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Oliver Diggelmann[1]: Das dunkle Kapitel der US-Verfassungsgeschichte (JURA, 2009/1., 200-202. o.)

«Gott schuf die Menschen und verteilte sie auf verschiedene Kontinente; er wollte nicht, dass sie sich mischen.»* So lautet eine zentrale Passage aus einem berüchtigten Urteil der amerikanischen Rechtsgeschichte. Es ging um die Zulässigkeit von Mischeheverboten. Eine schwarze Frau und ein weisser Mann aus Virginia hatten ausserhalb ihres Staates geheiratet, um ein Mischeheverbot zu umgehen. Nach ihrer Rückkehr verurteilte sie Virginia zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr - es sei denn, sie verliessen den Staat für 25 Jahre. Der Gleichbe-handlungsgrundsatz - so das Urteil - vermittle kein Recht auf Mischehe. Aus welcher Zeit - denken Sie - stammt das Urteil? Zunächst könnte man denken: vielleicht aus der Kolonialzeit, als viele religiöse Eiferer aus Europa einwanderten. Oder aus der Gründungsperiode der USA, als die Südstaaten noch die Sklaverei kannten? Oder aus der Zeit nach dem Bürgerkrieg, als eine Politik rabiater Rassensegrega-tion betrieben wurde?

1. Das Urteil des Gerichts aus Virginia stammt aus dem Jahr 1959. Das war vierzehn Jahre nach Beginn des Nürnberger Prozesses, in dem der amerikanische Chefankläger, Robert H. Jackson, die Hauptkriegsverbrecher als «Symbole des Rassenhasses» angeklagt hatte. Amerika hatte 1945 eine Art Mondlandung im Kampf gegen schwerste Menschenrechtsverletzungen erreicht: die strafrechtliche Verantwortlichkeit der politischen Entscheidungsträger. Weiter zurück, 1918, hatte US-Präsident Woodrow Wilson mit der Proklamation des Selbstbestimmungsrechts der Völker das Ende des mit rassistischen Theorien gerechtfertigten Kolonialismus eingeleitet. Es bildete die Grundlage des Entkolonialisierungsprozesses, der in der Zwischenkriegszeit begann. Vielleicht noch bemerkenswerter: Amerika hatte seine eigene Loslösung von England 1776 in einem Dokument gerechtfertigt, in dem die Formel «all men are created equal» eine Schlüsselpassage war. Die moralische Wucht des Textes - der «Declaration of Independence» - hing massgeblich mit dem Bekenntnis zur Gleichheit zusammen.

1967 hob der Supreme Court - das höchste US-Gericht - das Urteil auf. Es bestehe kein Zweifel, so das einstimmige Verdikt, dass Mischeheverbote einzig der Aufrechterhaltung der Herrschaft der weissen Rasse dienten und daher verfassungswidrig seien. Rund ein Drittel der US-Bundesstaaten kannte zu diesem Zeitpunkt - fast zweihundert Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung - solche Verbote. Wie war das möglich in einem Land, in dem das Bekenntnis zu Freiheit und Selbstbestimmung wie in keinem anderen die weltanschauliche Grundlage von Gesellschaft und Gemeinwesen war? Das Schicksal zeigte im Fall des Ehepaares aus Virginia im Übrigen einen gewissen Sinn für Symbolik - vielleicht auch Ironie: Es hiess Loving.

2. Die Grundlage für die Kultur doppelter Standards wurde in der Verfassung von 1787 gelegt. Diese - die älteste ununterbrochen geltende und berühmteste aller Verfassungen der Welt - schuf auf einer grundsätzlichen Ebene zweierlei: eine von Weitsicht getragene Staatsarchitektur, die die Freiheit der Freien wirksam schützte, und ein Bündel von Absicherungen der schlimmsten Form der Unfreiheit - der Sklaverei. Bis zum Bürgerkrieg existierte beides unverbunden nebeneinander, mit unauflösbaren Widersprüchen. Die Sklaverei-Bestimmungen von damals finden sich noch heute im Verfassungstext. Nicht mehr aktuelle Regelungen werden in der US-Verfassung nicht gelöscht, sondern durch Nachträge - «Amendments» - unwirksam gemacht. Von Sklaverei ist im Verfassungstext allerdings nicht ausdrücklich die Rede. Eher verschämt spricht er beispielsweise von «other persons». Was gemeint war, war allerdings klar.

Die Verfassung sicherte die Sklaverei nicht nur ab - sie schuf sogar Anreize, sie aufrecht zu erhalten. So hing das Stimmgewicht jedes Staates im Repräsentantenhaus - die Anzahl Abgeordneter - von der Gesamtanzahl Freier und Sklaven auf dem Gebiet eines Staates ab, wobei Sklaven zu drei Fünfteln zählten. Da befreite Sklaven den Staat jederzeit verlassen konnten - in Sklavenhalterstaaten nicht unwahrscheinlich -, bedrohten Freilassungen das Stimmgewicht. Sklavenhalterstaaten hatten ein Interesse an möglichst vielen «bondsmen». Die «drei Fünftel»-Regel sicherte den Südstaaten dabei etwa die Hälfte der Stimmen im Repräsentantenhaus - was eine gewisse Garantie ihrer Interessen darstellte. Eine andere Verfassungsbestimmung stellte sicher, dass der internationale Sklavenhandel nicht eingeschränkt werden konnte. Bis 1808 war ein Eingriff per Amendment kategorisch verboten.

3. Für die Südstaaten war die Sklavereifrage bei Unionsgründung unverhandelbar. Der Grund ist einfach: Ihre Ökonomien profitierten nicht nur von den Sklaven - sie fussten in wesentlichen Teilen auf der Sklaverei. Eine Abschaffung hätte Ökonomien und Sozialstrukturen auf einen Schlag vollständig umge-

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stülpt. Das blieb bis zum Bürgerkrieg so. 1860 war der Handelswert der Sklaven drei Mal so hoch wie jener aller Anteile an Manufakturen und Eisenbahnen zusammen. Wohlgemerkt: nicht der Südstaaten alleine, sondern der USA insgesamt. Es ging um gigantische wirtschaftliche Interessen. Diese Grundkonstellation prägte die gesamte Periode der US-Geschichte zwischen Unionsgründung und Bürgerkrieg. Akzeptanz der Sklaverei war für die Südstaaten Diskussionsvoraussetzung - nicht Streitpunkt.

Die Staatsgründung erfolgte als eine Art Pakt: Der Norden erhielt die angestrebte umfassende Union mit den dreizehn alten Kolonien - und damit die erhoffte aussenpolitische Schlagkraft, vor allem gegen das noch immer bedrohliche England. Dem Süden wurde garantiert, dass sein Wirtschaftssystem nicht angetastet wird - Nebenfolgen inbegriffen. Die soziale Explosivität des Paktes suchte man dadurch zu entschärfen, dass ein Gleichgewicht zwischen Sklavenhalter- und sklavenfreien Staaten angepeilt wurde. Keine Seite sollte ein klares Übergewicht haben und die Union dominieren können. Die moralischen Dimensionen der Sklaverei wurden auf Unionsebene tabuisiert. Sklavenhalter zu sein, war kein Makel. Die USA hatten in den ersten 32 Jahren während nicht weniger als 28 Jahren SklavenhalterPräsidenten. George Washington, Thomas Jefferson und James Madison etwa gehörten dazu. Madison - der vielleicht schillerndste der «founding fathers» der USA - hatte mehr als hundert Sklaven. Jefferson war es im Übrigen gewesen, aus dessen Feder die «all men are created equal»-Formel geflossen war.

4. Gesetzgebung und Rechtsprechung nach Unionsgründung folgten der Logik des Paktes. Je nachdem, ob die Sklavereifrage tangiert war oder nicht, war der eine oder andere Standard anwendbar. Als eine der ersten Handlungen wurde 1793 die Beihilfe zur Sklavenflucht kriminalisiert. Das Fundament der Union sollte nicht durch Gewissensakte Einzelner gefährdet werden. Ein Stolperstein stellte eine Weile lang die Frage des Beitritts neuer Territorien zur Union dar: Sollte Sklaverei hier zulässig sein oder nicht? 1818 einigte man sich auf eine Lösung im Sinne des Paktes - im so genannten Missouri-Kompromiss. Es sollte auch hier ein Gleichgewicht zwischen Sklavenhalter- und sklavereifreien Staaten erreicht werden. Die Sklaverei geriet in der Folge dennoch immer stärker unter Druck. Fluchten häuften sich, das moralische Unbehagen nahm zu. 1850 reagierte man darauf mit einer Verschärfung des slave catcher-Regimes. Ein flüchtender Schwarzer sollte im Zweifelfall als Sklave gelten. Das stand zwar so nicht im Gesetz; die Richter erhielten jedoch doppelt so viel Geld, wenn sie in Statusprozessen für den Sklavenstatus entschieden.

Auch das berüchtigtste Supreme Court-Urteil dieser Periode war ein Anwendungsfall des Staatsgründungspaktes. Ein Sklave aus Missouri mit Namen Dred Scott war mit seinem Master nach Wisconsin und Illinois gezogen. Sklaverei war hier verboten. Nach der Rückkehr nach Missouri verlangte er -wegen des langen Aufenthalts in sklavereifreien Gebieten - seine Freiheit. Er berief sich dabei auf die Grundrechte. Der Supreme Court sprach ihm 1856 das Recht ab, seine Klage auf diese zu stützen. Sie stünden, so das Gericht, nur US-Bürgern zu; Personen afrikanischer Abstammung - Sklaven und Freie - könnten nie US-Bürger werden. Das Urteil gilt als das Skandalurteil des Supreme Courts schlechthin. Diese Etikette ist jedoch etwas ahistorisch. Damals wurde das Urteil eher als Versuch wahrgenommen, den brüchig gewordenen Gründungskonsens zu retten. Der sittliche Preis für den Pakt wurde jedoch immer mehr als zu hoch empfunden. 1852 erschien das Sklavereidrama «Uncle Tom's Cabin» von Harriet Beecher Stowe, das auf Anhieb zum Beststeller und schliesslich zum meistverkauften amerikanischen Roman des 19. Jahrhunderts wurde. Immer deutlicher zeigte sich, dass Amerika auf eine Illusion gebaut hatte: dass eine Nation auch dann dauerhaft als Demokratie existieren könne, wenn sie in einer für ihr moralisches Selbstverständnis existentiellen Frage zutiefst gespalten sei. Der Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 entschied die Frage - mit Gewalt. Die Sklaverei wurde abgeschafft.

5. Es folgte - nach dem Bürgerkrieg - ein weiteres Jahrhundert rassistischer Verfassungskultur. Die Gewohnheit der doppelten Standards lebte fort, passte sich dem neuen Verfassungsrahmen an. Schwarze erhielten zwar Bürgerrecht und Gleichheitsgarantie, diese sicherten jedoch nur eine Art Minimalstandard - keineswegs Gleichstellung im üblichen Wortsinn und schon gar nicht Chancengleichheit. Das Bürgerrecht wurde unterlaufen, indem vielerorts Alphabetismus-Tests eingeführt wurden - um den Schwarzen das Stimmrecht zu entziehen. Die Gleichbehandlungsgarantie wurde ausgehöhlt, indem Rassensegregation betrieben wurde - in Schulen, öffentlichen Einrichtungen, Verkehrsmitteln. Die Justiz schütze diese Politik. Sie erklärte sie in unzähligen Fällen für verfassungskonform. Erst ab 1954 begann der Supreme Court, die «separate, but equal»-Politik schrittweise zu verbieten. Im Fall der Mischehenverbote - wie wir wissen - dauerte es noch bis 1967. Den Umschwung hatten vor allem zwei Faktoren gebracht: die Rolle der mehr als einer Million Afro-Amerikaner in der US-Amee im Zweiten Weltkrieg sowie der verstärkte Aktivismus von Bürgerrechtsorganisationen ab den frühen 1950er-Jahren.

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Verfassungsrechtlich stellt sich die Rassenfrage seit 1967 mit umgekehrten Vorzeichen: Dürfen Schwarze zur Wiedergutmachung vergangenen Unrechts privilegiert werden? Verstösst dies allenfalls ebenfalls gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz? Klassisch stellt sich dieses Problem beim Zugang zu Universitäten, wo Chancen und Vorbildrollen verteilt werden. Der Supreme Court lässt Privilegierungen - innerhalb eng gesteckter Grenzen - zu: sofern sie nicht schematisch erfolgen, durch starre Quoten etwa, und einem starken öffentlichen Bedürfnis entsprechen, beispielsweise an einer vielfältig zusammengesetzten Studentenschaft. Es muss Raum für die Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles bestehen. Das düstere Erbe der Sklaverei ist - zumindest verfassungsrechtlich - überwunden.

6. Januar 2008: Ich reise in eine kleine Stadt an der amerikanischen Ostküste, um ein halbes Jahr an der dortigen Universität zu verbringen. Der Empfang ist herzlich und grosszügig; ganz nebenbei wird mir von verschiedener Seite empfohlen, nach Einbruch der Dunkelheit - im Winter heisst das: mehr oder weniger immer, wenn man nicht arbeitet - nicht alleine in die Stadt zu gehen. Es gebe deshalb universitätseigene Shuttledienste, die einen überall hinbringen. Nach ein paar Tagen wird mir klar: Die Gefahr, die es zu meiden gilt, hat eine Hautfarbe: schwarz. Fast alle Übergriffe gehen auf das Konto von Schwarzen, über die wir regelmässig via e-mail orientiert werden: Bedrohung mit Schusswaffen,

Raub, Vergewaltigungsversuche, Körperverletzungen. Auch das Wort Privilegierung hat in der Stadt eine Hautfarbe - vielleicht auch zwei: weiss, natürlich, und allenfalls gelb. Schwarze Studenten gibt es kaum. Nur beim Sicherheitspersonal sieht man viele schwarze Gesichter: muskelbepackte Männer mit breiten Schultern. Es stimmt etwas nicht, ist mein ständiges Gefühl während der ersten Tage.

Ich gewöhne mich bald an beides: das Bild der weissen Universitätsgemeinde, in der ich mich wohlfühle, und das mulmige Gefühl auf dem Fussweg nach Hause. Nach Gefahren Ausschau halten heisst primär: nach Schwarzen Ausschau halten. Eines Nachts - es ist kurz nach Mitternacht - kommen mir auf einer menschenleeren Strasse zwei Schwarze entgegen, mit hochgezogenen Kapuzen und tief sitzenden Hosen. Sie kommen schnellen Schrittes auf mich zu, rufen mir etwas entgegen. Ohne nachzudenken drehe ich um, renne auf Seitenstrassen nach Hause. Im Hauseingang angekommen, frage ich mich: Wäre ich losgerannt, wenn es Weisse gewesen wären? Ich weiss es nicht, vermutlich nicht. Was - überlege ich weiter - wenn mich die beiden nur etwas fragen wollten oder einfach angeheitert waren? Es spielt keine Rolle. Sie wissen, weshalb ich losgerannt bin.■

NOTE

«Almighty God created the races [...] and placed them on separate continents [...] The fact [...] shows that he did not intend for the races to mix.»

Lábjegyzetek:

[1] Der Autor ist Prof. Dr. iur., LL.M. (Cambridge) Andrássy University Budapest

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