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Károly Bárd[1]: Richterliche Unabhängkigkeit in den Beitrittsländern der Europäischen Union - Wie steht esd amit in Ungarn (Annales, 2004., 77-99. o.)

I.

"In jedem Staat herrscht zwangsläufig eines der beiden: das Gesetz oder die materielle Kraft. Sobald wir uns der Gewalt des Ersteren entziehen, manifestiert sich unverzüglich Letztere." "Diese Überlegenheit der richterlichen Gewalt ist nichts anderes als die Überlegenheit der Gesetze..." "Nachdem der grundlegende Unterschied zwischen Rechtsstaat und Willkürherrschaft der ist, daß im einen das Gesetz, im anderen menschlicher Wille... regiert. Müssen wir jeden Staat, der diese Stellung der richterlichen Gewalt nicht anerkennt, als Willkürherrschaft bezeichnen." Die angemessene Ausübung der richterlichen Gewalt hat zwei Bedingungen: "der Richter muß Mittel zum Erkennen des Rechts zur Verfügung haben und eine Position innehalten, in der er ohne persönlich Schaden zu nehmen oder Nutzen zu ziehen Urteile fällen kann, und dabei weiterhin vom Gesetz abhängig bleibt." Noch wichtiger doch gleichsam auch schwieriger ist es, Letzteres durch Institutionen zu gewähren: "alles, was dem Richter ermöglicht das Recht zu erkennen, wird unnütz, wenn keine Unabhängigkeit gewährleistet ist, und tatsächlich vermögen unabhängige Richter selbst mangelhafte Rechtssysteme einigermassen erträglich zu machen."[1]

Eötvös schrieb all dies vor eineinhalb Jahrhunderten nieder. Und alles, was er darin bezüglich der Gewaltenteilung und richterlichen Unabhängigkeit festhielt, ist heute genauso wahr wie damals, auch wenn seitdem Einiges passiert ist. Neue, die Machtkonzentration anstrebende Institutionen sind inzwischen erschienen und deshalb reicht das Gleichgewicht der traditionellen Gewalten für ein anständig funktionierendes Staatsleben und zur Wahrung der Freiheit nicht mehr aus.[2] Auch wissen wir, daß heutzutage Gerichtsverfahren nicht die aus-

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schliessliche Plattform zur legalen Erledigung von Rechtsstreiten bildet, denn hierfür gibt es aussichtsreichere und billigere Wege. Ab den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geriet neben der Unabhängigkeit zunehmend die Frage der richterlichen Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht (accountability) in den Vordergrund: man ist auf der Suche nach Mitteln, nach Einrichtungen, die ohne den Verlust der richterlichen Unabhängigkeit gewährleisten, daß die Richter sich nicht von denen isolieren, deren Fälle sie entscheiden, und zudem dem Publikum von ihren Entscheidungen Rechenschaft ablegen.[3]

All dies ändert nichts an der Tatsache, daß die richterliche Unabhängigkeit zweifelslos eine der Bedingungen der Rechtsstaatlichkeit bildet, wie auch die Wahrung der Menschenrechte oder der Schutz von Minderheiten nicht vorstellbar wären ohne unabhängige Gerichte.[4] Deshalb ist es verständlich, daß die Kommission der Europäischen Union bei der Leistungsbeurteilung der um den Beitritt zur Union bemühten Länder auch das Grad der Unabhängigkeit der Gerichte und der einzelnen Richter bewertet. Tatsache ist zwar, daß die Berichte über die Beitrittsländer vorwiegend die geringe Effizienz der Gerichte sowie die Schwierigkeiten im Hinblick auf die Vollstreckung richterlicher Urteile erwähnen.[5] Jedoch ist mit Effizienz nicht nur die rasche Bearbeitung der Fälle gemeint, sondern auch die Qualität der Urteile. Bei der Bewertung der

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Qualität wiederum ist Berechenbarkeit des Urteils ein grundlegender Gesichtspunkt. Das Urteil ist dann kalkulierbar, vorhersehbar, wenn der Richter ausschließlich rechtlich relevante, den Fall betreffende Tatsachen berücksichtigt und jeglichem politischem oder wirtschaftlichem Druck widersteht. Demnach ist die richterliche Unabhängigkeit und Neutralität Grundvoraussetzung des effizienten Verfahrens.[6]

Im Folgenden werde ich gemeinsame Tendenzen der mittel- und osteuropäischen Antrittsländer[7], ferner das die richterliche Unabhängigkeit garantierende (bzw. schwächende) rechtliche Umfeld, sowie sonstige, der richerlichen Unabhängigkeit zuträgliche bzw. ihr entgegenwirkende Faktoren skizzieren. Anhand dieser Darstellung können wir feststellen, wie es bei uns Ungarn verglichen mit den anderen sich auf den Beitritt vorbereitenden mittel- und osteuropäischen Ländern um die Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit bestellt ist. Ähnelt unsere Auffassung von der richterlichen Unabhängigkeit derer der anderen Beitrittsländer, und stammen die der richterlichen Unabhängigkeit auflauernden Gefahren aus den gleichen Quellen?

II.

Der heutzutage herrschenden Ansicht zufolge kann man die ehemals sozialistischen Länder auch bezüglich ihrer Justiz nicht über einen Kamm scheren: die aus dem Zeitraum vor dem zweiten Weltkrieg stammenden Rechtstraditionen, sowie die Unterschiede zwischen den post-totalitären Systemen liessen die einzelnen Länder des sozialistischen Blocks in verschiedenem Masse von der liberalen europäischen Tradition abweichen, und dementsprechend unterschied sich das Ausmaß des nicht unter unmittelbarem politischem Einfluß stehenden Terrains der Rechtssprechung.[8] In Ungarn sind wir der Meinung, daß die Gerichte nach der Kádár-Konsolidierung, also von den 1960-er Jahren an, "relativ unabhängig" urteilten (obwohl es verschiedene Grade der "relativen Unabhän-

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gigkeit" gab). Dies ist die Erklärung dafür, daß bei uns zur Wende die Richterschaft nicht ausgewechselt wurde und die Gerichte dennoch ihr Ansehen mehr oder weniger bewahrten.[9] Auch ausländische, sich mit der mittel-osteuropäischen Region befassende Autoren teilen diese Ansicht: ihrer Meinung nach wurde hierzulande die Rechtskultur der Vorkriegszeit während des Sozialismus nicht vollständig beseitigt, was die Rückkehr zu früheren Traditionen erleichterte.[10] Bezüglich der Entwicklung nach der Wende gilt allgemein die Auffassung, daß die ungarische Gesetzgebung mit der Gerichtsreform von 1997 und vielmehr noch durch die Einrichtung des Nationalen Justizrates (OIT) eine bedeutende Leistung zur Trennung der Exekutive und Judikative sowie zur Institutionalisierung der Unabhängigkeit des Gerichtssystems erbracht hat.[11]

Doch wir wissen auch, daß all dies nicht ausreicht, um den Kernpunkt der Unabhängigkeit geltend zu machen: nämlich, daß der Richter ausschliesslich dem Gesetz unterliegt, jeglichem "äusseren" Einfluß widersteht und er unparteilich urteilt. Unabhängigkeit ist gleichbedeutend mit Objektivität und Neutralität des richterlichen Verfahrens. Diese - nennen wir sie sachliche Unabhängigkeit[12] -macht den Richter zu dem was er ist. Es ist der richterliche Ethos per se - oder laut Radbruchs etwas pathetischer Definition: der Gerechtigkeit dienen "um jeden Preis, auch den des Lebens des Richters".[13] Die sonstigen in der Rechtsliteratur ausgearbeiteten Aspekte der Unabhängigkeit - die traditionellen persönlichen Garantien der richterlichen Unabhängigkeit (Unversetzbarkeit, Immunität, die Disziplinarverfahrensordnung), die Garantien für die Unabhängigkeit des Gerichtsystems (Gewaltenteilung, Unvereinbarkeitsregeln, die finanzielle Autonomie der Gerichte), weiterhin jene Vorschriften, die traditionell

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als Elemente der Unparteilichkeit gehandelt werden (Ausschlußregelungen, Verbot von Kommentaren bzw. Parlamentsdebatten bei laufenden Verfahren in einigen Staaten) sowie die Vorschriften innerhalb des Gerichtsystems zur Gewährleistung der Urteilsautonomie einzelner Richter (das Verhältnis der unteren Gerichte zu sowie deren Kommunikation mit den höheren Gerichten) sind all dazu bestimmt der sachlichen oder funktionellen Unabhängigkeit zu dienen.[14]

Diese Vorschriften, Rechtseinrichtungen sind instrumentell: sind sie vorhanden, so wächst die Wahrscheinlichkeit, daß der Richter eigenständig, unbeeinflußt, nur dem Gesetz unterworfen sein Urteil fällt. Jedoch ist ihr Vorhandensein allein noch keine Garantie für die funktionelle Unabhängigkeit, Objektivität des richterlichen Verfahrens, sowie Unparteilichkeit, denn dies hängt auch von weiteren Faktoren ab. Hierzu gehören unter Anderem die persönlichen Qualitäten der Urteilserbringer, sowie "die politische Struktur, die gesellschaftliche Atmosphäre oder die Tradition des jeweiligen Landes"[15]. Auch wissen wir, daß das Fehlen einer der für die Unabhängigkeit instrumentellen Institutionen nicht automatisch das Fehlen der funktionellen Unabhängigkeit der Richter nach sich zieht, vorausgesetzt, daß die sonstigen rechtlichen Aspekte sowie die ausserrechtlichen Faktoren ein angemessenes Gleichgewicht herstellen. Das britische Parlament beispielsweise hat seine traditionelle rechtssprechende Funktion bewahrt, das House of Lords ist auch als Gericht tätig[16], dennoch wird die Integrität und Urteilsunabhängigkeit der englischen Richterschaft nur selten bezweifelt. Die Ernennung und die Beförderung einzelner Richter hängt übrigens in bedeutendem Masse vom Lord Chancellor ab, der Mitglied des Kabinetts und vom Prime Minister ernannt ist, empirische Untersuchungen bestätigen jedoch, daß keinerlei Zusammenhang zwischen der Regierung willkommenen Urteilen und den Chancen zur Beförderung einzelner

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Richter besteht.[17] In Kanada beließ das die Richter betreffende Gesetz des Jahres 1985 - obgleich es die Forderungen zur Sicherheit der Richterlaufbahn betont - das Recht der Legislative und Exekutive Richter im Falle von "Unwürdigkeit" abzusetzen. "Unwürdigkeit" wurde jedoch immer recht eng ausgelegt und formal wurde noch kein einziger Bundesrichter seines Amtes enthoben.[18]

Die obigen Beispiele sind deshalb von Bedeutung, weil die Instrumentalität einzelner Aspekte der Unabhängigkeit, die Tatsache, daß das Fehlen einiger dieser Aspekte durch andere - wiederum instrumentale - Rechtsinstitutionen oder ausserrechtliche Faktoren kompensiert werden kann, gewissermassen das auf ersten Blick ungerecht erscheinende Urteil der Kommission zu rechtfertigen vermag. Wer die Regelungen bezüglich des Verhältnisses zwischen Exekutive und Judikative sowie bezüglich der Kompetenz des Justizministers den Gerichten gegenüber in westeuropäischen Ländern kennt, fragt zurecht: was hat die Kommission daran auszusetzen, daß der Minister in einzelnen Beitrittsländern weitläufige Verwaltungsbefugnisse hat, oder daß die Autonomie der Gerichte im finanziellen Bereich eingeschränkt ist. Hinter dem Standpunkt der Kommission verbirgt sich offensichtlich die Vorstellung, daß das rechtliche Umfeld, welches in Staaten mit demokratischer Tradition ausreicht um unparteiische Rechtssprechung zu garantieren, sich in den neuen Demokratien als ungenügend erweisen kann, da die ausserrechtlichen Faktoren, welche die Unabhängigkeit der Rechtssprechung unterstützen könnten, fehlen.

Die Vielfalt der rechtlichen Mittel, die theoretisch die sachliche Unabhängigkeit garantieren können, das Zusammenwirken der rechtlichen und außerrechtlichen Faktoren, die Tatsache, daß sie einander kompensieren können, zeigt auch, daß präzise internationale Normen, die der nationalen Gesetzgebung als Stützpunkte dienen könnten, nicht ausgearbeitet wurden. Zwar deklarieren sowohl der Internationale Pakt der Vereinten Nationen über Bürgerliche und Politische Rechte als auch die Europäische Menschenrechtskonvention das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht. Der Rechtsprechung der UN Menschenrechtskommission sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind jedoch lediglich die Minimalkriterien zu entnehmen. Der Verfasser des wohl am meisten zitierten Kommentars zum UN Pakt, Manfred Nowak stellt beispielsweise fest, daß zur Unabhängigkeit nicht unbedingt ein Verbot der Entfernung oder Versetzung von Richtern notwendig ist, sondern es ausreicht, wenn deren Ernennung für einen längeren Zeitraum gilt und sie bei

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der Ausübung ihres Amtes nicht an Anweisungen gebunden oder in ähnlicher Form anderen Staatsämtern untergeordnet sind. Insbesondere bei Militärgerichten, Revolutionstribunalen und anderen ähnlichen Sondergerichten kommt es zuweilen vor, daß diese Garantien nicht zum Tragen kommen.[19] Es ist kein Versehen, daß unter den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in denen die Verletzung des Rechts auf ein unabhängiges Gericht festgestellt wurde, zahlreiche zu finden sind, bei denen die Anwendung von Rechtsvorschriften von Militär- oder Sondergerichten zur Feststellung der Verletzung der Konvention geführt hat.[20] Im übrigen legt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte - wie bereits erwähnt - die Minimalbedingungen der Unabhängigkeit fest: ein Richter darf nicht an Anweisungen gebunden und gezwungen sein über seine Urteile Rechenschaft abzulegen; zur Beurteilung der Unabhängigkeit sind die Regelungen zu Art und Zeitdauer der Ernennung zu untersuchen, des Weiteren ob die übrigen Garantien vorhanden sind, die das Gericht unabhängig machen von der Exekutiv - und Legislativgewalt sowie den von den Parteien. Die Ernennung des Richter durch Exekutive - oder Legislativgewalt ist an und für sich keine Verletzung der Unabhängigkeit; die Ernennung auf Lebenszeit ist keine Grundbedingung für die Unabhängigkeit, vielmehr kann eine relativ kurze Amtszeit - unter bestimmten Umständen -auch in Einklang mit der Forderung nach Unabhängigkeit sein.[21]

Die Tatsache, daß den Urteilen des Europäischen Menschengerichtshofs nur die Minimalbedingungen der richterlichen Unabhängigkeit zu entnehmen sind, ist auch damit erklärbar, daß - wie bereits erwähnt - der Strassburger Gerichtshof wohl weiß, daß echte Urteilsautonomie auch von zahlreichen, außerrechtlichen Faktoren abhängt.[22] Die Rolle ausserrechtlicher Faktoren wird freilich dadurch relativiert, daß das Gericht bei der Prüfung der Unabhängigkeit (genauso wie bei der Unparteilichkeit) nicht nur den subjektiven sondern auch den

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objektiven Test anwendet. Es stellt die Verletzung der Konvention nicht nur dann fest, wenn der "abhängige" Rechtsstatus des Richters ihn tatsächlich daran hindert unparteiisch zu urteilen, sondern auch dann, wenn aufgrund dessen ein aussenstehender, objektiver Beobachter den Zweifel einer der Parteien an der Unabhängigkeit des Richters als gerechtfertigt erachtet.[23] "Objektive Außenstehende" (wie etwa die Mitglieder des Strassburger Gerichtshofs) sind unempfindlich gegen außerrechtliche Faktoren, und die politische sowie Rechtskultur und - tradition des jeweiligen Landes. So wurde bei vielen Institutionen "von außen" festgestellt, daß sie die richterliche Unabhängigkeit einschränken, selbst wenn "innen" - gerade aufgrund der Urteilsautonomie zuträglichem gesellschaftlichem Umfeld und politischer Kultur - die Ansicht herrscht, daß sie der fairen Rechtsprechung nicht im Wege stehen.

Was nun die unverbindlichen und deswegen "milden" internationalen Instrumente betrifft, gewähren diese den einzelnen Staaten einen breiten Spielraum. Die Grundlegenden Prinzipien der Unabhängigkeit der Gerichte, welche im Rahmen der Vereinten Nationen 1985 verabschiedet wurden, beschreiben ganz genau den Inhalt der richterlichen Unabhängigkeit und definieren zahlreiche wichtige Bedingungen, jedoch überlassen sie es den nationalen Gesetzgebungen auf welche Weise sie diese Bedingungen zu erfüllen gedenken. Die Empfehlung des Ministerkommittees des Europarates[24] geht insofern einen Schritt weiter als die UN Grundlegenden Prinzipien, daß sie in einzelnen Fällen aufzeigt, wie die formulierten Bedingungen erfüllt werden können, doch die Auswahl der Mittel überläßt die Empfehlung des Europarates letztendlich auch den Mitgliedsstaaten.[25]

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III.

Die Unabhängigkeit einzelner Richter garantieren die Verfassungen der Beitrittsländer: die Richter sind nur dem Gesetz unterstellt. Einzelne Grundgesetze deklarieren explizit die Gewaltenteilung und zugleich die Unabhängigkeit der Judikative.[26] Alle Verfassungen besagen, daß lediglich auf dem Gesetz beruhend Gerichte Urteile aussprechen dürfen. Ich habe erwähnt, daß internationale Menschenrechtskontrollorgane am häufigsten bei der Untersuchung der Zusammensetzung und Vorgehensweise von Sonder- und Militärgerichten die Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit feststellen. Zahlreiche Verfassungen verbieten die Aufstellung von Sondergerichten, die slowenische und lettische Verfassung verbietet zudem auch die Aufstellung von Militärgerichten in Friedenszeiten.[27] Es ist bekannt, daß bei uns nach der Wende die Militärgerichte abgeschafft wurden, seitdem verfahren in Militärstrafsachen aus Militärrichtern zusammengesetzte Militärkammern innerhalb der Komitatsgerichte. Was die Unabhängigkeit anbelangt ist natürlich die Position einzelner Richter entscheidend: hängt er, und wenn ja, in welchem Masse, vom Verteidigunsministerium ab? In dieser Hinsicht ist die ungarische Regelung zufriedenstellend und unanfechtbar, die Änderung des institutionellen Rahmens und mehr noch der Umstand, daß im Obersten Gerichtshof keine Militärkammerne tätig sind, ist beachtenswert. Der Wirkungsbereich des Militärstrafverfahrens wurde 1989 bei uns radikal eingeschränkt, doch seitdem schrittweise wieder ausgeweitet.[28] Es wäre in jedem Fall angebracht, daß die ungarische Gesetzgebung nicht zur vor 1989 und in Rumänien auch heute noch bestehenden Regelung zurückkehrt, welche von Mitgliedern der Polizei begangene Dienstverbrechen dem Militärgerichtsverfahren unterstellt und weitläufig zuläßt, daß Militärrichter über Zivilpersonen urteilen. (Der Vollständigkeit

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halber muß hinzugefügt werden, daß seit 1999 am rumänischen Obersten Gerichtshof keine Militärkollege tätig sind und bei Fällen, die dem Militärstrafverfahren unterliegen verfährt seitdem das Strafrechtskolleg.)[29]

Obwohl die Verfassungen der Beitrittsländer die richterliche Unabhängigkeit deklarieren, herrscht bezüglich deren inhaltlicher Elemente sowie der die Unabhängigkeit garantierenden Institutionen weiterhin Unsicherheit. Ich zitierte bereits Eötvös' These: "Tatsache ist, daß unabhängige Richter mangelhafte Justizsysteme zumindest erträglich gestalten".[30] Doch ein qualitativ gutes Justizsystem fördert mit Sicherheit die Unabhängigkeit, und umgekehrt: der Mangel an Rechtsvorschriften bezüglich des Verhältnisses zwischen Justiz und den übrigen Staatsgewalten, der Struktur des Gerichtssystems sowie der Position einzelner Richter innerhalb des Systems ist der Unabhängigkeit nicht zuträglich. Nun ist aber der Prozeß der Umformung des Gerichtssystems und der Ausarbeitung von Garantien für die richterliche Unabhängigkeit in vielen Beitrittsländern noch nicht beendet. In der Tschechischen Republik verwarf das Parlament das Reformkonzept der Regierung im Jahre 2000, sodann entstanden neue Pläne für das Gerichtssystem und den Status der Richter, für Laienrichter, für die Staatsanwaltschaft, für Disziplinarverfahren gegen Richter und Staats-anwälte.[31] In Lettland wurde das 1992 verabschiedete Gesetz über die Gerichte bereits mehr als zehnmal geändert und die Reform des Gerichtssystems ist auch weiterhin auf der Tagesordnung.[32] In Litauen stellte das Verfassungsgericht im Dezember 1999 fest, daß zahlreiche Vorschriften des Gesetzes über die Gerichte im Widerspruch zur Verfassung stehen, jedoch wurde das neue Gesetz noch nicht verabschiedet.[33] In der Slowakei wurden im Februar vergangenen Jahres die Verordnungen der Verfassung bezüglich der Reform des Gerichtssystems geändert, die Umformung des Gerichtssystems ist im Gange, wie auch in Rumänien.

Bei uns wurde das Justizsystem 1997/1998 reformiert, strukturelle Änderungen fanden seitdem nicht statt - insofern ist bei uns die Lage besser, als in den übrigen Beitrittsländern. Doch die Richter betreffende Rechtsmaterie, sowie jene grundlegenden Rechtsvorschriften, die von den Gerichten angewandt werden, sind immer noch nicht verabschiedet worden. Im Jahre 2000 wurde das Durchleuchtungsgesetz auf die Richter ausgeweitet, die richterliche Autonomie beengende Vorschriften wurden verabschiedet und auch weiterhin ist unent-

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schieden, wann das in der Verfassung in Aussicht gestellte Gerichtssystem seine Tätigkeit in vollem Masse aufnimmt. Die Bedenken der amtierenden Regierung gegenüber einiger Elemente der Reform von 1997/98 sind wohlbekannt, u. A. gegenüber der Rückkehr zum vierstufigen Gerichtssystem und der Aufstellung von Regionalgerichten. Ich muß hinzufügen, daß die Räson des wiederbelebten vierstufigen Gerichtssystems nicht nur bei uns in Frage gestellt wird. In Tschechien begannen 1995 zwei Regionalgerichte ihre Arbeit, fünf Jahre später schon versuchte die Regierung sie im Rahmen der Reform des Gerichtssystems abzuschaffen, jedoch lehnte das Parlament dies - zusammen mit den übrigen Reformelementen - ab.[34]

Bei uns stand genauso wie in Tschechien, der Slowakei oder Litauen, im Hintergrund der Wiedereinführung des vierstufigen Gerichtssystems die Bestrebung das gewachsene Ansehen der Judikative (oder zumindest der höchsten richterlichen Ebene) und den Bruch mit der Vergangenheit auch auf diese Weise zu betonen. Die Notwendigkeit der Einsetzung von Regionalgerichten wiederum wurde in erster Linie mit der Verbesserung des Niveaus der Rechtsprechung sowie der Effizienz der Justiz begründet. Nun ist es offensichtlich, daß die wachsende Zahl der Gerichtsinstanzen die bürokratischen, hierarchischen Züge des Gerichtssystems verstärkt, die Kluft zwischen unteren und oberen Gerichten erweitert, der Urteilsautonomie entgegenwirkt, obschon die Effizienz der Justiz sowie das Ansehen der Richter und der Gerichte am ehesten durch eine anspruchsvolle Rechtssprechung auf unterer Gerichtsebene gewährleistet werden kann.[35] Doch ist einmal das Einsetzen des vierstufigen Gerichtssystems beschlossene Sache (das Zurückkehren zum dreistufigen System ist chancenlos, da dies eine Verfassungsänderung verlangt), so schwächt das Hinausschieben des Inkrafttretens der Verfassungsvorschrift das Vertrauen auf die Gesetzesherrschaft.

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IV.

Die Unsichertheit bezüglich des Inhalts der richterlichen Unabhängigkeit bezeugt auch, daß die Verfassungsgerichte der Beitrittsländer in zahlreichen grundlegenden Fragen zum Machverhältnis der Judikative und Exekutive Stellung nehmen mussten und auch heute noch müssen. Trotz identischer oder zumindest ähnlicher Verfassungsbestimmungen gelangen die Verfassungsgerichte der einzelnen Länder nicht selten zu verschiedenen Schlußfolgerungen, wenn sie über die Verfassungskonformität einzelner Institutionen entscheiden.[36] Das litauische Verfassungsgericht ging wohl am weitesten bei der Auslegung der Gewaltenteilung und der richterlichen Unabhängigkeit: in seinem Beschluß vom 21. Dezember 1999 erklärte es unter anderem das Recht des Justizministers dem Präsidenten Vorschläge zur Ernennung und Versetzung von Richtern und Mitgliedern des richterlichen Ehrengerichts zu machen[37], und auch sein Recht Vizepräsidenten und Kollegsleiter von Orts- und Bezirksgerichten zu ernennen, verfassungswidrig; es bezeichnete weiterhin die Befugnis des Justizministers als verfassungswidrig, die Mitgliederzahl der strafrechtlichen und zivilrechtlichen Kollege der Regionalgerichte und Berufungsgerichte festzustellen und Disziplinarverfahren gegenüber Richtern einzuleiten. Auch erklärte es eine Gesetzesvorschrift als verfassungswidrig, derzufolge der Staatspräsident durch eine Verordnung Richter für die Dauer von höchstens einem Jahr in das Justizministerium versetzen konnte (obwohl dies nur mit Einverständnis des Richters geschehen konnte).[38]

Die vom ordentlichen Gerichtssystem separierten Verfassungsgerichte[39] haben mit ihren Entscheidungen die richterliche Unabhängigkeit auch in den anderen Ländern gestärkt. In Rumänien sprach das Verfassungsgericht aus, daß Gesetze, die Suspendierung des richterlichen Verfahrens zum Ziele haben, verfassungswidrig sind und verordnete, daß die Vollstreckung richterlicher Urteile nur von richterlichen Organen ausgesetzt werden kann.[40] Einen ähnlichen

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Beschluß erbrachte das bulgarische Verfassungsgericht, und zwar deklarierte es, daß Legislative und Exekutive nicht dazu befugt sind richterliche Urteile zu widerrufen oder zu annulieren; ebenso mit Verweis aud das Konzept der Gewaltenteilung annulierte es die Befugnis des Justizministers die Immunität der Richter temporär zu suspendieren und die Initiative zur Aufhebung der Immunität zu ergreifen.[41] Auch in Polen spielte das Verfassungsgericht eine wichtige Rolle bei der Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit[42], während das ungarische Verfassungsgericht durch zahlreiche Entscheidungen zur inhaltlichen Klärung der richterlichen Unabhängigkeit beitrug.[43]

Indes sind in manchen Beitrittsländern zwischen den ordentlichen Gerichten und den Verfassungsgerichten auch Spannungen zu spüren. Laut der Stellungnahme des Obersten Gerichtshofes in Rumänien sind Entscheidungen des Verfassungsgerichts ohne Bestätigung der Legislative für Gerichte nicht bindend. Als Reaktion darauf folgte ein Beschluß des Verfassungsgerichts, demzufolge Richter, die dessen Entscheidungen ignorieren, zur Verantwortungt gezogen werden können.[44] In Polen sind viele Richter nicht gewillt verfassungsrechtliche Fragen dem Verfassungsgericht vorzulegen, da dies ihrer Ansicht nach ihre Unabhängigkeit verletzt, auch kommt es vor, daß das Gericht mit Verweis auf die Unabhängigkeit Entscheidungen des Verfassungsgerichts außer Acht läßt.[45] Hierzulande erscheint der Konflikt in milderem Ausmaß: einzelne Richter halten es für eine unbegründete und die ordentlichen Gerichte belastende Diskriminierung, daß während der Nationale Justizrat seinen Entwurf zum Budget der Gerichte der Regierung vorlegt (und die Regierung dann ihren eigenen Vorschlag entwirft), das Verfassungsgericht seinen Entwurf direkt dem Parlament vorlegt. Es erinnern sich nur noch wenige daran, daß das Oberste Gericht in Verbindung mit einer verfassensrechtlichen Klage eine Entscheidung des Verfassungsgerichts, die obendrein ein richterliches Urteil annulierte, als Eingriff in den Einflußbereich der Gerichte beurteilte[46], doch mag es leichter in Erinnerung zu rufen sein welchen Widerstand jenes Konzept hervorrief, demnach die Beschlüsse zur Rechtsvereinheitlichung des Obersten Gerichts der Kontrolle des Verfassungsgerichts unterstellt werden sollten.

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Solche Spannungen sind verständlich, denn es steht außer Zweifel, daß bereits die Existenz von Verfassungsgerichten die richterliche Urteilsautonomie schwächt[47]. Zwar sind einige der Meinung, daß das ungarische Gesetz über das Verfassungsgericht die ordentlichen Gerichte nicht daran hindert die Verfassung eigenständig zu interpretieren, und auch daran nicht, daß sie als verfassungswidrig erachtete Rechtsvorschriften in konkreten Fällen "beiseite legen"[48]. Obschon es Tatsache ist, daß Gerichte nur in Ausnahmefällen eine Eigeninterpretation der Verfassung wagen, und zur Revision der Verfassungsmässigkeit einer Rechtsvorschrift das Oberste Gericht ausschließlich das Verfassungsgericht als kompetent erachtet.[49]

In seiner bereits zitierten Abhandlung schreibt Salzberger, daß die Politiker die richterliche Unabhängigkeit nicht deshalb respektieren, nicht einmal von den legitimen Eingriffsmöglichkeiten Gebrauch machen, weil sie die Heilslehren über die Gewaltenteilung gelesen und verinnerlicht haben. Politiker gehen rational vor, nehmen auf der Grundlage von Kosten-Profit-Analysen Stellung und sind oftmals besser dran, wenn sie die Entscheidungsverantwortung auf andere abwälzen.[50] Wo separate Verfassungsgerichte tätig sind - so in den Beitrittsländern mit Ausnahme von Estland-, kommen die wahrhaft heiklen und die Gesellschaft spaltenden Fragen in der Regel vor das Verfassungsgericht. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Legislative und Exekutive gerade deshalb nicht wirklich daran interessiert sind die Unabhängigkeit von ordentlichen Gerichten und deren Mitgliedern zu bewahren, vor allem in den Systemen, wo sie von der grundrechtlichen Gerichtsbarkeit vollständig ausgeschlossen sind.

Gleichzeitig geht aus den Schriften über die Justizsysteme der mittel-osteuropäischen Länder sowie den Länderberichten der EU Kommission auch hervor, daß Verfassungsgerichte dort objektiv und autonom funktionieren, dort fähig sind dem politischen Druck zu widerstehen, wo die Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte mehr oder weniger respektiert wird, und umgekehrt. Im Bericht über Bulgarien ist zu lesen, daß "weitere Anstrengungen unternommen werden müssen um die Justiz zu stärken und unabhängig zu machen", während die Kommission bei der Beurteilung der rumänischen Sachlage nicht nur die

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Notwendigkeit weiterer Reformen zur Stärkung der Unabhängigkeit betonte, sondern auch auf die versuchte Verletzung der Unabhängigkeit durch die Regierung hinwies. Gleichzeitig fällten die Verfassungsgerichte in eben diesen zwei Ländern Entscheidungen, die die Vermutung nahelegen, daß die Richter bestrebt waren sich den Erwartungen der jeweils aktuellen Machthaber anzupassen. Das bulgarische Verfassungsgericht brachte seine Entscheidung über die selbe, dreimal gestellte Frage (ob es verfassungsgemäß sei neben der Änderung des Gesetzes über die Zusammensetzung des Obersten Gerichtsrates gleichzeitig den Rat noch vor Ablauf seines Mandats auf gesetzlichem Wege aufzulösen) davon abhängig, wer die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit anregte.[51] In Rumänien besagte die Stellungnahme der von Iliescu bzw. seiner Partei gewählten Verfassungsrichter 1996, daß Iliescu zum zweiten Mal für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren kann, während ein früherer Beschluß des Verfassungsgerichts festgestellt hatte, daß er sein zweites Mandat 1992 begann.[52] (Auch der Oberste Gerichthof änderte seinen Standpunkt gemäß den Machthabern: 1994 kritisierte das Staatsoberhaupt öffentlich jene Urteile, in denen das Gericht die Rückgabe von verstaatlichtem Eigentum verordnete. Das Oberste Gericht änderte daraufhin der Reihe nach die Urteile der unteren Gerichte. Doch nach den Wahlen 1998 begann es die Möglichkeit der Restitution anzuerkennen.)[53]

V.

Wer heutzutage Abhandlungen zur Lage der richterlichen Unabhängigkeit in Ungarn verfaßt kommt nicht umhin zu untersuchen, ob die Besorgnis um die Unabhängigkeit begründet ist, da Politiker öfter mal ihre Vorbehalte gegenüber der Tätigkeit von Gerichten laut werden lassen und es auch vorkommt, daß Urteile konkreter Fälle zur Zielscheibe der Kritik werden. Wo ist die Grenze, deren Überschreitung bereits als Einmischung in die gerichtliche Urteilsautonomie gewertet werden kann?

Es steht außer Frage, daß das Verhältnis der Gerichte zu den anderen Staatsgewalten in keinem der Beitrittsländer ungebtrübt ist. Ich erwähnte bereits, daß die bulgarische Gesetzgebung mehrmals versuchte die Zusammensetzung des Obersten Richterrates zu ändern, doch sogar in Ländern wie Slowenien, wo die Dinge mehr oder weniger ordnungsgemäß verlaufen, versucht sich die Exeku-

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tivgewalt daran den richterlichen Rechtsbereich zu schmälern. Interessant ist, daß diese Versuche am Widerstand der Richter scheiterten. Als der slowenische Justizminister zwischen 1999 und 2000 seine Kompetenz mißbrauchte und den Präsidenten eines Ortsgerichts mehrmals versetzte, erklärte das Verwaltungsgericht seine Entscheidung jedes Mal unwirksam. Der Versuch des Ministers einzelne untere Gerichte unter seine Kontrolle zu bringen scheiterte am Widerstand der Präsidenten der Berufungsgerichte.[54] Der Widerstand von Richtern oder zumindest deren Protest hat die Politik auch anderswo zur Mässigung ermähnt: in Lettland beurteilte die Richtervereinigung in einer Erklärung eine Eingabe von acht Parlamentsmitgliedern, die die Freilassung eines Journalisten forderte, als Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit, und dieser Meinung war sie auch dann, als Parlamentsabgeordnete öffentlich ihre Meinung zu einem laufenden Fall äusserten.[55]

Auch die Kritik an bereits gefällten Gerichtsurteilen ist nicht selten: in Rumänien bewertete der Staatspräsident ein Gerichtsurteil als "schwerwiegenden politischen Fehler", da es die strafrechtliche Verantwortung zweier Generäle feststellte, weil die Angeklagten 1989 im Verlauf der Ereignisse von Timisoara den Befehl zum Mord gegeben hatten.[56] Auch der Regierungschef sprach von einem politischen Prozeß, und der Generalstaatsanwalt suspendierte den Vollzug des Urteils, obwohl dafür keine rechtliche Grundlage bestand. Noch verbreiteter ist die Rüge an Gerichten deswegen, weil sie sich nicht am "Kampf gegen die Kriminalität" beteiligen. In seiner Rede bei der Generalversammlung der Richter ersuchte der bulgarische Regierungschef die Richter der Korruption Angeklagte schneller abzuurteilen.[57] Die Spannung zwischen Politik und Justiz erscheint in manchen Fällen als der Gegensatz zwischen aufgeklärter Exekutiv-und Legislativgewalt einerseits und aus der Vergangenheit geerbter konservativer Richterschaft andererseits. Die ständige Kritik an der Richterschaft ist selbstverständlich inkorrekt und ungerecht. Inkorrekt, weil die Richterschaft aufgrund ihres Verbots am politischen Leben teilzunehmen nicht kontern kann, sich die Beschuldigungen nicht verbitten kann - gerade deswegen braucht es

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nicht viel Mut zum Lästern. Und ungerecht, weil die Richterschaft in allen Beitrittsländern zumindest auf unterer Ebene ausgewechselt wurde.[58]

Die Kritik an der Justiz ist auch bei uns nicht ungewöhnlich. Ich habe nichts daran auszusetzen, wenn Politiker ihre Ungehaltenheit gegenüber dem 1998 ausgearbeiteten Gerichtssystem und der Institution des Nationalen Justizrates Ausdruck verleihen. Zwar ist es nicht klar, was genau das Problem mit dem Rat (OIT) ist, denn ich halte es für ausgeschlossen, daß seit seines Bestehens weniger qualifizierte Personen zu Richter ernannt wurden oder in höhere Positionen gelangten als früher. Meines Wissens hat dies niemand behauptet, auch nicht, daß die Bewertung von Richtern heute oberflächlicher sei, oder daß die Organisiertheit der Gerichtsverwaltungen sich verschlechtert hätte. Ich würde ja verstehen, wenn der Rat dafür kritisiert würde, daß einige der Mitglieder öfters nicht persönlich sondern durch ihre Delegierten am Entscheidungsprozeß teilnehmen. Auch kann bezweifelt werden, inwieweit die Ratsmitglieder fähig sind die durch das Amt erstellten Materialien zu überschauen. Ausländische Fachleute sind jedenfalls sehr verblüfft zu hören, daß innerhalb einer Institution, die so breitgefächerte Kompetenzen innehat, deren Mitglieder die einzelnen Bereiche nicht untereinander aufgeteilt haben.

Oder man könnte auch jene Verordnung beanstanden, die den Rat befugt auf Empfehlung eines seiner Mitglieder hin zu verordnen, daß "die Gesellschaft in weitem Masse betreffende oder für das Gemeinwohl außerordentlich bedeutende Angelegenheiten vorrangig behandelt werden"[59]. Diese Regel ist augenscheinlich harmlos, auch das Strafverfahrensgesetz beinhaltet eine Bestimmung für vorrangiges Verfahren im Falle von sich in Untersuchungshaft befindenden Personen.[60] Nur daß hier der Schutz des Angeklagten vor den allseits bekannten und anerkannten schädlichen Konsequenzen der Untersuchungshaft im Vordergrund steht - die Vorrangigkeit ist mit dem Schutz des Einzelnen begründet, nicht mit dem Schutz der "Gesellschaft" oder des "Gemeinwohls". Schon allein der Sprachgebrauch ist bezeichnend, und suggeriert die gewünschte Richtung der Entscheidung. Grundprinzip des richterlichen Verfahrens ist es, daß nur die zum Fall gehörenden Umstände zählen, und dies bezieht

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sich auch auf die Form. Die Entscheidungsunabhängigkeit erstreckt sich auch auf das Verfahren. Ein von der International Bar Association 1982 verabschiedetes Dokument über die Mindestbedingungen der richterlichen Unabhängigkeit besagt - genauso wie jedes andere Dokument über die richterliche Unabhängigkeit -, daß "der Richter bei der Ausübung der richterlichen Funktion nur dem Recht und seinem Gewissen unterworfen ist". Die "richterliche Funktion" wiederum definiert es als Kombination - zu gleichem Anteil - von Verwaltungs-, Verfahrens- und inhaltlicher Entscheidung.[61] Der richterlichen Urteilsunabhängigkeit bedarf es demnach der Freiheit von äusseren Einflüssen in Verwaltungs- sowie Verfahrensfragen genauso wie bezüglich des Inhalts der Entscheidungs. "Die Anberaumung der Fälle oder die Erledigung von Verfahrensanträgen bilden nämlich genauso Teil des 'Urteilens' wie die inhaltliche Entscheidung selbst".[62]

VI.

Auch bei uns kommt es vor, daß Richter wegen Urteilen in konkreten Fällen oder wegen laufenden Verfahren Anschuldigungen zu hören bekommen. In solchen Fällen geht es natürlich häufig um etwas anderes als die jeweiligen Angeklagten oder Urteile. Vielmehr geht es darum, daß die Wirkung solcher Aussagen garniert mit Gefängniszelle und Kerkerketten viel grösser ist. Adressat der Aussagen in solchen Fällen ist in erster Linie offensichtlich nicht der Angeklagte oder der Richter, sondern das Publikum. Der Strafprozeß bildet nur den spektakulären und durchaus wirkungsvollen Rahmen für die Erklärungen von Politikern.

Die Grenzen der annehmbaren Kritik sind auch in westlichen Demokratien nicht eindeutig. 1998 war der Präsident der einflußreichen American Bar Association gezwungen den Aufruf an die staatlichen und regionalen Juristen zu richten, sofort auf irreführende Kritiken zu reagieren. Nun geht es sehr wohl aus dem Aufruf hervor, daß so gut wie jede Kritik an konkreten Urteilen oder an einzelnen Richtern automatisch "irreführend" ist und sich "unobjektiver Rhetorik" bedient, weil nämlich Regeln der Gerichtsethik dem Richter verbieten zu antworten.[63] Doch bleiben wir auf unserem Kontinent: in Deutschland wirbelte der Fall Orlet, ein Mannheimer Richter, rieseigen Staub auf, da er bei

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der Begründung seines Urteils gegenüber eines militanten rechtsradikalen Antisemiten beiräumte die Beweggründe des Angeklagten in gewissem Masse zu verstehen. Orlet geriet ins Kreuzfeuer der Presse, einige Mitglieder des BadenWürttembergischen Parlaments drohten ihn seines Amtes zu entheben, und seine Kollegen distanzierten sich öffentlich von den im Urteil angeführten Bemerkungen.

Heute erinnert man sich an den Fall Orlet (oder Deckert) eher in Zusammenhang mit der Straftat der Auschwitzlüge, doch der Fall zeigt zugleich, daß es anderweitig nicht ganz eindeutig ist wie weit die Politik bei der öffentlichen Kritik an konkreten Urteilen und einzelnen Richtern gehen kann. Gleichwohl ist in den neuen Demokratien mehr Vorsicht geboten, da hier ein Teil der Richterschaft - schon aus Altersgründen - sich nur schwer das aus der vergangenen Ära stammende Verhaltensmuster des Anpassungsreflexes abgewöhnen kann, als das Ansehen der Gerichte noch weit unter dem westeuropäischen Durchschnitt lag. (Und vergessen wir nicht: bei uns, genauso wie in den meisten Beitrittsländern, ist der Richterschaft nicht erlaubt zu politischen Fragen Stellung zu nehmen. Wenn jedoch der Hinweis auf das Gefährden der richterlichen Unabhängigkeit als politische Steluungnahme betrachtet wird - und dies scheint hierzulande der Fall zu sein -, dann muß, will man konsequent sein, die Kritik auch verboten werden.)

Bezüglich des Ansehens der Richter nur soviel: die Zeit des Übergangs ist objektiv gesehen der Verbesserung des richterlichen Prestiges nicht eindeutig zuträglich. Hierzu Eötvös: "das richerliche Urteil kann weder von der Gesetzgebung, noch von der Exekutive widerrufen werden.[64] Dieser Aspekt der richterlichen Unabhängigkeit wird als fundamentale Unabhängigkeit bezeichnet: es ist sinnlos die Objektivität und Unparteilichkeit des richterlichen Verfahrens zu garantieren, wenn die anderen beiden Staatsgewalten dessen Produkt abändern, ignorieren, annulieren."[65] Die Wende hat auch bei uns zwangsläufig die Frage der Notwendigkeit von Überprüfung und Annullierung jener Urteile, die in Scheinprozessen entstanden, auf Gesetzesverletzung oder amoralischen Normen basierten, aufgeworfen. Die außerordentlichen Rechtsmittel lieferten -teils aus rechtlichen Gründen, teils wegen Personalmangel - nur in einem unbedeutenden Teil der Fälle eine Lösung. Die Begnadigung war auch keine Alternative, nicht nur, weil hierzulande zu Zeiten der Wende Begnadigung meist vom Bild der verzeihenden, sich erbarmenden amoralischen Macht begleitet wurden, sondern auch, weil die Begnadigung das, was sie korrigiert oder durch

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andere Werte ersetzt, als Recht anerkennt.[66] Blieb also nur die Urteile auf dem Wege der Gesetzgebung für nichtig zu erklären. Doch der langwierige Vorgang der Urteilsannullierung - zuletzt verabschiedete das ungarische Parlament im Jahre 2000 ein Gesetz über die Nichtigkeit von Gerichtsurteilen[67] - hat offensichtlich auch gesellschaftspsychologische Folgen. Zwar lassen sich die Elemente der "Vergangenheitsbewältigung", deren potentielle Varianten rechtlich von einander trennen, doch die Feststellung von Rechtsverletzungen und die damit verbundene moralische Entschädigung der Opfer werfen zwangsläufig die Frage der Verantwortlichen, der Verursacher der Rechtsbrüche und des Leids, auf.

Die zwangsläufige Vergangenheitsbewältigung in Form von Annullierung richterlicher Urteile tangiert nun das Absehen derer, die zum Großteil noch nicht auf der Welt waren, als die Urteile entstanden. Die den ungarischen Übergang charakterisierende Personalkontinuität ist verknüpft mit der Tatsache, daß die Richter, da ihnen jeglicher politischer Kommentar versagt ist, von außen betrachtet eine homogene Gruppe bilden.

VII.

Immer wenn Politiker die Gerichte dazu auffordern am "Kampf gegen die Kriminalität" teilzunehmen und ihre Urteile wegen Ignorierung gesellschaftlicher Bedürfnisse kritisieren, ringen sie zur Sprache, daß die Richter sich nicht abgrenzen, nicht isoliert von der Gesellschaft urteilen dürfen. Und fügen hinzu, daß man in den westlichen Demokratien bereits die Gefahren der Isolierung der Richterschaft erkannt hat. Der Unterschied ist indes nicht unbedeutend: wenn die Richter Übersee oder in Westeuropa wegen ihrer Isolierung Kritik erfahren, geschieht dies deswegen, weil es ihnen angeblich an Lebenserfahrung, an Vertrautheit mit anderen Kulturen, an Mitgefühl fehlt. Die Richter entstammen denselben Gesellschaftsschichten, ihre Erziehung und Ausbildung ist identisch. Zahlenmässig signifikante, jedoch machtlose Gruppen der Gesellschaft sind in der Richterschaft nicht vertreten. Deswegen, und aufgrund ihrer speziellen fachlichen Sozialisation isolieren sich Richter und werden unfähig das wichtigste Element ihrer Berufung anständig auszuüben: die Rechte der Schwachen, der Minderheiten, der Unbeliebten vor den Übergriffen der Mehrheitsdemokratie zu schützen.

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Doch ist es wahr, daß Wissenschaftler und Praktiker sich in den letzten Jahren immer öfter damit beschäftigt haben, wie der Urteilsvorgang überschaubarer gestaltet, verfolgt und gleichsam garantiert werden kann, daß die Richter über ihr Vorgehen Rechenschaft ablegen. Die Gesellschaft hat nicht nur auf von den übrigen Staatsgewalten unabhängige Gerichte ein Anrecht, sondern auch darauf, daß ausschließlich qualifizierte und anständige Richter von dem Amt entsprechendem moralischem Format Recht sprechen. Aus all dem - nennen wir es mangels eines besseren Ausdrucks Rechenschaftverpflichtung - geht hervor, daß bei der Ausarbeitung von Institutionen zur Auswahl, Beurteilung, Versetzung nicht nur die Möglichkeit unbefugten politischen Einflusses ausgeschlossen, sondern auch dafür gesorgt werden muß, daß lediglich kompetente, unanfechtbare Personen in die Richterschaft aufgenommen und offensichtlich Ungeeignete daraus entfernt werden.

Unabhängigkeit bedeutet, daß Richter nur den Gesetzen unterstellt sind; zur Rechenschaftsablage verpflichten wir sie deshalb um sicher zu gehen, ob sie sich tatsächlich den Gesetzen unterworfen und sich derer nicht entledigt haben. Die beiden Institutionen stärken einander vielmehr, als daß sie sich gegenseitig einzuschränkten. Das Problem sehe ich darin, daß die Politik in den Beitrittsländern sich regelmäßig, mit Verweis auf die Rechenschaftspflichtigkeit der Richter - aufgrund Mangel an Fantasie oder instinktiver Aversion gegenüber Autonomie -, solcher Mittel bedient, die die Unabhängigkeit in Gefahr bringen. In Bulgarien plant man die Richter ihres Rechts auf Rechtsmittel gegenüber in Disziplinarverfahren erbrachten Entscheidungen zu berauben[68], und in den vergangenen Jahren entstand ein Entwurf zur Einschränkung des in der Verfassung verankerten Rechts der Richter auf Immunität[69]. In Slowenien schlugen Parlamentsmitglieder vor die Ernennung von Richtern auf Lebenszeit abzuschaffen.[70] Derartige Versuche sind eher Einzelfälle und nicht charakteristisch für alle Beitrittsländer, während die Ernennung von Richtern für erstmals bestimmte Zeit zur Regel zu werden beginnt.[71] Wahr ist auch, daß internationale Dokumente die Ernennung auf Probezeit für akzeptabel halten, zumindest in Systemen, wo die Mitglieder der Richterschaft ihre Arbeit als Juristen innerhalb des Gerichtssystems beginnen und nicht im späteren Verlauf ihrer Karriere "von außen" angeworben werden, wenn sie ihre Kompetenzen schon unter Beweis gestellt haben. Trotzdem ist die Institution von Seiten der Unabhängigkeit noch lange nicht unproblematisch[72], und es ist kein Zufall, daß das nor-

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wegische Oberste Gericht verkündete, daß für bestimmte Zeit ernannte Richter nicht in Rechtsstreiten urteilen dürfen, in denen eine der Parteien der Staat oder eine seiner Einrichtungen ist.[73]

Tatsache ist zugleich, daß die Politik - mit Berufung auf die richterliche Rechenschaftspflicht - am ehesten dann zu die Unabhängigkeit gefährdenden Maßnahmen greift, wenn die Gerichte sich weigern Einblick in ihre Vorgehensweise zu gewähren und wenn sie - aufgrund falscher Interpretation von Unabhängigkeit - nichts zur Entfernung offensichtlich Ungeeigneter tun. All dies gibt aber noch lange kein Recht auf Beeinträchtigung der Unabhängigkeit. Die richterliche Unabhängigkeit muß nicht deshalb respektiert werden, damit sich die Richter besser fühlen. Unabhängigkeit ist nicht ein richterliches Privileg, sondern eine Pflicht, das dem Grundrecht eines jeden auf eine unbefangene und unparteiische Justiz entspringt. Die richterliche Unabhängigkeit existiert für das Wohl der Bürger, deshalb müssen die Mächtigen für ihre Unverletzbarkeit Sorge tragen. Auch ist es in ihrem Interesse dies zu tun. Denn auch sie sind Bürger, oder können eines Tages dazu werden.

Summary - Judicial Independence in the New EU Accession States. The Case of Hungary

The essay examines to what extent the legal environment favours judicial independence in East-Central Europe's (ECE) accession countries: what are the legal and non-legal factors that strengthen or weaken it. By comparing the accession countries, the author checks the validity of the hypothesis that the factors restricting judicial independence originate from the same source and are of the same magnitude in Hungary and in the other ECE countries, or whether or not in the ECE countries the other branches of government guarantee the independence of judiciary to varying degrees depending on country-specific traditions, the legal and political culture concerned and the degree of departure from the values of liberal democracy under the decades of single-party rule. The

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essay offers a detailed discussion of the guarantees and various aspects of judicial independence; analyses in detail the extent to which the existence of separate Constitutional Courts affects judicial independence.

The other subject addressed is the judges' accountability. As is well known, the community has a legitimate claim to have a judiciary that is independent of the other branches of government and that the judges should be qualified, honest and moral. The author concludes that independence and accountability do not restrict each other. On the contrary, they are complementary. Judicial independence means that judges are subordinated to laws only and, when they are called to account, the community wishes to be reassured that they indeed respected the laws. The problem, the author states, is that in the accession countries - including Hungary - politicians, using accountability as a pretext (and perhaps motivated by a gut aversion to autonomy), regularly resort to means that jeopardise judicial independence. ■

ANMERKUNGEN

[1] Joseph Freiherr von Eötvös: Der Einfluß der herrschenden Ideen des 19. Jahrhunderts auf den Staat. Dritte Auflage. Dritter Band. Budapest, Ráth Mór 1886. S. 254, 255 und 264

[2] Siehe István Bibó: Az államhatalmak elválasztása egykor és most (Die Trennung der Staatsgewalten einst und heute). István Bibó: Válogatott tanulmányok (Ausgewählte Schriften). Zweiter Band 1945-1949. Magvető Budapest 1986. S. 369-397.

[3] Siehe z. B. Mauro Cappellettis Kapitel Who Watches the Watchmen? In: The Judicial Process in Comparative Perspective (Clarendon Press, London, 1989); A. Wayne Mac Kays Abhandlung (Manuskript) Judicial Free Speech and Accountability: Should Judges Be Seen But Not Heard? zur Jahressitzung der Canadian Bar Association 1992 oder Linn Hammergrens Schrift Judicial Independence and Judicial Accountability: The Shifting Balance in Reform Goals In: Guidance for Promoting Judicial Independence and Impartiality Office of Democracy and Governance, Wahington DC 2001 November. (i. w.: Guidance 2001) Erreichbar auf der homepage von USAID: http://www.usaid.gov/democracy/pdfs/pnacm003.pdf

[4] Das politische Kriterium des EU-Beitritts (die sog. Kopenhager Kriterien von 1993) ist die Stabilität der Demokratie, Herrschaft der Gesetze, Menschenrechte, Respekt und Schutz von Minderheiten garantierenden Einrichtungen.

[5] Unter den jährlichen Berichten der Kommission (Regular Reports) von 2001 behandelt nur der Rumänien bewertende Bericht den Versuch des konkreten staatlichen Eingreifens auf die richterliche Unabhängigkeit. Der Bericht über Estland hebt hervor, daß die straffe Verwaltung durch das Justizministerium sowie die eingeschränkte finanzielle Autonomie der Gerichte die richterliche Unabhängigkeit gefährden. Dem die Slowakei bewertenden Bericht zufolge "ist im Bereich der Praxis ein bedeutender Schritt notwendig um die professionelle Unbefangenheit und politische Neutralität der Richter zu garantieren". Der sich mit den lettländischen Geschehnissen auseinandersetzende Bericht drückt es milde aus: "Zwar gibt es Bestimmungen in der Verfassung bezüglich der richterlichen Unabhängigkeit, jedoch behält sich die Exekutive, insbesondere das Justizministerium seine weitläufigen Berechtigungen zur Verwaltung der Gerichte und deren Finanzen, sowie der Gestaltung der professionellen Karrieren von Richtern vor. Der Bulgarien bewertende Bericht betont die Notwendigkeit weiterer, die richterliche Unabhängigkeit stärkender Maßnahmen. Laut des Berichts über Polen "muß ein funktionsfähiger Konsens bezüglich richterlicher Unabhängigkeit und Selbstverwaltung gefunden werden".

[6] Die Tatsache, daß die Beschleunigung des Verfahrens nicht zu Lasten der Garantien gehen darf, wird vom Jahresbericht 2001 der Kommission über Rumänien bestätigt, welcher bemängelt, daß die im April 2001 in Kraft getretene Änderung der Zivilverfahrensordnung das Recht auf Berufung erheblich einschränkt.

[7] Obgleich er nicht wirklich treffend ist, verwende ich der Einfachheit halber den Begriff Mittel-Osteuropa. Ich stütze mich in erster Linie auf Untersuchungen des Open Society Institute, welche die Lage der richterlichen Unabhängigkeit in Bulgarien, Tschechien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Ungarn, Rumänien, der Slowakei und Slowenien aufzeichnen. Open Society Institute, Monitoring the EU Accession Process: Judicial Independence, CEU Press, Budapest 2001 (i.w.: OSI Bericht).

[8] Siehe Edwin Rekosh, Emerging Lessons from Reform Efforts in Eastern Europe and Eurasia. In: Guidance 2001. S. 53.

[9] Zoltán Fleck, Jogszolgáltató mechanizmusok az államszocializmusban (Mechanismen der Rechtspflege im Statssozialismus), Napvilág Verlag, Budapest, 2001. S. 109-110. Fleck erwähnt als Vergleich die Absetzung der DDR Richtergarde, und wir können hinzufügen, daß auch Polen, Tschechien oder Estland mit Hilfe strenger Regelungen und Maßnahmen die im vergangenen System zu Schulden gekommenen Richter ihres Amtes enthoben haben. Siehe OSI Bericht, S. 56.

[10] Die Feststellung Edwin Rekoshs, derzufolge unter den Mitgliedsstaaten des ehemaligen Warschauer Paktes die liberale Traditions am ehesten in Ungarn und Polen bewahrt wurde, kann als repräsentativ betrachtet werden. Siehe Rekosh oc S. 53. In einem anderen, die mitteleuropäische Rechtskultur analysierendem Band ist zu lesen, daß "die Richter - da sie im Sinne des Rechtspositivismus ausgebildet wurden - in vielen Fällen fähig waren den ad hoc Einmischungsversuchen der Regierung und der kommunistischen Partei zu widerstehen. ... und all dies erleichterte die Rückkehr zu früheren Rechtstraditionen nach 1989". Erhard Blankenburg et al., Legal Cultures in Five Central European Countries, Scientific Council for Government Policy, the Hague, 2000. S. 119.

[11] Siehe z. B. Blankenburg, oc S. 129.

[12] Verbreitet ist auch der Begriff der funktionellen Unabhängigkeit.

[13] Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. In: Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, Herausgegeben von Erik Wolf und Hans-Peter Schneider, K.F. Koehler Verlag, Stuttgart, 1973. S. 349.

[14] Dies ist offensichtlich, wenn man die richterliche Unabhängigkeit als Grundrecht betrachtet. Es ist nicht das Recht des Richters unabhängig zu sein, sondern seine Pflicht. Recht auf richterliche Unabhängigkeit hat der Rechtsuchende. Doch wenn die Verfassung besagt, daß jeder das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gerichtsverfahren hat (57 § /Absatz 1.), erteilt sie nicht das Recht darauf, daß gut ausgestattete und ordentlich bezahlte Richter das Urteil erbringen, oder daß die richterliche Gewalt sich von der Gesetzgebung und Exekutivgewalt absondert, sondern darauf, daß im jeweiligen Fall ein objektives und unvoreingenommenes Urteilt erbracht wird, frei von jeglichen unbefugten Einflüssen.

[15] Shimon Shetreet, Judicial Independence: New Conceptual Dimensions and Contemporary Challenges, In: S. Shetreet and J. Deschènes, Judicial Independence: The Contemporary Debate, Martinus Nijhoff Publishers, Dordrecht/Boston/Lancaster, 1985., S. 595.

[16] Bezüglich der Frage siehe András Sajó, Az önkorlátozó hatalom (The Self-Limiting Government), Verlag für Wirtschafts - und Rechtsliteratur, MTA (Ungarische Akademie der Wissenschaft) Institut für Staats - und Rechtslehre, Budapest, 1995. S. 273.

[17] Eli M. Salzberger, A Positive Analysis of the Doctrine of Separation of Powers, or: Why do we have an Independent Judiciary? International Review of Law and Economics, December 1993. S. 354-355.

[18] Siehe MacKays Abhandlung (oc S. 18)

[19] Manfred Nowak, UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte und Fakultativprotokoll-CCPR- Kommentar, Engel Verlag, Kehl am Rhein/Straßburg/Arlington, 1989. S. 259.

[20] Siehe z. B. die Urteile in den Fällen Findlay gegen das Vereinigte Königreich (25. Februar 1997) und Ciraklar gegen die Türkei (28. Oktober 1998). Zur Verbindung zwischen Militärgerichten und fairen Verfahren siehe Ralph Beddards Abhandlung, The Right to a Fair Trial in the Services, European Law Review Human Rights Survey 1998. S. 49-61.

[21] Anstelle der vom Europäischen Menschengerichthof untersuchten Fälle möchte ich auf die unlängst erschienene Arbeit von Ben Emmerson und Andrew Ashworth mit dem Titel Human Rights and Criminal Justice hinweisen. Sweet and Maxwell, London 2001. S. 367-375.

[22] Deshalb untersucht der Gerichthof auch, wie die Rechtsvorschrift angewandt wird. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Fall Campbell und Fell, in dem der Gerichtshof besagt: es ist wohl wahr, daß die Unversetzbarkeit der Richter während ihrer Amtszeit durch die Exekutivgewalt im Allgemeinen eine Grundbedingung der Unabhängigkeit darstellt, doch bedeutet das Fehlen einer solchen formalen Regel noch nicht die Verletzung der Unabhängigkeit, vorausgesetzt, daß sie in der Praxis respektiert wird und weitere Garantien gegeben sind. (Fall Campbell und Fell gegen das Vereinigte Könogreich, Punkt 80. des Urteils vom 28. Juni 1984)

[23] Fall Sramek gegen Österreich, siehe Punkt 42. des Urteils vom 22. Oktober 1984.

[24] Empfehlung Nr. 12 (94) zur Unabhängigkeit, Effizienz und Rolle der Richter.

[25] So deklarieren z. B. die Grundprinzipien der UN, dass die Auswahl von Richtern bzw. deren Beförderung nur auf objektiven Faktoren beruhen darf. Die Empfehlung des Europarates fügt hinzu, daß das über die Auswahl und Beförderung von Richtern entscheidende Gremium unabhängig von der Regierung sein muß; die Unabhängigkeit dieses Gremiums wiederum kann so gewährleistet werden, indem dessen Mitglieder von den Richtern selbst gewählt werden. Gesetzt den Fall, daß im jeweiligen Land die Regierung berechtigt ist die Richter zu ernennen, müssen Garantien zur Transparenz des Auswahlverfahrens und dessen Unparteilichkeit ausgearbeitet werden. Dies könnte beispielsweise in Form eines unabhängiggen, kompetenten Ausschusses geschehen, dessen Vorschläge die Regierung in der Praxis annimmt, oder Gewährleistung eines Rechtsmittels, bei dem ein unabhängiger Ausschuß die Entscheidung fällt. Die von unterschiedlichen richterlichen Organisationen definierten Bedingungen stimmen in grossem Masse mit den UN und Europarat Dokumenten überein, jedoch ist ihr Ton entschlossener und betont: die Verwaltung der Gerichte muß einem die Richter repräsentierenden, von jeder anderen Gewalt unabhängigem, Gremium überlassen werden, ferner können Disziplinarverfahren gegen Richter ausschließlich von einem aus Richtern bestehendem Ausschuß entschieden werden. (Siehe z. B. das 1993 adoptierte und 1996 modifizierte europäische Grunddokument der Europäischen Richtervereinigung.)

[26] Laut des bulgarischen Grundgesetzes ist die Staatsgewalt in Legislativ-, Exekutiv- und Judikativgewalt aufgeteilt, und - ähnlich der slowakischen oder estnischen Verfassung- hebt sie die Unabhängigkeit der Judikativgewalt hervor. Die litauische Verfassung deklariert die Gewaltenteilung zwischen Parlament, Präsident, Regierung und Gerichte. Die polnische Verfassung hält neben der Gewaltenteilung explizit fest, daß die Gerichte eine separate Gewalt bilden und unabhängig sind. Es wäre einer Untersuchung wert um festzustellen, ob in der Praxis die explizite Deklarierung von Gewaltentrennung und Unabhängigkeit der rechtssprechenden Gewalt in der Verfassung zusätzlichen Schutz gegen die Versuche zur Beeinträchtigung der richterlichen Urteilsunabhängigkeit bietet im Vergleich mit Ländern deren Verfassungen über die Gewaltenteilung schweigen.

[27] Laut Sajó sind Militärgerichte aus verfassungsrechtlichem Gesichtpunkt durchaus bedengklich und zwar auch dann, wenn sie in Rechtsstaaten tätig sind, welche peinlich auf Verfassungsmäßigkeit achten. Siehe Sajó oc, S. 275. Militärgerichte sind beispielsweise in Bulgarien, Polen und der Slowakei tätig.

[28] Siehe Gesetz XXVI. von 1989, Gesetz LVI. von 1991. sowie Gesetz CXXV. von 1995.

[29] OSI Bericht S. 367-368.

[30] Eötvös, oc S. 264.

[31] OSI Bericht S. 120.

[32] OSI Bericht S. 243-244.

[33] Landesreport der Kommission über Litauen, OSI Bericht S. 274.

[34] Seitdem sind die in der Verfassung vorgesehenen fünf Regionalgerichte aufgestellt worden.

[35] Hier möchte ich anmerken, daß bei der Sitzung der deutschen Juristen des Jahres 2000 die Strafrechtssektion sich mit der Umstellung auf das dreistufige Gerichtssystem befasste. Der Großteil der Teilnehmer gaben der Beibehaltung des vierstufigen Systems ihre Stimme, doch ist es beachtenswert, daß die Frage überhaupt auf die Tagesordnung geriet. Siehe Beschlüsse des 63. Deutschen Juristentages Leipzig 2000

[36] Zur Rechtsprechungspraxis des Verfassungsgerichts in der ersten Hälfte der 90er Jahre bezüglich dieser Thematik siehe Péter Paczolay, Separation of Powers Regarding the Constitutional Courts' Jurisdiction. General Report. In:P. Paczolay and B. Bitskey (compilers and editors), The 10[th] Conference of the European Constitutional Courts, Budapest, Hungarian Constitutional Court, 1997. S. 254-259.

[37] Die Mitglieder des fünfköpfigen Ehrengerichts wurden vom Präsidenten der Republik am Tag des verfassungsgerichtlichen Beschlusses ernannt, drei der Mitglieder schlug der Justzminister vor, zwei ernannte der Präsident der Republik mit Zustimmung des Richterrates.

[38] Die englische Version des Beschlusses ist auf der homepage des litauischen Verfassungsgerichts zu finden: http://www.lrkt.lt

[39] Allein in Estland gibt es kein Verfassungsgericht, die verfassungsmässige Kontrolle wird dort vom Obersten Gerichtshof ausgeübt.

[40] OSI Bericht S. 392.

[41] Beschluß des Verfassungsgerichts vom 14. Januar 1999. Die bulgarische Regelung ist recht eigen: nicht nur Richter sondern auch Staatsanwälte und Untersuchungsoffiziere gehören der Richterschaft an.

[42] Die Entscheidungen des polnischen Verfassungsgerichts befassen sich hauptsächlich mit den finanziellen Aspekten der Unabhängigkeit. Im Detail siehe hierzu OSI Bericht S. 320. Das Verfassungsgericht der Tschechischen Republik erbrachte in dieser Frage am 15. September 1999 eine Entscheidung, die mit Verweis auf die richterliche Unabhängigkeit den Entzug von Sonderzuschüssen für Richter verfassungswidrig erklärte.

[43] Siehe Entscheidungen Nr. 38/1993. (VI. 11.), 17/1994. (III. 29.), 45/1994. (X. 21.)

[44] Für Einzelheiten siehe OSI Bericht S. 364.

[45] Siehe OSI Bericht S. 314. und 336.

[46] Verfassungsgerichtsbeschluß 57/1991. (XI. 8.)

[47] Hiergegen protestieren - wie ich bereist erwähnte - einige Richter in Polenországban dadurch, daß sie nicht willens sind das verfassungsgericht zu Rate zu ziehen.

[48] Gábor Halmai: Az Alkotmány mint norma a bírói jogalkalmazásban. (Die Verfassung als Norm in der gerichtlichen Rechtsanwendung.) In: Sajtószabadság és személyiségi jogok. (Pressefreiheit und Persönlichkeitsrechte) Adu Print-INDOK (ohne Jahresangabe) S. 11-23. In Rumänien sind zur Verfassungsprüfung von vor 1991 entstandenen Verordnungen auch ordentliche Gerichte befugt. Diese Befugnis der ordentlichen Gerichte wurde vom Verfassungsgericht selbst in zahlreichen Beschlüssen bekräftigt. Zugleich nutzen ordentliche Gerichte diese Befugnis nur selten. Siehe OSI Bericht S. 359.

[49] Halmai, oc S. 18.

[50] Salzberger, oc S. 358-359.

[51] Rekosh oc S. 55-56.

[52] OSI Bericht S. 383. Laut Absatz (4), Art. 81. der rumänischen Verfassung kann das Amt des Präsidenten höchstens für die Dauer von zwei Mandaten von derselben Person innegehalten werden. Die Amtszeiten können aufeinander folgen.

[53] OSI Bericht S. 355.

[54] OSI Bericht S. 452.

[55] In letzterem Fall beeinflussten die Aussagen der Abgeordneten die unparteiliche Rechtssprechung in erster Linie deshalb, weil die endgültige Ernennung des vorsitzenden Richters durch das Parlament zu der Zeit im Gange war. Siehe OSI Bericht S. 232 zur Beeinträchtigung der richterlichen Kompetenz.

[56] Zur Beanstandung der in den konkreten Fällen entstandenen Urteilen siehe auch die Estland behandelnde Passage des OSI Berichts (S. 154-155).

[57] Zur Kritik an allzu milden Urteilen sowie diesbezogenen Forderungen zum wirksameren Vorgehen gegen Kriminalität siehe z. B. die Tschechien und Polen behandelnden Abschnitte des OSI Berichts (S. 117 und 315).

[58] Grund dafür ist nur in geringerem Masse, daß all jene, die im vorigen System Verbrechen begangen haben, mit Hilfe von Gesetzen entfernt wurden (oder noch vor ihrer Entfernung die Richterschaft selbst verliessen). In Tschechien - ebenso wie bei uns - hat ein bedeutender Teil der Richter weniger als zehn Jahre Berufserfahrung, und auch in Rumänien erhielt ein grosser Anteil der Richter erst nach 1990 seinen Abschluß. Nichtsdestotrotz wird die Richterschaft in Tschechien regelmäßig der angeblich engen Verbundenheit zum früheren Regime beschuldigt, und der estnische Staatspräsident ließ vor drei Jahren verlauten, daß die Mehrheit der Richter ihre Mentalität aus dem vergangenen totalitären System mit sich gebracht hat. Siehe OSI Bericht S. 117 und 154.

[59] Gesetz LXVI. § 41. Absatz (1) Punkt a/ 1997.

[60] Gesetz I. § 96. Absatz (1) 1973.

[61] § 1. Punkt c., siehe Shetreet oc S. 673. Der Grund ist offensichtlich: Wenn die öffentliche Meinung, die "Entrüstung der Bevölkerung" ein das Verfahren bestimmender Gesichtspunkt sein kann, ist es nur noch ein kleiner Schritt, und diese Faktoren beeinflussen auch die inhaltliche Entscheidung der Gerichte, selbst wenn sie dies nicht artikuliert tun.

[62] Shetreet oc S. 630.

[63] Siehe die homepage des Center for Judicial Independence: http://www.ajs.org/cji/criticism.html

[64] Eötvös oc S. 255.

[65] Salzberger oc S. 352. In diesem Sinne stellt sowohl die Amnestie als auch die Begnadigung in Einzelfällen eine Einschränkung der Unabhängigkeit dar.

[66] Für Einzelheiten siehe Károly Bárd: A bűnbeesett büntetőjog. Gondolattöredékek Király Tibor hetvenedik születésnapján. (Der Sündenfall des Strafrechts. Gedankenbruchstücke zum 70. Geburtstag Tibor Királys). Kriminológiai Közlemények (Kriminologische Publikationen) 33. MTA Magyar Kriminológiai Társaság (Ungarische Kriminologengesellschaft) 1990. S. 13-23.

[67] Gesetz CXXX aus dem Jahre 2000.

[68] OSI Bericht S. 22.und 105.

[69] OSI Bericht S. 104.

[70] OSI Bericht S. 435. und 462.

[71] Dies ist nicht der Fall in Tschechien, Rumänien, Slowenien. In Slowakien wurde die Ernennung auf Probezeit kürzlich abgeschafft.

[72] Siehe Shetreet oc S. 624-625.

[73] Siehe Commission on Human Rights, Fifty-fifth session, ECOSOC E/CN.4/1999/60, 13 January 1999

Lábjegyzetek:

[1] Lehrstuhl für Strafrecht, Telephonnummer: (36-1) 411-6583, e-mail: bard@ajk.elte.hu

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