Teil der eigenen geistigen Überlieferung würdigt, hegt und bewahrt. Im Falle der Anerkennung, deren Gründe jenseits der Theorie liegen, wird die Rezeption als im Kontext der Traditionsbildung gestelltes und gedeutetes Problem betrachtet.

[4] Diese Aussage impliziert, dass Mannheims Wissenssoziologie, während sie rezipiert wird, in der Tat geeignet und auch imstande ist, die Rezipienten (ungarische Philosophie und Sozialwissenschaft) unter den faktischen Bedingungen und Strukturformen der geistigen Konkurrenz von ihrem eigenen Standort her zu beobachten und zu beschreiben. In diesem selbstreferenziellen Sinn - das heißt durch reflexives Einbeziehen der dem Gegenstand (Wissenssoziologie) innewohnenden zirkulären Verkoppelung der Selbst- und Fremdreferenz der Wissenschaft in die eigene Theoriekonstruktion des Rezipienten - rezipiert die Mannheim-Rezeption wissenssoziologisch sich selbst. In der deutschen Soziologie ist es noch immer eine Streitfrage, ob die Wissenssoziologie Mannheims die Eigenart und Fähigkeit der Selbstreferenzialität in diesem Sinne habe. Niklas Luhmann, der der Wissenssoziologie Karl Mannheims diese Eigenart abspricht, geht davon aus, dass man eine ausreichend universelle Theorie der Sozialität nur dann konstruieren kann, wenn man Selbstbezug (Theoriebildung vom Erkennen des Erkennens, von der reflexiv-zirkulären Struktur der Verkoppelung des Beobachters und des beobachteten Gegenstandes im Erkennen) und Fremdbezug (Theoriebildung vom Gegenstand, die das Problem (Faktizität) des Selbstbezuges des Erkennens als Element des Gegenstandes behandelt) im Horizont der Wissenschaft (Soziologie) synoptisch, das heißt funktional, zu behandeln und zu vereinigen vermag. Siehe dazu eingehender Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1984; zur Kritik der funktionalen Systemtheorie an Wissenssoziologie Karl Mannheims siehe Niklas Luhmann: Wahrheit und Ideologie; Soziologische Aufklärung; Positives Recht und Ideologie, in: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung, Band 1. Westdeutscher Verlag, Opladen 1972 S. 54-65.; 66-91; 178-203; Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und semantische Tradition, in: Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 1. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 1980, S. 12-13.

[5] Das auf diese Weise idealtypisch konstruierte Kriterium vermag mindestens zwei Aufgaben zu erfüllen, wenn es nicht bloß als Unterscheidungsmerkmal, sondern als ein konstitutives Prinzip der verstehenden Deutung angewendet werden kann, was uns überdies möglich macht, den von den Faktizitäten des geistigen Konkurrenzkampfes um Monopol der öffentlichen Weltauslegung bestimmten Sinnhorizont für Interpretation der einzelnen Epochen zu erschließen. Dadurch lassen sich die einzelnen Epochen der Rezeptionsgeschichte als spezifische Begegnungsarten und als Typen der Auseinandersetzungen zwischen den "sozial und geistig homogenen" bzw. "sozial und geistig heterogenen" Partnern als Gegner oder Feinde wissenssoziologisch beobachten und beschreiben, und so kann die sowohl theoretisch, als auch existenziell wichtigste Frage der Rezeption geklärt werden: Wo haben die geistigen Auseinandersetzungen faktisch stattgefunden, bzw. wo werden sie in der Zukunft stattfinden: auf dem Gebiet der Politik oder der Wissenschaft?

[6] Die hermeneutische Zusammenschau und Verkoppelung dieser problembezogenen Art ist aus den folgenden theoretischen Gründen möglich: Beide Varianten gehen vom existenziellen Vorrang der Politik in der Moderne aus im Sinne eines ontisch-ontologischen Funktionalismus und setzen das Problem des Staates (totalen Staates versus rationale Verwaltung) als negativen oder positiven Bezugspunkt der Begriffsbestimmung voraus; beide Varianten definieren den Begriff des Politischen als letzte Unterscheidung (Freund/Feind versus rational/irrational), und als letzte Entscheidung (entweder/oder versus persönlich/kollektiv) im Rahmen einer gesellschaftsontologisch angelegten soziologischen Handlungstheorie mit Hilfe formal-funktionaler Operationsbegriffe; auf Grund ihrer parallelen Problemstellung und Begriffsbildung bauen beide Varianten mit solchen Operationsbegriffen (wie Handlung, Orientierung, Motiv, Unterscheidung, Entscheidung, Gruppierung, Feindbestimmung, Ideologie, Utopie, Feinderklärung etc.) von der eigenen Aspektstruktur der Rechtswissenschaft und der Wissenssoziologie her alternative Theoriekonstruktionen des Politischen funktionalistisch auf. Wie es in der Ideologie und Utopie nur andeutungsweise, das heißt in einer Anmerkung kurz ausgeführt worden ist, die Antwort auf die Frage, "Ist Politik als Wissenschaft möglich?", setzt unvermeidlich vorhergehendes Problematisieren und begriffliche Bestimmung des Politischen voraus. Dementsprechend hat Mannheim im dritten Kapitel seines Buches, ausgehend von der wissenssoziologischen Interpretation des mit dem Begriffpaar von Ideologie und Utopie umgrenzten Problemfeldes, versucht, ein alternatives Konzept des Politischen zu Carl Schmitt herauszuarbeiten. "Auch diesmal sei bemerkt, dass der hier zur Anwendung gelangende Begriff des "Politischen" im Zusammenhang mit der Korrelation "rationalisiertes Gefüge", "irrationaler Spielraum" nur ein möglicher Begriff des Politischen ist, der allerdings für das Erfassen bestimmter Zusammenhänge äußerst geeignet zu sein scheint, aber nicht zum allein möglichen hypostasiert werden darf. Will man den Gegenbegriff dazu haben, so ziehe man den Aufsatz von C. Schmitt "Der Begriff des Politischen", Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. 58, 1927, heran." (Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, Verlag G. Schulte-Blumke, Frankfurt am Main, 1978, S. 101.) Carl Schmitt wollte aber seine rein rechtswissenschaftliche Begriffsbestimmung des Politischen nicht als kontroverser Gegenbegriff zu der rein wissenssoziologischen verstanden haben, deshalb antwortete er auf die Herausforderung der Wissenssoziologie im Jahre 1932 in endgültiger Fassung seiner "kleinen Schrift" noch kürzer und ebenfalls in einer Anmerkung, wo er sie im Kontext staats- und rechtstheoretischer Hinweise mit einer indirekten Andeutung ihre völlige Irrelevanz erledigte. Schmitt zufolge habe Mannheim nämlich unreflektiert A. Schäffles Gegenüberstellung vom "laufenden (unpolitischen) Geschäft" als Verwaltung (d.h. staatlich als durch Gesetz oder Recht "rationalisiertes Gefüge") und "anderen (politischen) Geschäfte" als Politik (d. h. nicht-staatlich als "irrationaler Spielraum", der durch Gesetz oder Recht rationalisiert wird) als "orientierenden Ausgangspunkt" übernommen, und dadurch sei die Eigenartigkeit des Politischen dem Staatlichen gegenüber verfehlt worden. "Im Allgemeinen wird "Politisch" in irgendeine Weise mit "Staatlich" gleichgesetzt oder wenigstens auf den Staat bezogen. Der Staat erscheint dann als etwas Politisches, das Polititische aber als etwas Staatliches - offenbar ein unbefriedigender Zirkel." Demgegenüber hob Schmitt hervor, dass im totalen Staat des 20. Jahrhunderts, der jedes - nach der Formel "nicht-staatliche=nicht-politische" - neutralisierte und entpolitisierte gesellschaftliche Sachgebiet wirklich oder potenziell ergreife und damit die Identität von Staat und Gesellschaft faktisch-existenziell verkörpere, "infolgedessen alles wenigstens der Möglichkeit nach politisch" sei "und die Bezugnahme auf den Staat ist nicht mehr imstande, ein spezifisches Unterscheidungsmerkmal des Politischen zu begründen." (Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Duncker & Humblot, Berlin, 1996, S. 21-24.; siehe ferner Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. Duncker & Humblot, Berlin, 1995; zum Verhältnis von Mannheim und Schmitt siehe Cs. Kiss Lajos: Egy keresztény Epimétheusz (Ein christlicher Ephimetheus) S. 242., 244., 281.)

[7] Eine Feinderklärung, indem sie nur aus reinen politischen Gründen entstehen kann, muss reiner politischer Akt sein, dessen ideal- und realtypische Reinheit aber im Normalfall durch rechtlich-normative Voraussetzungen und Allgemeinheiten verdeckt sein mag. Deshalb kann man mit Bezugnahme auf die politische Theologie Carl Schmitts behaupten, dass die reine politische Bestimmtheit jeder Feinderklärung in ihrer existenziellen Reinheit - nur oder meistens - im Ernstfall zutage kommt. In dieser Hinsicht ergeben sich Unklarheiten vor allem aus dem Umstand, dass jede Feinderklärung einer vorherigen "theoretischen" Definition des Feindes bedarf, die "erkenntnissmäßig" überhaupt nur durch eine grundlegende politische Frage - wer und warum, das heißt aus welchen Gründen, Feind ist bzw. Feind sein kann, der bekämpft werden soll - beantwortet werden kann. Durch eine Definition solcher Art, die sich in der Moderne faktisch auf jedem Teilgebiet der Gesellschaft und Kultur (Religion, Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft, Recht) vollziehen kann, wird der Feind als seinsmäßig Anderer und Fremder im die spezifischen Aspekte der Teilgebiete um- und durchgreifenden geistigideologischen Konkurrenzkampf zwischen Theologie, Philosophie und Wissenschaft "theoretisch" identifiziert. Diese definitorische Identifikation des Feindes bedeutet vor allem eine "theoretische" Begründung bzw. Rechtfertigung im Sinne der "theologischen" oder "philosophischen" oder "wissenschaftlichen" Weise der Interpretation, durch die allerdings feindlichen Gruppierungen - so wie Barbaren, Heiden/Häretiker, Aristokraten, Kapitalisten, Untermenschen etc. - potenziell-virtuell sehr wohl sichtbar gemacht werden können. Doch jede Feinderklärung ist von ihrer funktionalen Bestimmtheit her gesehen stets eine Verwirklichung der ordnungskonstituierenden Entscheidungsfunktion der Politik, deren Leistung aus der eigenartigen Perspektive einer bestimmten Ideologienlehre liberaler, konservativer, sozialistischer, nationalistischer Ausprägung heraus begründet, gerechtfertigt, anerkannt werden kann und soll. Dementsprechend lässt sich eine zwar "theoretisch-definitorisch" notwendig vorbestimmte, doch "ideologisch" als existenzielle Endscheidung legitimierte Feinderklärung weder als "wissenschaftlicher", noch als "rechtlicher" Akt beschreiben, weil sie ihrem Wesen nach jeweils einen ausgeprägten ideologisch-politischen Charakter besitzt. Sollte auf den verschiedenen gesellschaftlich-kulturellen Teilgebieten über Feinderklärung(en) gesprochen werden, dann müssen (wahrscheinlich) deren Politisierung und Indoktrinierung schon im vollen Gange sein. Es sei hier analytisch angenommen, dass mit dieser im rein heuristisch-operationellen Sinne aufgefassten Unterscheidung von "theoretischen" und "ideologischen" Identifikation die begriffliche Differenz zwischen "Bestimmung" und "Erklärung" des Feindes ausreichend erläutert werden kann.

[8] Vgl. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie S. 64.,68.,70.

[9] In der Abgründigkeit der in Gestalt dieser Feinderklärungen erscheinenden existenziellen Bedrohung wurzelte Karl Mannheims geistige politische Sorge für die Zukunft der europäischen Wissenschaft und Intelligenz. Diese stets anwesende Besorgnis, die sich als das existenziell-theoretische Problem des Politischen besonders im Ernst des Ausnahmefalls der Kriege und Revolutionen anmeldete, bildete den nur existenzialanalytisch erschließbaren Hintergrund des sich allmählich entfaltenden Lebenswerks. Mannheim stand stets - wie das Autoren-Triumvirat von David Kettler, Volker Meja, Nico Stehr überzeugend ausgeführt hat - "am Rand oder an der Grenze zwischen zwei oder mehreren geschlossenen sozialen Bereichen", in einer zur Vermittlung höchst geeigneten Position zwischen Philosophie und Soziologie, zwischen "kontinentaleuropäischen und angelsächsischen Denkweisen" sowohl im Normalfall eines akademischen Gelehrten, als auch im Ernstfall eines arbeitslosen Flüchtlings. Diese Zwischenlage war aber nicht nur durch objektive Strukturen historischer Situationen determiniert, sondern durch seine persönliche Entscheidung auch mitbestimmt worden. Deshalb könnte man sagen, dass Mannheim für sich und seine Wissenschaft seine eigene persönliche "Grenzsituation" gewissermaßen zu schaffen und gestalten imstande war, in der er als ein Intellektueller ungarisch-jüdischer Abstammung in seinem bewegten Leben immer und immer wieder im vollen Bewusstsein der Realität des Scheiterns danach trachtete, diese Situation sowohl wissenschaftlich, als auch politisch womöglich frei zu wählen, zu bestimmen und verantwortungsethisch zu meistern. In diesem Sinne hat das Autoren-Triumvirat geschrieben: "Keine Daseinsbedingung hätte ihm vertrauter sein können. " (David Kettler, Volker Meja, Nico Stehr: Politisches Wissen. Studien zu Karl Mannheim. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989, S. 12-13.) Im soeben zitierten Buch wird versucht, den politischen Charakter der Wissenssoziologie und die Konstitutionsweise des politischen Wissens selbst aus der theoretischen Perspektive des von Mannheim "in einem umfassenderen Sinne" verstandenen Begriffs des Politischen zu interpretieren. Der zu Grunde gelegte Begriff des Politischen will eine stets "auf Weltveränderung ausgerichtete Aktivität" bedeuten, "die vom Willenszentrum ausgeht", und deren eigentlichen Sinn Mannheim in seiner eigenen Persönlichkeitsentwicklung durch den im Weltverhältnis liberaler Art innewohnenden Widerspruch zwischen Einstellung und Denkweise erlebnishaft in seiner spannungsvollen Unmittelbarkeit erfahren hat. (Vgl. ebd. S. 16-17.) Demzufolge ist die existentiell-theoretische Schicksalhaftigkeit des Politischen Mannheim und seiner Wissenschaft durch die Ideologie- und Utopieerfahrung des Liberalismus auferlegt worden, und davon ausgehend musste die Grundthese der Autoren formuliert werden: der Entwurf der Kultur- und Wissenssoziologie gründet sich letzten Endes auf einer subtilen Deutungsvariante des liberalen Grundgedankens der Vermittlung, durch die man sich sowohl im Bereich der Wissenschaft, als auch im Bereich der Politik zur ewigen Suche nach relativen Synthesen verpflichtet.

[10] Hier aber scheint es unvermeidlich zu sein, zum hermeneutischen Gebrauch des Begriffs "Ein-Partei-Staats-Sozializmus", der als einfache wissenschaftliche (historisch-soziologische) Situationsbestimmung zur Analyse des Rezeptionsgeschehens dient, Folgendes hinzufügen: Das Phänomen des so genannten "existierenden" Sozialismus als Problem pflegte man in Ungarn aus verschiedenen ideologischen Gesichtspunkten heraus mit dem politischen Begriff "Staatssozialismus" zu bezeichnen. Diese Bezeichnung aber wird nicht nur in der öffentlichen Gemeinrede ohne jede Bedenken gebraucht, sondern sie hat auch in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch Eingang gefunden. Dieser Sprachgebrauch weist aber eindeutig darauf hin, dass man im wissenschaftlichen Diskurs über Totalitarismus bolschewistischkommunistischer Ausprägung den politischen Kern dieses Systemtypus eigentlich verfehlt, indem man ihn von dem Staat als Gewaltzentrum her, aber nicht von der Ein-Partei als MacAtzentrum her zu verstehen sucht. Dadurch wird nämlich ein Missverständnis suggeriert, dass in totalitären Systemen über das Monopol des Politischen, das aus der Sicht von Max Webers verstehenden Soziologie und Carl Schmitts politische Rechtswissenschaft zugleich zu erfassen ist, faktisch der Staat verfügt, doch nicht die Ein-Partei, die in einem durch rein politische Prinzipien (z.B. Grundprinzip des "demokratischen Zentralismus") und Normen institutionalisierten Gefüge den Staat selbst nicht einfach "leitet", oder "führt", sondern in wortwörtlichem, d.h. staatsrechtlichem Sinne des Wortes "verwaltet". Man soll zum Beispiel beachten, dass das ideologisch-politische Grundprinzip des "demokratischen Zentralismus", als konstitutiv-regulatives Prinzip der politischen Ordnung, im Wesentlichen die Funktion einer "politischen Grundnorm" erfüllt hat. Das besagt nur, dass es als letzte Grundlage der normativen Geltung einzelner politischer Entscheidungen als Normen galt, indem es ihre politisch-normative Geltung begründete und rechtfertigte; sogar könnte man auch sagen: es "verbürgte" für sie. In diesem Gefüge des Ein-Partei-Systems konnte der Staat nur als "Maßnahmenstaat" funktionieren und wissenschaftlich kann er nur als ein solcher beobachtet und beschrieben werden. Dieser Sachverhalt lässt sich mit Formeln wie "Verwaltung der Verwaltung", "übergeordnete Verwaltungsentscheidung", "Riementransmission" etc. ausdrükken. In dieser Hinsicht also soll man den Ausdruck "Staatssozialismus" als einen politischen, den "Ein-Partei-Staats-Sozialismus" als einen wissenschaftlichen Begriff bestimmen, um die strukturell-funktionelle Eigenartigkeit, den politischen Kern des kommunistischen Totalitarismus in Ostmitteleuropa nicht zu verfehlen, um die ideologische Logik des Politischen, das heißt der dem Sprachgebrauch jeder Art innewohnenden Verführung und auch Gefährdung der unbewussten ideologischen Verschleierungen loswerden zu können.

[11] Zur Interpretation der geistigen-politischen Rolle des Sonntags-Kreises an der Jahrhundertwende siehe ausführlicher David Kettler: Marxismus und Kultur. Mannheim und Lukács in der ungarischen Revolution 1918/19. Neuwied und Berlin, Luchterhand, 1967; Karádi Éva -Vezér Erzsébet (Hrsg.): A Vasárnapi Kör (Der Sonntags-Kreis). Budapest, Gondolat Kiadó, 1980; Felkai Gábor: Bevezetés. Kordiagnózis, tudásszociológia, tudományos politika (Einleitung. Zeitdiagnose, Wissenssoziologie, wissenschaftliche Politik.) in: Felkai Gábor (Hrsg.): Mannheim Károly, Új Mandátum Kiadó, Budapest, 1999, S. 7-20.

[12] Die Mannheimsche Selbstreflexion in der ersten Emigration, die nach der eigentlichen Existenzform des Geistes in der Moderne sucht, kann auch als Existenzerhellung wissenssoziologischer Art bezeichnet werden. Für die Entstehung der Kultur- und Wissenssoziologie aus der Sicht seiner Persönlichkeitsentwicklung waren existenzielle Erfahrungen - wie die Pluralität und Perspektivität der historisch-sozialen Standortgebundenheiten, die ständige Bedrohung der Autonomie und Freiheit der Wissenschaft durch Politik, und die philosophischweltanschauliche Verführung der Politik selbst - von konstitutiven Bedeutung. Siehe dazu eingehender Karl Mannheim: Heidelberger Briefe I. II. in: Gábor Éva (Hrsg.): Mannheim Károly levelezése 1911-1946. (Éva Gábor: Der Briefwechsel von Karl Mannheim 19111946) Argumentum Kiadó, MTA Lukács Archívum, Budapest, 1996, S. 231-244; Colin Loader: Mannheims Heidelberger Letters of 1922. Vortagsmanuskript, Tutzing, 2006.

[13] Seine Verzweifelung und Enttäuschung waren fast verheerend, wie es in der MannheimForschung allgemein bekannt ist. Zur Beschreibung seiner Emigrationssituation in England siehe Sigfried Ziffus: Karl Mannheim und der Mott-Kreis. Ein wenig beachteter Aspekt seines Wirkens im englischen Exil, in: Ilja Srubar (Hrsg.): Exil, Wissenschaft, Identität. Die Emigration deutscher Sozialwissenschaftler 1933-1945, Suhrkamp, Frankfurt am Main, S. 206-223.; David Kettler, Volker Meja, Nico Stehr: Politisches Wissen. Studien zu Karl Mannheim; Felkai Gábor: Bevezetés. Kordiagnózis, tudásszociológia, tudományos politika (Einleitung. Zeitdiagnose, Wissenssoziologie, wissenschaftliche Politik.) S. 18-21.

[14] Es wäre angebracht, bei der Semantik des Begriffs "Widersacher" nicht nur den Unterschied zwischen dem politischen und dem rechtlichen Handeln zu beachten, sondern auf Grund ihrer geschichtlich-semantischen Verwandtschaft auch eine Möglichkeit der Transformation zu überlegen. Es soll hier nur aus rein heuristischen Absicht an die ursprüngliche, im Zusammenhang mit dem Rechtshandeln entstandene Bedeutung des Wortes erinnert werden: in einem Rechtsstreit gegen die andere(n) Partei(en) durch "streiten", "anklagen" zu handeln, das heißt ihr(en) Standpunkt(en) (Interessen) innerhalb des Rechtsverfahrens durch "widerstreben" rückgängig zu machen.

[15] Nach seiner Emigrationen erschien im Jahre 1945 die erste größere Studie (Die Gegenwartsaufgaben der Soziologie) von Mannheim in ungarischer Sprache. In dieser Übersetzung war sein Name nicht mehr übersetzt, und der Übersetzer (József Zoltán) würdigte ihn als einen deutschen Professor, der als Weber-Schüler eigentlich nur die Lehre seines Meisters weiter entwickelte und darüber hinaus ein weltweit bekannter Vertreter der Erkenntnissoziologie wurde. (Vgl. Karl Mannheim: A jelenkori szociológia feladatai (Übersetzt von József Zoltán) Egyetemi Nyomda, Budapest, 1945.)

[16] Karl Mannheim: Értelem és szenvedély a mai társadalomban (Sinn und Leidenschaft in der heutigen Gesellschaft) Századunk, 1934. Im Jahre 1937 veröffentlichte Mannheim zwei weitere Studien in Szép Szó mit dem Titel: A társadalmi technika (Die soziale Technik); A modern háború keletkezésének pszichológiája (Psychologie der Entstehung des modernen Krieges). Der Cobden-Bund, der den Namen des englischen Ökonomen Richard Cobden trägt, entstand 1922, und er gründete 1934 die Zeitschrift "Századok" (Jahrhunderte), um den geistigen Widerstand gegenüber den europäischen totalitären Diktaturen zu unterstützen. Er existierte bis 1939. Man wollte in dieser Zeitschrift einer jeden Weltauffassung und jedem politischen Standpunkt, der nicht chauvinistisch-nationalistisch oder demagogisch ist, einen Platz einräumen. Aber dem jetzigen Stand der Forschung nach kann man nur vermuten, dass die Heimkehr von Mannheim mit der Zeitschriftgründung im Zusammenhang steht. Zu seiner zweiten persönlichen Begegnung mit Ungarn kam es im Herbst des Jahres 1937, als er auch Lajos Fülep in Zengővárkony besuchte. Zu den biografischen Angaben dieser Begegnungen siehe Gábor Éva: Mannheim Károly életének kronológiája (Éva Gábor: Chronologie des Lebens von Karl Mannheim.) in: Gábor Éva (Hrsg.): Mannheim Károly levelezése 19111946. (Éva Gábor: Der Briefwechsel von Karl Mannheim 1911-1946) Argumentum Kiadó, MTA Lukács Archívum, Budapest, 1996, S. 322-323. Zu Mannheims ungarischer Aufnahme siehe ferner Káldor György: Ideológia és utópia. Mannheim Károly könyve (Ideologie und Utopie. Mannheim Károlys Buch), Nyugat 1930, 152-153; Bibó István: Korunk diagnózisa. Mannheim Károly új könyvéhez (Diagnose unserer Zeit. Über das neue Buch von Mannheim Károly), Társadalomtudomány, XXIII, 1943, 454-474.

[17] Horváth Barna: Rechtssoziologie. Probleme der Gesellschafts- und Geschichtlehre des Rechts, Verlag für Staatswissenschaften und Geschichte, Berlin-Grunwald, 1934.

[18] Es sei hier bemerkt, dass die soziologische Begründung der Rechtstheorie dieser Art, und in vieler Hinsicht auch Horváths Lebenswerk als ein Monumentaldiskurs mit Hans Kelsen zu betrachten ist, was Kelsen selbst, mindestens theoretisch, aus der Sicht der Theoriekonstruktion seiner reinen Rechtslehre, durchaus nicht zur Kenntnis genommen hat. Dazu siehe ausführlicher Cs. Kiss Lajos: Szabadság és kényszer. Horváth Barna szellemi pályája (Freiheit und Zwang. Geistige Laufbahn von Barna Horváth. Nachwort.) in: Horváth Barna: Angol jogelmélet (Englische Rechtstheorie.) Budapest, Pallas Stúdió - Attraktor KFT, S. 569-611.

[19] Hinweise auf Mannheims Aufsätze über Historismus und Wissenssoziologie, und auf sein Buch Ideologie und Utopie befinden sich an folgenden Stellen des Hauptwerks von Horváth: erstens bei der Erörterung der Probleme der unmittelbaren positiven (§ 2; § 3; § 4) und negativen (§ 6; § 13) Voraussetzungen der Rechtssoziologie; zweitens Behandlung der Voraussetzung, des Gegenstandes, der Methode und der wissenschaftstheoretischen Ortsbestimmung der Rechtssoziologie; drittens im Abschnitt 4 über "Wissen und Recht" (Vgl. Barna Horváth: Rechtssoziologie. S. 3-14., 25-31.)

[20] Der Vollständigkeit halber soll zu dieser Behauptung noch hinzugefügt werden, dass für die Entstehung der synoptischen Rechtssoziologie jene Auseinandersetzung zwischen Fritz Sander und Hans Kelsen von ausschlaggebender Bedeutung war, in der für Horváth die theoretische Perspektive einer ihre Begrifflichkeit auf dem Grundbegriff der Norm (Sollen) im Kontext der normlogisch zu analysierenden objektiven Sinnes aufbauenden reinen Rechtslehre und die einer ihre Begrifflichkeit auf dem aus der reinen psychisch-geistigen Erfahrung gewonnenen Grundbegriff der Intentionalität (intentionaler Bezugsmomente des Bewusstseins) im Kontext der eidetisch zu beschreibenden objektiven Sinnes aufbauende reinen Rechtssoziologie in der Reinheit ihrer Strukturen klar unterscheidbar und voneinander trennbar geworden sind. Auch in seiner Selbstbiografie berichtete er über diesen Streit um die eigentliche Reinheit der Rechtslehre und betonte ausdrücklich ihre konstitutive Bedeutung für die Formulierung des Ansatzes seiner synoptischen Theorie. (Siehe Horváth Barna: Forradalom és alkotmány. Önéletrajz 1944-45-től) (Revolution und Verfassung. Selbstbiografie von 1944-45) (übersetzt u. hrsg von Nagy Endre) ELTE Szociológiai és Szociálpolitikai Intézete, 1993; Horváth Barna: Rechtssoziologie; Horváth Barna: A jogelmélet vázlata (Abriss der Rechtstheorie). Máriabesnyő - Gödöllő, Attraktor, 2004; zur Auseinandersetzung von Kelsen und Sander siehe Stanley L. Paulsen (Hrsg.): Fritz Sander-Hans Kelsen: Die Rolle des Neukantianismus in der reinen Rechtslehre. Eine Debatte zwischen Sander und Kelsen. Scientia Verlag Aalen, 1988.

[21] Das Recht, das als Regulierung sozialen Handelns durchs sich immer mehr institutionalisierende Verfahren funktioniert, existiert und gilt als Teil oder Aspekt einer Gesellschaft und Kultur. Demzufolge dürfen Begriffe und Denkmodelle einer Rechtslehre - durch die sie ihre eigene Aspektsstruktur aufbaut, um ihren Gegenstand beobachten und beschreiben zu können - nicht als Möglichkeitsbedingungen der Welterfahrung schlechthin aufgefasst werden.

[22] Nach Horváth, der zwischen formaler und transzendentaler Allgemeinheit der Begriffe unterscheidet, müssen die eigentlich transzendentalen Allgemeinbegriffe völlig a priori und rein, d.h. frei von jedweder Empirie sein. Dagegen sind die formalen Allgemeinbegriffe des Rechts und die des Rechtserkennens, obwohl der Begriff des Rechts selbst weder im Rechtsleben, noch durch die Rechtswissenschaft erfahren werden kann, immerhin notwendigerweise empirisch, insoweit nur durch sie Orientierungs- und Rechstfertigungsbedingungen für rechtbezogene theoretische und praktische Handeln überhaupt geschaffen werden können. Das Recht vom Nicht-Recht kann und soll einerseits innerhalb des Erfahrungsraumes und Erwartungshorizonts einer sozialen Welt mittels solcher Allgemeinbegriffe getrennt, andererseits anhand der so gewonnenen Unterscheidung das Recht in seiner Eigengesetzlichkeit erfasst werden. Eine Rechtslehre kann nur dann transzendental begründet sein, wenn man von der unmittelbaren Voraussetzung der Identität von Normativität und Gesellschaftlichkeit ausgeht und annimmt, dass durch den Rechtsbegriff (Norm/Sollen) das Wesen des Sozialen als Geistiges zu erfassen und zu bestimmen ist. Kelsen hätte nur in diesem transzendental-soziologischen Sinne behaupten wollen und können, dass das Soziale als Geistige mit Normativen, und die Gesellschaftsordnung als Staat mit der normativen Zwangsordnung des Rechts identisch sei.

[23] Diese gilt auch für die anderen reinen juristischen Begriffe der reinen Rechtslehre, die die Bedingungen des Erkennens des positiven, inhaltlich uneingeschränkt, beliebig wandelbaren Rechts sein sollen.

[24] Dazu siehe ausführlicher Barna Horváth: Rechtssoziologie §. 32, S. 91.

[25] A. a. O, S. 91.

[26] "Die Methode der Rechtssoziologie ist also bloß eine spezielle Technik der Anwendung der naturwissenschaftlichen und der normwissenschaftlichen Methode, eine Methode der aufeinanderbeziehenden Beobachtung der Arbeit der beiden Methoden, eine Methode der funktionalen Sicht von Sein und Sollen, kurz: eine Methode der Methoden. Sie erweitert nicht die Erkenntnis, erobert kein neues Land des Alogischen für die logische Erfassung, sondern hilft bloß, das bereits gegenständlich Eroberte, in seiner Eigengesetzlichkeit Erkannte, durch gedankliche - vom Standpunkt seiner Eigengesetzlichkeit: willkürliche - Kombination, Aufeinanderbeziehung, in seiner praktischen Verwertbarkeit zu beleuchten. Sie will durch Zerstückelung des Gegenständlichen und Zusammenlegung heterogener Gegenstandselemente ein Denkgebilde erfassen, das durch die auf es gerichtete Schau und nur in ihr lebt. Es steht der Erkenntnis nicht entgegen, sondern schwebt bloß dem Denken vor." (A. a. O, S. 62.) Nur durch Synopse kann die Rechtslehre als Rechtssoziologie das Postulat der Methodenreinheit erfüllen, das Sein und das Sollen methodenrein abbilden und das positive Recht in seinem eigenen Strukturaufbau erkennen, ohne synkretistisch oder dialektisch vorgehen zu müssen. Aber die synoptisch-funktionale Betrachtungsweise ist nicht bloß eine spezifische, in jeder Rechtslehre von vornherein irgendwie enthaltene Methode der Rechtswissenschaft, nicht bloß eine selbstreflexive Beschreibung der Konstitutionsweise des Rechts, sondern eine universelle Methode der sinnverstehenden, nicht naturwissenschaftlichen Soziologie als Gesellschaftslehre, und auf diese Weise auch eine methodische Variante der Hermeneutik, die eine selbstreflexive Beschreibung der Konstitutionsweise des Sozialen ebenfalls ermöglicht. Im Zusammenhang mit der wissenschaftstheoretischen Ortsbestimmung der Rechtssoziologie nimmt Horváth an, dass beim soziologischen Erkennen der Gesellschaft und Kultur ebenso die synoptische Methode zugrunde gelegt werden muss, weil jede sich aus objektivierten Sinngebilden als besondere Teile oder Aspekte zusammensetzenden Gesellschaft ihrer Wesensstruktur nach auch aus Natur (Tatsachen) und Norm (Werten) besteht und sich selbst durch Verfahren synoptisch konstituiert und reguliert. Das Verfahren wird als rein gegenstandbezogener Grundbegriff der Rechts- und Gesellschaftstheorie gleichfalls synoptisch konstruiert, indem er eine gedanklich-kommunikativ hergestellte Beziehung zwischen einer vorbestimmten Handlung als abstraktes Verhaltensmuster (Sollen/Wert) und einer wirklichen Handlung (Sein/Tatsache) ausdrückt und als paradoxer Bedeutungsinhalt des Begriffs stabilisiert. Nach Horváth bildet das Verfahren die unmittelbarste Grundlage des Rechts und zum Teil ist es selbst Recht. Die Soziologie untersucht ganzheitlich die totalen Zusammenhänge und möglichen Konfigurationen der Teile und Aspektstrukturen der Gesellschaft, die aus verschiedenen Konfigurationen der besonderen Aspekte der gesellschaftlichen Objektivationen (Wirtschaft, Kampf, Macht, Wissen, Verfahren) einerseits und aus den kulturellen Wertsphären andererseits besteht. Dagegen behandelt die Rechtssoziologie nur das Recht im Schnittpunkt dieser Aspektkonfigurationen. Im Hinblick darauf wird die Möglichkeitsbedingung der Selbstreflexivität der rechtswissenschaftlichen Erkenntnis des Rechts durch zirkuläre Verkoppelung der Synopse als ein methodenbezogener und des Verfahrens als ein gegenstandbezogener Grundbegriff der Rechtslehre gewährleistet.

[27] Dieser Sachverhalt anders ausgedrückt: Das Ideologische und Utopische liegt in der nur synoptisch erfassbaren Selbstkonstitution des Rechts und der Rechtserkenntnis. Siehe dazu ausführlicher unten die zweite Grundthese und besonders deren dritte These.

[28] Barna Horváth: Rechtssoziologie, S. 95.

[29] Zum Unterschied zu Mannheim, der die Voraussetzungen neukantianischer Geltungsphilosophien jeder Art mit ihrer Grunddifferenz von Sein (Wirklichkeit/Tatsache) und Sollen (Norm/Wert) völlig ablehnt, und an deren "theoretischen Standort" den Sinnbegriff stellt. In seiner Fragestellung ist die Sinnkonstitution als ein rein ontisch-ontologisches Problem erfasst, indem der wissenssoziologische Sinnbegriff von der ontisch (vortheoretisch) - ontologisch (theoretisch) bestimmten Perspektive (Aspektstruktur) einer allgemeinen Gesellschaftstheorie als Ontologie der Sozialität aus definiert wird, das heißt anhand einer rein ontologisch verstandenen Sinndifferenz, die die gängige philosophische Unterscheidung von Seiendes und Sein irgendeiner Art in Medium eines wissenssoziologisch orientierten Kritizismus wissenschaftlich zu neutralisieren trachtet. Mannheim hat im "irrationalen Spielraum" des geistigen Konkurrenzkampfes um die öffentliche Auslegung des Seins zwischen Philosophie und Soziologie versucht, das ontologische Selbstverständnis jeder Philosophie der Moderne ins rechte Licht ihrer eigenen unüberwindlichen Partikularität zu rücken und dadurch sie in durch ihre jeweilige Seinslage vorbestimmte Grenzen zurückzuweisen. In diesem Sinne wird für Mannheims Wissenssoziologie der ontisch-ontologisch konzipierte Sinnbegriff grundlegend, der gleichfalls als eine synoptisch-synthetische Konstruktion des subjektiven und objektiven Sinnes zu interpretieren ist. (Vgl. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. V. Kapitel, besonders S. 245-263.; Cs. Kiss Lajos: A tudásszociológia eszméje és hivatása (Idee und Beruf der Wissenssoziologie) in: Gellériné Lázár Márta - Karádi Éva - Cs. Kiss Lajos (Hrsg.): Mannheim - tanulmányok. Tanulmányok Mannheim Károlytól és Mannheim Károlyról. (Mannheim-Studien. Studien von Karl Mannheim und über Karl Mannheim) (Der Band wurde von Éva Karádi redigiert.) Napvilág Kiadó, Budapest, 2003, S. 158-247.)

[30] Vgl. Barna Horváth: Rechtssoziologie. § 18; Die unmittelbaren Voraussetzungen der Rechtssoziologie sind Sozialität, Geschichtlichkeit, Raumzeitlichkeit, Wandelbarkeit des Rechts.

[31] Die Historismus-Interpretation Horváths kann illustrativ wie folgt zusammengefasst werden. Im synoptischen Akt können - wie bereits ausgeführt - Natur (Sein/Wirklichkeit) und Norm (Sollen/Wert) zusammen in ihrer Gleichzeitigkeit gegenständlich als kausalwissenschaftlich und normwissenschaftlich erfasste Objekte nicht gegeben sein. In oder durch Synopse ist nur die Beziehung von beiden in ihrer Gegenseitig-Aufeinander-Bezogenheit als ein reines Gedankengebilde funktional, doch nicht gegenstandskonstituierend zu erfassen. Die Struktur der synoptischen Akten in der Rechtspraxis und theoretischen Rechtserkenntnis muss man analog-reflexiv denken können. Da sich aber der rein gedanklich-kommunikative Akt der Synopse als Zurechnungsprozess im Verfahren tatsächlich in der oder durch die Zeit vorgeht, ist das Problem der Historizität offenkundig nicht zu vermeiden. Gerade deswegen drängt sich die Frage auf: Wie kann die unentrinnbare Zeitlichkeit des synoptischen Aktes in der generalisierenden Erkenntnis der Rechtssoziologie erfasst und zugleich als Element ihrer eigenen methodologischen Voraussetzung gedacht und gesetzt werden? Wie kann die Rechtssoziologie der Provokation der Geschichtlichkeit, die seinem Gegenstand (Positivität des Rechts), der selbstreflexiven "Logik" seiner eigenen Begründung (Selbstreflexivität des Erkennens) innewohnt, gerecht werden, ohne dadurch zur individualisierenden Geschichtsschreibung (Rechtshistorie) oder zur ungeschichtlichen Naturrechtslehre (Rechtsahistorismus) zu werden. Sollte die Rechtssoziologie die These der Radikalität oder die der unvermeidlichen Selbsttranszendierens des Historismus zugleich voraussetzen, dann muss man neben den unmittelbaren positiven Voraussetzungen der Rechtserkenntnis (Geschichtlichkeit/Raumzeitlichkeit/Wandelbarkeit des Rechts) die Nicht-Identität von Recht und Geschichte (als unmittelbare negative Voraussetzung) auch annehmen, um die Möglichkeit der generalisierenden Erkenntnis, die "gleichzeitig" geschichtlich und soziologisch sein soll, begründen zu können. Nur in diesem Fall kann Rechtssoziologie der Historizität ihres Gegenstandes und der ihres Selbst gerecht werden, und wird imstande sein, die Perspektive des geschichtswissenschaftlichen und die des soziologischen Erkennens zu vereinen, ohne zu einer individualisierend verfahrenden Geschichtsschreibung zu werden. Demzufolge muss man die Geschichtlichkeit des Rechts aus dem Gesichtspunkt der Geschichtstheorie heraus und zugleich auf der Ebene der Allgemeinheit thematisieren können. "Auch die Geschichtslehre will Allgemeines über die Geschichte feststellen. Selbst wenn sie mit Konsequenz auf dem Prinzip des geschichtlichen Allwandels beharrt, behauptet sie über die Geschichte etwas Allgemeines, versteht nicht individualisierend, sondern erklärt generalisierend. Das ist der Sinn der Rede, dass der Historismus sich selbst transzendiert. Ist die absolute Einmaligkeit das Gesetz der Geschichte, so ist es immerhin ein allgemeines Gesetz der Geschichte. Es ist etwas ganz anderes das Einmalige individualisierend zu verstehen als seine Einmaligkeit generalisierend zu behaupten. Mit dieser Behauptung wird das Einmalige zum denkbar Allgemeinsten. Diese Verlegung des Absoluten in das Einmalige, die Mannheim für den letzten Sinn der Forderung Troeltsch's, die Geschichte durch die Geschichte zu überwinden, erachtet, löst auch die Spannung zwischen dem Recht und seiner Geschichtlichkeit." (Barna Horváth: Rechtssoziologie. S. 13.) Dazu soll aber auch hinzugefügt werden, dass die These der Identität und die der Nicht-Identität von Geschichte und Recht nur in der Synopse "gleichzeitig" denkbar ist, und dass man sich nur durch sie auf das Paradoxon der Historisierung und Dehistorisierung des Rechts einlassen kann. Gerade deshalb lässt sich der Historismus in der Rechtswissenschaft durch Synopse, die als eine Sichtweise und Methode des in der Moderne möglich gewordenen Entparadoxierens ebenfalls zu begreifen ist, zugleich hegen und begrenzen und in der rechtswissenschaftlichen Erkenntnis sicherstellen.

[32] Dieser Begriff des "menschlichen Verhaltens" wurde von Horváth mit dem des sozialen Handelns im Sinne der verstehenden Soziologie Max Webers gleichgesetzt. (Vgl. Horváth Barna S. 1.)

[33] Siehe a. a. O., S. 243.

[34] Horváth beschreibt die soziale Verwirklichung der Geltungssphäre mit solchen Begriffen wie Kultur und Bildung, durch die die ewigen Werte wie das Gute, das Schöne, das Wahre, das Heilige etc. positiviert werden, mit den jeweiligen Seinslagen ihrer Träger durch Handeln rein funktionell, doch nicht seinsmäßig, in Berührung kommen können, ohne ihre Ewigkeit einbüßen zu müssen.

[35] Das ist der Grund dafür, warum Horváth konsequent auf den Gebrauch des Ausdruckes "Seinsverbundenheit" verzichtete. Denn für ihn ist das Wissen von der Aspektstruktur der Synopse her betrachtet mit der Seinssphäre (Natur/Wirklichkeit) und mit der Geltungssphäre (Norm/Wert) zugleich "verbunden", freilich im Sinne der gleichwertig-gegenseitigen funktionellen Berührung der beiden Bereiche der Welt. Demgegenüber hat Mannheim, der die Wissenssoziologie als Fundamentalontologie des sozialen Seins ("Wissenssoziologie als Theorie von der Seinsverbundenheit des Denkens") in den Status einer Meta-Theorie der Philosophie, Geisteswissenschaften und der Soziologie selbst erheben wollte, gleichermaßen von den beiden Ausdrücken "Seinsverbundenheit", bzw. "Standortgebundenheit" Gebrauch gemacht. Als er im Jahre 1931 im Interesse einer normalwissenschaftlichen Rechtfertigung und der Klärung des Forschungsprogramms der Wissenssoziologie an Stelle des missverständlichen, "sehr belasteten" Wortes "Ideologie" den Begriff der "Aspektstruktur" stellte, schrieb er Folgendes: "Im wissenssoziologischen Gebrauch werden wir eben von einer "seinsverbundenen - oder standortgebundenen - Aspektstruktur" eines Denkens reden". (Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. S. 229.)

[36] Barna Horváth, S. 243.

[37] "Das Wissen von Sein und Sollen, von Natur und Norm, von Wirklichkeit und Wert der übrigen Objektivationen erweist sich als Zement der synoptischen Gebilde insofern, als durch dasselbe Wirklichkeit und Wert aneinander selektiert werden. Im Maße ihres Bewusstwerdens gehen Sein und Sollen in das Gebilde hinein. Normgründe und Ursachen bestimmen es innerhalb der Grenze ihrer Sichtbarkeit fürs Wissen, aber diese Sichtbarkeit selbst ist auch ihre, wenn auch nicht ganz adäquate, Funktion." (Barna Horváth: Rechtssoziologie, S. 243)

[38] Zur Darlegung der Utopie-Interpretation der synoptischen Rechtssoziologie siehe ausführlicher Barna Horváth: Der Sinn der Utopie, in: Barna Horváth: Probleme der Rechtssoziologie. (Hrsg. von Manfred Rehbinder) Duncker & Humblot, Berlin, 1971, S. 101-135.; Lajos Cs. Kiss: Utópia és valóság (Utopie und Wirklichkeit). Világosság 1997/11, S. 36-48.

[39] "Kritische Rationalisierung transzendiert sich selbst insofern, als sie die Grenzen der Rationalisierung berücksichtigt. Sie sieht die Standortgebundenheit jeder Rationalisierung ein. Sie erblickt die Relativität der Rationalitätskriterien, die Perspektivität und Transformation des Rationalisierungsprozesses. Sie weiß, dass es absolute Kriterien der Rationalität nicht geben kann, weil jede geschichtliche Perspektive nur ganz bestimmte Teilaspekte als irrational und als rational erblickt, dass daher der Prozess notwendigerweise einer Transformation unterworfen ist, dass das Recht sich zu gleicher Zeit rationalisiert und irrationalisiert. Sie baut die Irrationalität des Rechts in ihren Rationalisierungsplan ein. [...] Sie transzendiert sich selbst, weil sie einsieht, dass die radikale Rationalisierung das Recht selbst vernichten, den Untergang des Rechts bedeuten würde. Aus der irrationalen Standortgebundenheit der sozialen Sicht geboren müsste das Recht untergehen, wenn es vollkommen rationalisiert werden könnte. [...] Würde es jedoch mit diesem Ideal zusammenfallen, könnte es vollkommen rationalisiert werden, so würde es untergehen." (a. a. O., S. 249-250.)

[40] Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, das in der Tat als die erste und zugleich letzte Blütezeit der ungarischen Rechtsphilosophie zu bezeichnen ist, war die Mannheim-Rezeption weder auf politisch-ideologische Rechtfertigung, noch auf öffentliche Anerkennung angewiesen, aber das könnte das Studium der Rechtssoziologie eher nur negativ nachweisen.

[41] Georg Lukács: Die Zerstörung der Vernunft, Luchterhand, Neuwied, 1962. Dieses Werk wurde von Lukács als apologetische Kampfschrift gegen den Geist des braunen Totalitarismus in der Verteidigung und im Schutz eines roten Totalitarismus, also aus rein weltanschaulich-ideologischen Gründen verfasst. In seinem total verheerenden Angriff gegen damals noch Lebende und Tote trat eigentlich der Kompetenzstreit zwischen Weltanschauungsphilosophie und wissenschaftlichen Philosophie, zwischen Philosophie und Wissenschaft (Soziologie), zwischen Politik und Wissenschaft in seiner reinsten Form in Erscheinung, und letzten Endes handelte es sich um die allgemein- und endgültige Deutung der Idee des objektiv-rationalen wissenschaftlichen Erkennens als Beruf im Kontext des Monopolisierens der öffentlichen Weltauslegung in Ostmitteleuropa. Deshalb sei hier ausdrücklich darauf verwiesen, dass das Werk selbst als politische Kampfschrift den Interpreten zu einer bestimmten Art der Auslegung zwingt. Im Hinblick darauf wird es hier vor allem aus Plausibilitätsgründen vorgeschlagen, Lukács's Werk vor dem Hintergrund des synoptisch konstruierten Begriffs des Politischen zu verstehen und als eine Typusvariante der Verwirklichung, bzw. Transformation des Politischen in der Moderne zu interpretieren.

[42] Hier muss aber beachtet werden, dass nur eine anstaltmäßige politische Instanz (so wie ein Staat, eine Partei, eine Kirche), die über das Monopol des Politischen zu verfügen vermag, darüber entscheiden kann, wer und warum als seinsmäßig Anderer und als Fremder wirklich ein Feind ist, wer und warum ihn für einen Feind erklären muss. Diesem Sachverhalt zufolge ist Lukács's Werk als interpretative Beschreibung (Bestimmung) der Klassenfremden als Feinde aus dem Gesichtspunkt einer verabsolutierten Weltanschauungsphilosophie heraus zu betrachten, und überdies muss man sich wohl dessen bewusst sein, dass diese Feindbestimmung als Letztbegründung zugleich eine virtuelle Feinderklärung total-totalitären Zuschnitts ist. (Vgl. 7. Anmerkung) Durch diese Weise der ideologisch-politischen Letztbegründung einer Feinderklärung wird nämlich die Existenzialität (Anderssein) als seinsmäßiges Fremdsein des Klassenfeindes vollständig beseitigt, denn sie ist dadurch - wie Schmitt sagt: "über das Politische hinausgehend" - in eine andere wertmäßig-normative Ebene der Feindbestimmung verlegt, auf der der Feind in Extremen des Wertes oder des Unwertes (Nicht-Sein des Wertes) systematisch abgewertet wird. Durch diese systematische Abwertung wird der Klassenfremde als Feind der Vernunft moralisch böse, wissenschaftlich unwahr, falsch, ästhetisch hässlich, wirtschaftlich schädlich etc., das heißt ein absoluter Feind, der - indem das NichtSein des Wertes sich in ihm verkörpert -, im Selbstverteidigungsinteresse der wahren Rationalität der Menschheit ausgerottet werden kann und muss. Mit diesem durch Weltanschauungsphilosophie vollstreckten Transzendieren geht freilich "der spezifisch politische Sinn" der Worte Feind und Freund verloren. (Vgl. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. S. 37.) Der Vollstrecker (Person und Werk) selbst, der sich vom Politischen nicht mehr zu distanzieren vermag und als Glaubenskämpfer auch nicht will, wird zu einem folgenschweren politischen Mythos der Moderne, durch den "Dialektik" der formalen und materialen Rationalisierung auf paradigmatischer Weise sichtbar wird. Im Zusammenhang damit wird es weiterhin behauptet, dass die Struktur der Letztbegründung dieser Feinderklärung die Komposition des Werkes bestimmt und den gesamten Sinnzusammenhang des Textes in seiner dennotativkonnotativen Bedeutungsdimensionen prägt. Dementsprechend kann die Struktur der Feinderklärung auf das Kürzeste wie folgt dargestellt werden: Die sich für Vernunft entscheidende Freund-Gruppierung gilt als geschichtsphilosophisch auserwählter Träger des Rationalismus (existierender Sozialismus: Proletariat/Marxismus-Leninismus/Kommunismus); die sich gegen die Vernunft entscheidende Feind-Gruppierung gilt als geschichtsphilosophisch auserwählter Träger des Irrationalismus (Hitler-Regime und amerikanischer Imperialismus: Bourgeoisie als Imperialist/Faschismus-Nationalsozialismus/bürgerliches Denken/Imperialismus). Die Geschichte der deutschen Philosophie und Soziologie, beginnend mit dem deutschen Idealismus und mit der Entstehung der deutschen Soziologie, ist eine unmittelbar nach Marx weiter geschriebene Verfallsgeschichte der "deutschen Ideologie." Diese Geschichte als eine Philosophiegeschichte "von Schelling zu Hitler" ereignete sich im existenziellen Medium des Politischen, und geht letzten Endes im Mythischen und im Hitler-Regime unter. Dieser Untergang als Zerstörung der Vernunft wird von Lukács als ein rein politisches Geschehen betrachtet und erfasst, deswegen ist dieses Werk als Politikphilosophie oder anders: eine besondere Art Philosophie des Politischen zu bezeichnen. Aus diesen Gründen kann es verständlicherweise keine harmlose Weltanschauung geben, weil jede Philosophie und Wissenschaft als Ideologie sich notwendigerweise auf das Politische bezieht, sie gehört also entweder zur Freund-Gruppierung oder zur Feind-Gruppierung. Überdies aber muss man zugleich in Betracht ziehen, dass Lukács's Werk sich in Form einer offenen Kritik am Sektarianismus vom Stalinismus distanziert.

[43] Wenn man das Werk von seinem "sozialen Genesis und Funktion" her - und das besagt: rein transzendent - betrachtet, dann muss festgestellt werden, dass es hinsichtlich seines tatsächlichen Wirkungszusammenhanges und existentiell-politischen Sinnes im Interesse der Selbstverteidigung einer geistigen Großraumordnung geschrieben wurde, die faktisch durch politische Idee und Wirklichkeit des Sowjetreiches beherrscht worden war. Dieses Werk ist für uns nicht nur deswegen berüchtigt und zugleich idealtypisch geworden, weil Lukács in ihm das totale zu einer totalitären Ideologiekritik transformiert und diese als hermeneutische Vernichtungsmittel angewendet hat, sondern weil durch diese Verwandlung des Ideologiebegriffs die Selbstreferenzialität der Rezeption der Wissenssoziologie vielmehr sichtbar wird, als in der synoptisch-prozessualen Rechtssoziologie von Horváth.

[44] Nach der synoptischen Behandlungsweise muss das Problem vom Begriff des wirklichen und absoluten Feindes her einerseits, und von der Ideologie(Utopie)deutung der Ideologienlehre her andererseits reflektiert - genauer: relationiert - werden.

[45] Marx hat das Paradigma der modernen Ideologienlehre ausgearbeitet, in dessen Rahmen der folgenschwere Begriff des totalen-wirklichen Feindes (Bourgeois als Klassenfeind) und die paradigmatische Form der totalen Ideologiekritik als geistige, theoretisch-wissenschaftliche Vernichtung dieses Feindes konzipiert wurden. Die Ideologienlehre ist von Marx in Form einer auf dem Axiom des ontisch-ontologischen Vorranges des Wirtschaftlichen (Unterbau als Wirtschaft und Gesellschaftsstruktur der Wirtschaft) und auf der geschichtlich-soziologisch konzipierten Unterscheidung von Unterbau und Überbau (Ideologie) beruhenden evolutionären Gesellschafts- und Geschichtstheorie aufgebaut worden. Marx hat anhand dieser positivistischen Theorie der Sozialität und deren Historizität die existenziell-funktionelle Sonderstellung und dadurch die relative Autonomie der einzelnen Gebiete des Überbaus anerkannt, und aufgrund dessen war er noch imstande, zwischen den funktionsspezifischen Leistungen der wissenschaftlichen Erkenntnis und der ideologischen Legitimation der Politik zu unterscheiden. Das kann eben nur besagen, dass Marx als ein bürgerlicher Intellektueller und Wissenschaftler, unter den Bedingungen der durch den klassischen Liberalkapitalismus und seine parlamentarische Demokratie bestimmten geistesgeschichtlichen Lage, fähig war, die von ihm untersuchten Sachprobleme innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses zu halten, unabhängig davon, dass für ihn die Wahrheitsfrage als eine aus seinem substantiv geschichts- und politikphilosophischen Gesichtspunkt heraus von Vornherein entschiedene Angelegenheit galt. Es sei hier also daran erinnert, dass die in Wissenschaft und Politik aufgelöste Philosophie als Theorie der Sozialität noch vermochte, die Differenz von Ideologienlehre (Politik) und historischen, ökonomischen, soziologischen Forschung (Wissenschaft) in gewissem Grade aufrechtzuerhalten. Demgemäß war Marx in Wahrheit ein Positivist der Wissenschaft, der nicht zulässt, dass Philosophie als totale Kritik endgültig zur Weltanschauungsphilosophie etwa in Form des absoluten Geistes des Politischen wird. Dagegen hat Lenin als Berufsrevolutionär den Begriff des totalen-absoluten Feindes (Bourgeois als Imperialist) und das Paradigma der totalitären Ideologiekritik ausgearbeitet. Dementsprechend ist die leninistische Ideologienlehre als eine reine praktische Theorie der Politik und der geistigen-politischen Vernichtung des Feindes aus- und durchgeführt worden. In dieser praktischen Theorie von Politik wurde dem Politischen das existenzielle (ontisch-ontologische) Vorrang in paradoxer Form zuerkannt: Politik sei konzentrierter Ausdruck der Wirtschaft, die im Zeitalter des Monopolkapitalismus in der politischen Bewegungsform des Imperialismus konkret in Erscheinung getreten sei, und zur Entscheidung zwänge: entweder-oder. Lenins praktische Theorie von Politik, deren berühmt gewordene Leitidee als eine scheinbar einfach zum konkreten politischen Handeln auffordernde Frage ("Was ist zu tun?") formuliert ist, hat aber die funktionelle Sonderstellung, das heißt die relative Autonomie der einzelnen Gebiete des Überbaus beseitigt und die Monopolstellung der Politik gerechtfertigt. Damit ist die Wissenschaft einer reinen Politik und einer reinen Weltanschauungsphilosophie unterworfen und die öffentliche Auslegung der Welt durch Philosophie und Politik monopolisiert worden. Von dieser Zeit an ist Funktion und Beruf der Wissenschaft statt des wissenschaftlichen Erkennens die reine ideologische Legitimation des politischen Handelns gewesen, dessen existenziell-normativer Sinn ausschließlich auf den letzten Kampf für die Verwirklichung der Zukunftsziele und gegen den geistig-politisch völlig zu vernichtenden Feind gerichtet sein musste. Zusammenfassend könnte man sogar, ohne zu übertreiben, sagen, dass während für Marx der Klassenfeind (Bourgeois) nur auf dem Gebiet der Philosophie und Wissenschaft einen von Grund auf zu zerstörenden andersartigen Fremden bedeutet hat, aber in der Politik bloß virtuell, hat für Lenin der Klassenfeind (Imperialist) auf dem Gebiet der faktisch zum Zentrum der Gesellschaft gewordenen Politik in der Tat einen von Grund auf zu zerstörenden und wirklich zu vernichtenden andersartigen Fremden, einen absoluten Feind im eigentlichen Sinne dieses Begriffs bedeutet. (Vgl. Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. S. 94-95.)

[46] Aus diesem Grunde versteht es sich von selbst, dass die von Lukács im Vorwort (Über den Irrationalismus als Erscheinung in der imperialistischen Periode) ausführlich behandelte methodologische Differenz zwischen "transzendenter Kritik" und "immanenter Kritik" selbst reinen politischen Charakter hat. Das zeigt sich unter anderen schon darin, dass sich Lukács "rein" philosophisch mit dieser "theoretischen" Differenz vom Stalinismus als Sektierertum distanzieren konnte. Mit Bezug auf ihren politisch-funktionellen Sinn dient die immanente Kritik dazu, die durch transzendente Kritik - das heißt durch Funktionalisieren, das bei Lukács eine halbreflexiv-operationelle Anwendung der Destruktionsverfahren des Relativierens und Absolutisierens bedeutet - erschlossene politische Wahrheit in der Art und Weise einer abbildenden Veranschaulichung zu beweisen. Diese Wahrheit, die sich schon in faktischer Entlarvung und Vertilgung der geistig-politischen Existenz des absoluten Feindes verkörperte, sollte für Laien verständlich und annehmbar gemacht werden. "Insofern ist die immanente Kritik ein berechtigtes, ja unentbehrliches Moment für die Darstellung und Entlarvung reaktionärer Tendenzen in der Philosophie. Die Klassiker des Marxismus haben sie auch stets verwendet, so Engels im "Anti-Dühring", so Lenin im "Empiriokritizismus". Die Ablehnung der immanenten Kritik als Moment der Gesamtdarstellung, die zugleich soziale Genesis und Funktion, Klassencharakteristik, gesellschaftliche Entlarvung usw. umfasst, muss notwendig zu einem Sektierertum in der Philosophie führen: zu einer Auffassung, als ob alles, was für einen bewussten Marxisten-Leninisten von sich selbst versteht, auch für Leser ohne Beweis einleuchtend wäre. [...] Der (politische: L. Cs. K.) Gegensatz der verschiedenen bürgerlichen Ideologien zu den Errungenschaften des dialektischen und historischen Materialismus ist die selbstverständliche Grundlage unserer Behandlung und Kritik. Aber auch der sachliche, philosophische Nachweis der inneren Inkohärenzen, Widersprüchlichkeit usw. der einzelnen Philosophien ist unumgänglich, wenn man ihren reaktionären Charakter wirklich konkret zur Evidenz bringen will." (a. a. O. S. 11-12.; Hervorhebung: L. Cs. K.)

[47] Die Abgründigkeit dieser totalen-totalitären Zerstörung zeigte sich besonders darin, wie sie Mannheims endgültige geistige Verbannung symbolisch zum Ausdruck brachte. Mannheim, dessen Vorname von nun an als "Karl", nicht aber "Károly" geschrieben wurde, wurde damit endgültig zu einem deutschen Soziologen kanonisiert, der als Träger und Vertreter des deutschen, in der Lebens- und Existenzphilosophie verwurzelten und in den Nationalsozialismus einmündenden Irrationalismus in Erinnerung gehalten und angeführt werden durfte.

[48] a. a. O., S. 548.

[49] a. a. O., S. 549.

[50] Mittels dieser Unterscheidung von Entideologisierung und Entpolitisierung können jene zwei alternativen Begriffe des Politischen klar voneinander getrennt und zugleich darauf hingewiesen werden, wie die Wissenssoziologie der politischen Rechtswissenschaft gegenüber durch den doppelten Aspekt des Begriffspaars Ideologie und Utopie das Problem des Politischen in der Moderne theoretisch zu klären trachtet. (Vgl. Anmerkung 6.)

[51] a. a. O., S. 554.

[52] "Nur in einem Punkt ist eine klare Stellungnahme bei Mannheim sichtbar. Er lehnt jede gesellschaftliche Lösung durch Gewalt, durch Diktatur ab, wobei er wieder, echt formalistisch, faschistische Diktatur und Diktatur des Proletariats, revolutionäre und konterrevolutionäre Gewalt als gleichwertig behandelt. [...] Der einzige Punkt, wo Mannheim über den reinen Formalismus hinausgeht und so etwas wie einen eigenen Standpunkt entwickelt, ist die Hoffnung auf einen Kompromiss zwischen den kämpfenden Parteien der einzelnen Länder, zwischen den kämpfenden Mächten im internationalen Maßstab." (a. a. 0. 554.)

[53] Übrigens mag diese kurze Charakterstudie dem Leser andeuten, dass das Verhältnis zwischen den ehemaligen Weggefährten, besonders von Lukács's Seite her, nicht ungestört gewesen ist. Dazu siehe die Geschichte ihrer Begegnung, die am Anfang der 1930er Jahre entweder in Berlin oder Wien stattgefunden haben soll. Diese merkwürdigerweise berühmt gewordene Begegnungsgeschichte, und das von Lukács im Kreise seiner Schüler oft erzählte ironische Gespräch zwischen den beiden über die Originalität von Ideologie und Utopie, hat meines Wissens zwei Deutungsvarianten. Die eine ist in István Mészáros's Besprechung über das Buch Mary Glück (Georg Lukács and his Generation. 1900-1918, Cambridge: Harvard University Press, 1985) zu finden (Journal of the History of Philosophy, Vol. xxvi, Number 2, April 1988, pp.334-336.), die andere wurde durch mündliche Überlieferung in der ungarischen Lukács-Forschung allgemein bekannt. Ich bin für die Hinweise auf István Mészáros's Besprechung und auf die andere Variante der Begegnungsgeschichte Péter Szigeti und Éva Karádi Dank schuldig.

[54] a. a. O., S. 550-551.

[55] "Nur bemerkt er nicht - wie alle Vulgarisationen und vulgären Gegner dieser Theorie -, dass in ihr das Relative und das Absolute in dialektischer Wechselwirkung ineinander umschlagen, dass in ihr aus dieser Wechselwirkung der annähernde Charakter der menschlichen Erkenntnis entsteht, in der und für welche stets die objektive Wahrheit (die richtige Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit) als Kriterium und Element enthalten ist. Es gibt dort also ein "falsches Bewusstsein" als ergänzenden Gegenpol zum richtigen Bewusstsein, während Mannheim seinen Relationismus als Typisierung und Systematisierung aller möglicher Arten des falschen Bewusstseins denkt." (a. a. O. S. 549-550.) Indem das Wahrheitskriterium im Erkenntnisobjekt - das heißt in der konkret politischen Dialektik der Geschichte, oder anders: in der binären Logik des Politischen selbst - enthalten ist, kann man nicht von jedem Standort aus für beliebige Erkenntnis gleichermaßen Wahrheit beanspruchen. Nur derjenige kann in Wahrheitsfragen entscheiden, der über das Monopol des Politischen und über dessen öffentliche Auslegung als alleinige Garantie der Objektivität der Erkenntnis schlechthin verfügt. Doch dieser Logik zufolge wandelt sich die substantive Geschichtsphilosophie notwendigerweise in eine Politikphilosophie, der ontologisch fundierte Wahrheitsbegriff in einen politikphilosophischen um; und aus der Perspektive dieser Umwandlung in die Philosophie des Politischen wird die relationistische Denkfigur der Wissenssoziologie unausweichlich zu einer relativistischen Karikatur. Lukács's vernichtendes Urteil über die im Wissenschaftsgebiet sich selbst entideologisierten entpolitisierten Soziologen, mutatis mutandis, beschwört Napoleons Spruch über die Ideologen der Aufklärungszeit herauf. (Vgl. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 66.)

[56] Immerhin gibt es zwei theoretische Möglichkeiten, das Wissenschaftsgebiet durch Soziologie auf der Ebene des allgemeinen totalen Ideologiebegriffs zu entideologisieren und zu entpolitisieren. Die Entideologisierung als Entpolitisierung dieser Art kann erstens vom Gesichtspunkt des wertfreien allgemeinen totalen Ideologiebegriffs aus, wie es in der verstehenden Soziologie Max Webers der Fall ist, zweitens vom Gesichtspunkt des den wertfreien transzendierenden wertenden allgemeinen totalen Ideologiebegriffs aus, wie es in der Wissenssoziologie Karl Mannheims der Fall ist, vollzogen werden.

[57] a. a. O., S. 551.

[58] a. a. O., S. 552.

[59] Hier soll nur an zwei bekannte Thesen, bzw. Formulierungen Mannheims erinnert werden: 1. Die Ideologienlehre von Marx als Paradigma des spezial-total-wertenden Ideologiebegriffs ist nur eine der sich im "irrationalen Spielraum" um politische Macht kämpfenden Weltdeutungen, die selbst von den Gegnern (von wirklichen Feinden?) entweder als Ideologie oder als Utopie entlarvt werden kann. (Siehe Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. S. 69-70; 108-116.) 2. Es gibt nicht und es kann in der Moderne keinen "Standort" und mit ihm auch keine auf irgendwelche Art und Weise ausgezeichnete Weltperspektive geben, von der aus per se die zwei irrationalen Zentren der gesellschaftlichen Struktur (Wirtschaft/Politik) planmäßig rationalisiert werden könnten. Der irrationale Spielraum ist ein seelisch-sozialer Raum zwischen der zum Teil rationalisierten Wirtschaft und der zum Teil rationalisierten Politik als Staat. "So weitgehend jedoch unser Leben rationalisiert ist, so sind dennoch alle diese Rationalisierungen nur Teilrationalisierungen, denn die allerwichtigsten Gebiete unserer Gesellschaftssphäre sind auch im heutigen Stadium noch irrational fundiert. Unsere Wirtschaft, obzwar technisch weitgehend durchrationalisiert, in Partialzusammenhängen exakt berechenbar, ist dennoch nicht zu einer Planwirtschaft verbunden. Sie beruht trotz aller Tendenzen zur Vertrustung und Organisation im entscheidenden Punkte auf freier Konkurrenz. Unser gesellschaftliches Gefüge ist klassenmäßig aufgebaut. Die Machtkompetenzen im staatlichen Leben sind im irrationalen Kampfe errungen, wo also die Entscheidungen des Schicksals ausschlaggebend sind. Von diesen beiden irrationalen Zentren der gesellschaftlichen Struktur aus gestaltet sich aber jener Spielraum, in dem das nicht organisierte, nicht rationalisierte Leben zur Geltung kommt, in dem Handeln und Politik nötig werden." (a. a. O., S. 100.) Ansonsten sollte sich aus diesen Thesen und Formulierungen auch herausstellen, dass Mannheim niemals, weder theoretisch, noch praktisch, ein Marxist war.

[60] Georg Lukács: Die Zerstörung der Vernunft. S. 552.

[61] a. a. O. Die Streitfrage zwischen Wissenssoziologie und historischem Materialismus könnte sogar folgenderweise formuliert werden: Wie ist es möglich, durchs wissenschaftliche Erkennen politische Fehler zu begehen? Oder umgekehrt: Wie soll man durchs wissenschaftliche Erkennen vermeiden, politische Fehler zu begehen?

[62] Nach Lukács's Überzeugung kann die methodologische Auseinandersetzung zwischen der formal-idealtypischen und der substantiv-realtypischen Erkenntnisweisen nur mit Hilfe einer substantiven (material-rationalen) Bestimmung des Begriffs des Politischen entschieden werden.

[63] a. a. O.

[64] Siehe Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S.102-108; 121; 123; 191-198.

[65] Georg Lukács: Die Zerstörung der Vernunft, S. 556. Dieses Fazit ist das "theoretische" Konsequenz Lukács's politischer Entscheidung, deren weltanschauungsphilosophische Letztbegründung und Rechtfertigung durch transzendente und immanente Kritik als Vernichtung des absoluten Feindes "Irrationalismus" den eindeutigen Beweis dafür liefert, dass seine Interpretation als reine Ideologiekritik doch nicht einmal scheinbar aus dem Aspekt der Begründung durchgeführt worden ist. Lukács's Feinderklärung hat auf ideal- und realtypische Weise von der hermeneutischen Grundfigur des Vernichtens Gebrauch gemacht und damit die zweite Periode der ungarischen Mannheim-Rezeption eindeutig beherrscht. In dieser düsteren Epoche des Ein-Partei-Staats-Sozialismus hat die Rezeption durch "Zerstörung", indem Wissenssoziologie als Handlager des Irrationalismus politisch-philosophisch für unlegitimierbar, für destruktions- und aberkennungswürdig erklärt worden ist, mit ihrem eigenen Gegenstand sich selbst zerstört und mit in das Mythische transzendiert. Im Hinblick auf die unvermeidbare Zirkularität des Ideologischen (Utopischen) und Mythischen sollte uns die totalitäre Variante der "Zerstörung der Vernunft" letzten Endes zugleich darüber belehren, dass die funktionale Grenze zwischen Hermeneutik als Wissenschaft und Ideologiekritik als Politik ohne Folgen nicht zu überschreiten ist.

[66] Karl Mannheim: A nemzedéki problema (Das Problem der Generationen) (übersetzt von Péter Józsa), in: Huszár Tibor - Sükösd Mihály (Hrsg.): Ifjúságszociológia (Jugendsoziologie), Közgazdasagi és Jogi Könyvkiado, Budapest, 1969, S. 31-67. Karl Mannheim - W. A. C Stewart: A szociológia és az osztályterem (Sociology and the Classroom) (übersetzt von Zsuzsa Ferge), in: Ferge Zsuzsa - Háber Judit (Hrsg): Az iskola szociológiai problémái (Soziologische Probleme der Schule), Közgazdasági és Jogi Könyvkiadó, Budapest, 1974, S. 301-310. Karl Mannheim: Az értelmiség szociológiai problémái (Soziologische Probleme der Intelligenz) (übersetzt von Gábor Berényi) in: Huszár Tibor (Hrsg.): Korunk értelmisége. Értelmiségelméletek - értelmiségvizsgálatok. (Intelligenz unserer Zeit. Intelligenztheorien -Intelligenzforschungen), Gondolat Kiadó, Budapest, 1975, S. 109-130. (Die letztere Studie ist ein unbenannter Abschnitt von Ideologie und Utopie.) Diese drei fragmentarischen Übersetzungen aus dem Gesamtwerk Mannheims werden zusammengezogen und einheitlich als die metaphorisch Erste behandelt. Ansonsten ist es hinsichtlich der damaligen Lage der Kompetenzstreitigkeit zwischen Philosophie und Soziologie unvermeidbar gewesen, dass man die Mannheim-Rezeption mit der Generationsstudie und mit der Diskussion des Intelligenzproblems begonnen hat. Dafür können zwei triftige und zugleich offensichtliche Gründe angegeben werden. Erstens konnte man das Jugend-Problem, dem wegen seines Delegitimationspotenzial immer große politische Bedeutung zugeschrieben worden ist, in der zweiten Entwicklungsphase des Ein-Partei-Staats-Sozialismus politisch aus verschiedenen hier nicht auszuführenden strukturellen Gründen nur noch durch indirekte Vorgehensweisen der Indoktrination behandeln. Dementsprechend setzte der politische Umgang mit der Jugend eine Diagnose "der Geheimnisse der jungen Seelen" voraus, das heißt erforderte funktionsfähige Sozialwissenschaft, die als therapeutisches Werkzeug dienen sollte, damit die in der Jugend steckenden wirkliche und potenzielle politische Gefährdung neutralisiert und - wie paradox es auch klingen mag - entpolitisiert werden kann. Aus diesem Grunde schreiben die Herausgeber des Sammelbandes folgendes: "Dieser Umstand erklärt, dass die verantwortlichen Leitungsorgane unserer Gesellschaft das Zustandebringen eines Jugendforschungszentrums auf die Tagesordnung gesetzt haben. [...] Unter den erwähnten Schriften ist ohne jeden Zweifel Karl Mannheims Studie die problemreichste und am meisten zeitbeständig. Gerade deshalb scheint es begründet zu sein, dass wir eben am Beispiel dieser "klassisch" gewordenen Schrift zeigen: die Veröffentlichung bedeutet nicht die Identifizierung damit. [...] Die Analyse der Mannheim-Studie kann vielleicht ein Beispiel auch dafür geben, dass die klare Abstekkung der weltanschaulichen Trennungslinien nicht die Verneinung der von der hervorragenden Vertreter der bürgerlichen Soziologie erschlossenen wirklichen Zusammenhänge, nicht die der sorgfältig beobachteten und manchmal artistisch analysierten Tatsachen bedeutet. Das, was wir brauchen: kritische Analyse der erschlossenen Zusammenhänge, polemische Ablehnung der den fremden Interessen dienenden ideologischen Reflexionen, Einbau der für Jugendsozialisation und Generationswechsel relevanten Beobachtungen in unser eigenes theoretisches System, die gleichzeitige Wahrnehmung der weltanschaulichen Trennungslinien und der wirklichen Werte." (Huszár Tibor - Sükösd Mihály: Einleitung S. 8-9; Hervorhebung: L. Cs. K.) In dieser Einleitung, die nicht allein für die zeitgenössische Wissenschaftlichkeit, sondern für die Nachwelt auch ein soziologisches Gegenstück zur Lukács's Feinderklärung gebildet haben soll, wurde Mannheims Wissenssoziologie aus der Sicht einer völlig minimalisierten immanenten Kritik sachgemäß vorgestellt und das erste Mal während der kommunistischer Ein-Partei-Staats-Herrschaft auch gewürdigt. Gerade dadurch wurde auf paradigmatische Weise gezeigt, ob und wie man die Wissenssoziologie in der Jugendforschung unter den neutralisierten Voraussetzungen der totalen Ideologiekritik zum Zweck der Hypothesenbildung verwerten kann. "Wir haben uns mit der Studie von Karl Mannheim besonders eingehend auseinandergesetzt, weil er - wie erwähnt wurde - zweifelsohne der bedeutendste, am meisten nach Verallgemeinerung strebende Autor unseres Sammelbandes ist. Andererseits, weil wir mit Hinblick auf seine Verallgemeinerungen für den ganzen Band, für die Jugend und Jugendforschung geltenden Gedanken formulieren können." (a. a. O., S. 21.) Zweitens wurde auf dem indoktrinierten Wissenschaftsgebiet der Vorstellung vom "Freischweben" der Intelligenz sowohl theoretisch, als auch existenziell und politisch von der Seite der Soziologen her ein normativer Wert beigelegt.

[67] Siehe: Lukács György: A társadalmi lét ontológiájáról III-III. Magvető Kiadó, Budapest, 1974; Georg Lukács: Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Luchterhand, Darmstadt und Neuwied, 1986. In diesem Spätwerk wird Mannheim mindestens viermal erwähnt; das erste Mal unter den Positivisten als ein Soziologe, der in der Entwicklung "neuer" - "im Faschismus und im Kampf gegen ihn" entstandenen - "Methoden und Techniken der Manipulation des politischen und gesellschaftlichen Lebens" tätig mitwirkte und dadurch den gesellschaftlich-historischen Prozess der Entfremdung im Kapitalismus beschleunigte. "Karl Mannheim hat schon vor dreißig Jahren für diese Zwecke eine wissenschaftliche Methode auszuarbeiten versucht." (S. 344) Und freilich, dass jeder Hinweis auf Wissenssoziologie im Abschnitt III (Das Ideelle und die Ideologie), in dem Lukács das Problem der Idealität und Ideologie positiv - das heißt auf der Ebene der Begründung - zu entwickeln versuchte, fehlt, gehört zum Wesen des Verschweigensparadigmas. Nur im Laufe der Erörterung der Entfremdung wurde zweimal (Die allgemeinen ontologischen Züge, S. 553.; Die objektiven Grundlagen, S. 684.) auf Mannheim als Protagonist der "freischwebenden Intelligenz", der das Wesen des gesellschaftlichen Seins durch die abstrakte Gegenüberstellung von individueller Persönlichkeit und Gesellschaft völlig missverstand, hingewiesen.

[68] Diese heimliche Übersetzung von Ideologie und Utopie ist in einer geheimen Abteilung des Kossuth-Verlages, die ohne Wissen der Verlagsangestellten funktionierte, von einem für uns unbekannten Übersetzer angefertigt worden.

[69] Diejenigen theoretischen Schwierigkeiten, die mit einer Distanzierung vom Politischen radikalster Art unter den Bedingungen des Ein-Partei-Staats-Sozialismus im Sinne der Wissenssoziologie verbunden sein müssen, kann man am Werk von György Konrád und Iván Szelényi sehr wohl studieren. [Vgl. Konrád György - Szelényi Iván: Az értelmiség útja az osztályhatalomhoz (Der Weg der Intelligenz zur Klassenmacht), Budapest, Gondolat Kiadó, 1989]

[70] Dazu siehe eingehender Vezér Erzsébet: A Vasárnapi Kör története (Geschichte des Sonntagskreises), ferner Karádi Éva: A Vasárnapi Kör világnézete (Die Weltanschauung des Sonntagskreises) in: Karádi Éva - Vezér Erzsébet (Hrsg.): A Vasárnapi Kör (Der Sonntags-Kreis); S. 7- 23., 24-41.; Novák Zoltán: A vasárnapi Társaság. Lukács Györgynek és csoportosulásának eszmei válsága, kiútkeresésük az első világháború időszakában. (Die Sonntagsgesellschaft. Geistige Krise Georg Lukács's und seiner Gruppierung, ihre Suche nach einem Ausweg im Zeitalter des ersten Weltkrieges) Kossuth Könyvkiadó, Budapest, 1979; Papp Zsolt: A tudásszociológia korhozkötöttsége - Gondolatok egy Mannheim-képhez (Zeitgebundenheit der Wissenssoziologie - Gedanken zu einem Mannheim-Bild), in: Robert K. Merton: Tudásszociológiai és tudományszociológiai írások (Wissenssoziologische und wissenschaftssoziologische Schriften). Szociológiai Füzetek, 12/1976. 7-46.; Papp Zsolt: A válság filozófiájától a "konszenzus" szociológiájáig. (Von Philosophie der Krise zur Soziologie des "Konsenses") Kossuth Könyvkiadó, Budapest, 1980; Wessely Anna: A tudásszociológia interpretációelmélete (Interpretationstheorie der Wissenssoziologie), in: Janus I. 3. 1986. Herbst, S. 11-35.; Gábor Éva: Mannheim in Hungary and in Weimar Germany. Newsletter of the International Society for the Sociology of Knowledge. 1983. 9, 1/2 (August) 714.

[71] Zur Mannheim-Literatur in der vierten Epoche der Rezeption nach Übersetzungen, Konferenzen und Studien gegliedert: Übersetzungen: Mannheim Károly: A konzervativizmus (Der Konservativismus; übersetzt von Endre Kis), Cserépfalvi, Budapest, 1994; Mannheim Károly: A gondolkodás struktúrái. Kultúraszociológiai tanulmányok (Strukturen des Denkens. Kultursoziologische Studien; übersetzt von Zoltán Lissauer, Lajos Adamik) Atlantisz, Budapest, 1995; Mannheim Károly: Ideológia és utópia (Ideologie und Utopie; übersetzt von György Mezei I.), Atlantisz, Budapest, 1996; Válogatás Mannheim Károly "Az ember és társadalom az átépítés korában", a "Korunk diagnózisa" és a "Szabadság, hatalom és demokratikus tervezés" című műveiből (Auswahl aus den Werken Karl Mannheims: Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, Diagnosis of Our Time, Freedom, Power and Democratic Planning; übersetzt von Gábor Felkai, András Bán Zoltán, Tamás Szentmiklósi), in: Felkai Gábor (Hrsg.): Mannheim Károly, Új Mandátum Kiadó, Budapest, 1999. Der Band enthält darüber hinaus einerseits zeitgenössische Reflexionen über Ideologie und Utopie, bzw. Wissenssoziologie von Paul Tillich (Ideologie und Utopie), Max Horkheimer (Ein neuer Ideologiebegriff?), Eduard Spranger (Ideologie und Wissenschaft), Hans Bart (Geist und Gesellschaft), Karl R. Popper (Wissenssoziologie, Auszug von Open Society and Its Enemies); andererseits zwei Studien aus der Nachwelt von Hans J. Lietzmann (Politische Planung und ihr gesellschaftliches Risiko) und Ilja Srubar (Mannheims "geplante Freiheit" und der radikale Liberalismus) (übersetzt von Endre Balogh, Gábor Felkai), weiterhin eine Übersicht von Karl Mannheims Leben in Jahreszahlen, und eine Bibliographie; Mannheim Károly: Tudásszociológiai tanulmányok (Wissenssoziologische Studien; übersetzt von Júlia Bendl, Virág Bognár, Herbert Hofstaedter, Éva Karádi, László Kisbali) Osiris Kiadó, Budapest, 2000; Die Konferenzen und laufenden Forschungsprogramme sorgen dafür, dass die Mannheim-Forschung in Ungarn nicht nur als eine Art Übersetzungsunternehmen, sondern in Form organisierter Diskussionen über Anwendbarkeiten der Wissenssoziologie durchgeführt wird. Konferenzen: Im Jahre 1992 wurde erstmal eine internationale Konferenz mit dem Titel "Über Karl Mannheims Aktualität" veranstaltet (Veranstalter: Soziologiegeschichtliche Sektion der Internationalen Gesellschaft für Soziologie); danach, 1993 fand eine Zentenariumkonferenz mit dem Titel "Karl Mannheim und seine Zeitgenossen" statt (Veranstalter: Collegium Budapest). Im Jahre 2000 wurde eine Mannheim-Tagung im Rahmen der Programmreihe des Instituts für Politikgeschichte ("Denker, die im 20. Jahrhundert Spuren hinterlassen") veranstaltet. Studien: Karádi Éva: Adalékok a világnézeti paradigmaváltások történetéhez (Beiträge zur Geschichte des weltanschaulichen Paradigmenwechsels), in: Erdélyi Ágnes - Lakatos András: Lehetséges-e egyáltalán? (Festschrift zu Ehren von Márkus György), Atlantisz, Budapest, 1993, S. 241-260; Karádi Éva: Macht und Ohnmacht des Geistes. Mitteleuropäische Intellektuelle im Budapester Sonntagskreis, in: Gangolf Hübinger - Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt am Main, 1993, S. 124-140; Kiss Endre: A tudásszociológia régi és új klasszikusai (Die alten und neuen Klassiker der Wissenssoziologie), in: Mannheim Károly: Konzervativismus, S. 242-255; Karádi Éva: Georg Simmel und der Sonntagskreis, Simmel Newsletter 5. 1995, S. 45-53; Karácsony András: Bevezetés a tudásszociológiába (Einführung in die Wissenssoziologie), Osiris Kiadó, Budapest, 1995; Bognár Virág: Az "Ideológia és utópia" hajótörése. Mannheim Károly "Ideológia és utópia" című műve német és angol változatának összevetése (Schiffbruch der "Ideologie und Utopie". Ein Vergleich der deutschen und der englischen Fassung von "Ideologie und Utopie" Karl Mannheims), Szociológiai Szemle, 1996, Nr. 2, S. 21-55. Karádi Éva: Karl Mannheim als Pädagoge, in: Reinhard Blommert - Hans U. Eßlinger - Karol Sauerland (Hrsg.): Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise, Opladen, 1997, S. 378399; Karádi Éva: Karl Mannheim und Alfred Weber - eine Heidelberger Schule für Kultursoziologie? In: Peter Ulmer: Geistes- und Sozialwissenschaften in den 20er Jahren: Heidelberger Impulse, C. F. Müller Verlag, Heidelberg, 1998, S. 155-169; Karádi Éva: Mannheims Vorlesung in Zusammenhang mit der Diskussion um Ideologie und Utopie, in: Marin Endreß - Ilja Srubar (Hrsg.): Karl Mannheims Analyse der Moderne, Mannheims erste Frankfurter Vorlesung 1930, Edition und Studien, Opladen, S. 149-160; Felkai Gábor: Bevezetés. Kordiagnózis, tudásszociológia, tudományos politika (Einleitung. Zeitdiagnose, Wissenssoziologie, wissenschaftliche Politik.) in: Felkai Gábor (Hrsg.): Mannheim Károly, Új Mandátum Kiadó, Budapest, 1999, 7-85. (Die Studie wurde im Rahmen des Forschungsprogramms "Geschichte der deutschen Soziologie um die Jahrhundertwende" angefertigt.); Gellériné Lázár Márta - Karádi Éva - Cs. Kiss Lajos (gewählt): Mannheim - tanulmányok. Tanulmányok Mannheim Károlytól és Mannheim Károlyról (Mannheim-Studien. Studien von Karl Mannheim und über Karl Mannheim) Napvilág Kiadó, Budapest, 2003, S. 311.] Der Band, der von Éva Karádi redigiert wurde, enthält zwei Studien von Karl Mannheim (Zum Problem einer Klassifikation der Wissenschaften; Das Problem einer Soziologie des Wissens, 13-92), Erinnerungen von Norbert Elias an Karl Mannheim (Auszüge aus seiner Selbstbiographie: Über sich selbst, 93-110), und weitere Studien von Eberhard Demm (Alfred Weber und Karl Mannheim, S. 111-128), Karádi Éva (Mannheims Weg von der Kulturphilosophie zur Wissenssoziologie, S. 129-157), Cs. Kiss Lajos (Idee und Beruf der Wissenssoziologie, S. 158247), Felkai Gábor (Synthese politischer Ideen bei Karl Mannheim: "Planung für Freiheit", S. 248-282), Wessely Anna (Mannheim und Bourdieau. Eine Webersche Verkoppelung der strukturellen Bestimmtheit und soziales Handeln, S. 283-293) Gábor Éva (Ein Bild von Karl Mannheims Berufslebenslauf im Spiegel seiner Korrespondenz, S. 294-310). Cs. Kiss Lajos: A filozófia és szociológia kompetenciavitája - a tudásszociológia metafizikai teljesítménye (Kompetenzstreit zwischen Philosophie und Soziologie - metaphysische Leistung der Wissenssoziologie), Világosság, XLV. Jg., 2004/1, S. 49-75; Cs. Kiss Lajos: A jogtudomány eszméje és hivatása (Idee und Beruf der Rechtswissenschaft), ELTE Állam- és Jogtudományi Kar, Budapest, 2004, S. 128; Némedi Dénes: Szociológia a weimari időszakban (Soziologie in der Weimarer Zeit ), in: Némedi Dénes: Klasszikus szociológia, (Klassische Soziologie), Napvilág Kiadó, Budapest, 2005, S. 306-32.

[72] Es sei hier nur ein belehrendes Beispiel für die durch Wissenssoziologie bereitete Unannehmlichkeit als Provokation angeführt. Unter den Bedingungen des Pluralismus, der unausweichlich zur Grundsituation der Moderne im neugeordneten Ungarn geworden ist, gibt es zur Zeit im Gebiet der Sozialwissenschaften solche, sich miteinander auseinandersetzenden theoretischen Standpunkte, hauptsächlich in Formen der als normative Wissenschaft auftretenden Politikphilosophie liberaler und konservativer Art, für die die wissenssoziologisch radikale Trennung der Ideologienlehre (Politik) und Wissenschaft recht unangenehm ist. Die Provokation liegt vor allem darin, dass die sich selbst als normative Wissenschaft verstandene Politikphilosophie unreflektiert von den rein wissenschaftsexternen Gesichtpunkten des liberalen, konservativen, sozialistischen oder nationalistischen Politikverständnisses aus danach strebt, die äußere und innere Sinngrenzen des Wissenschaftsgebietes methodologisch zu bestimmen. Doch durch jene Bestrebungen innerhalb der ungarischen Politikphilosophie, insofern sie nach wie vor aber unbewusst der im Normalfall sich "pluralisierenden" Logik des Politischen folgen, können im Wesentlichen bloß eine perspektivische Rationalisierung des Pluralismus auf dem Gebiete der Politik, doch nicht auf dem der Wissenschaft vollzogen werden. Die sich nach bestimmten ideologischen Richtungen polarisierten Standpunkte der Politikphilosophie, die eigentlich auf den gemeinsamen Nenner des "rationalen Pluralismus" aus der Politik heraus gebracht werden können, scheinen mit dem rein wissenschaftlichen Politikverständnis der Wissenssoziologie völlig unvereinbar zu sein. Insoweit könnte man im Hinblick auf diesen Sachverhalt möglicherweise behaupten, dass eine neue Ausgangslage der Mannheim-Rezeption in Ungarn und freilich in dem sich vereinigenden Ostmitteleuropa im Entstehen begriffen sein wird, die ungefähr eine Art Unannehmlichkeits-Forschung der Wissenssoziologie zu nennen wäre. Zum Problem des Kompetenzstreits zwischen Politikphilosophie und Wissenssoziologie, Soziologie und Rechtswissenschaft (Staatslehre) siehe eingehender Cs. Kiss Lajos: Carl Schmitt jelentősége (Carl Schmitts Bedeutung), Carl Schmitt magyar recepciója. Találkozások Carl Schmittel (Die ungarische Rezeption von Carl Schmitt. Begegnungen mit Carl Schmitt), Appendix, Exkurzus I. A szabadságérték univerzalitásának megalapozása (Die Begründung der Universalität des Freiheitswertes), Exkurzus II. Az állam semlegessége és a magyar liberális politikafilozófia (Neutralität des Staates und Politikphilosophie des ungarischen Liberalismus), Exkurzus III. A mérsékelt állam liberális dogmája (Das liberale Dogma des gemäßigten Staates und Politikphilosophie des ungarischen Liberalismus), in: Cs. Kiss Lajos (Hrsg.): Carl Schmitt jogtudománya. Tanulmányok Carl Schmittről (Carl Schmitts Rechtswissenschaft. Studien über Carl Schmitt.), Gondolat Kiadó, Budapest, 2004, S. 7-145, 415-437; Cs. Kiss Lajos: Elméletalkotási stratégiák az államelméletben (Theoriebildungsstrategien in der Staatslehre), in: Szigeti Péter (Hrsg.): Államelmélet - Politikaelmélet - Jogbölcselet (Staatstheorie - Politiktheorie - Jurisprudenz). Leviatán, Különszám (Sonderheft), Győr, 2004, 51-84.; Cs. Kiss Lajos: A tiszta jogtan államelmélete (Staatstheorie der reinen Rechtslehre), in: H. Szilágyi István - Paksy Máte (Hrsg.): Ius unum, lex multiplex. Liber amicorum Studia Z. Péteri dedikata. Tanulmányok a jogösszehasonlítás, az államelmélet és a jogbölcselet köréből (Studies in Comparative Law, Theory of State and Legal Philosophy), Szent István Társulat, Budapest, 2005, 257-281; Cs. Kiss Lajos: Hans Kelsen magyar fogadtatása (Hans Kelsens ungarische Aufnahme); Hans Kelsen jelentősége és a tiszta jogtudomány eszméje (Hans Kelsens Bedeutung und Idee der reinen Rechtswissenschaft) Világosság, 2005/10, 3-28.

[73] In der Diskussion hat Prof. David Kettler mit Recht darauf hingewiesen, dass man mit Formulierungen solcher Art diejenigen erheblichen Schwierigkeiten, die Mannheim bei seiner englischen Aufnahme in der damaligen "geistesgeschichtlichen" Lage der britischen Sozialwissenschaften überwinden musste, nicht verschweigen - oder ideologiekritisch ausgedrückt: nicht verschleiern - darf. (Vgl. David Kettler, Volker Meja, Nico Stehr: Politisches Wissen. Studien zu Karl Mannheim. S. 137-145., ferner S. 146-163.)

[74] Es sei hier von der Annahme ausgegangen, dass am Beispiel der ungarischen Mannheim-Rezeption, besonders in Bezug auf ihre zweite und dritte Phase im Zeitalter des "Ein-Partei-Staats-Sozializmus", die totale-totalitäre Logik der ideologiekritischen Vernichtung der Wissenschaftlichkeit schlechthin auf exemplarischer Weise veranschaulicht werden kann. Sollte es uns gelungen sein, dann kann man hoffen, dass eine Darstellung der Rezeptionsgeschichte Karl Mannheims dieser Art zugleich für die Totalitarismus-Forschung in Ostmitteleuropa etwas zu leisten vermag.

Lábjegyzetek:

[1] Lehrstuhl für Philosophie, Telefonnummer: (36-1) 411-6500, E-mail: cskiss@ajk.elte.hu

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