Zwar klingt die Frage zunächst von akademischer Natur, doch ist sie auch eine praktische, die in den letzten Jahren zweimal beantwortet werden musste: einmal war das litauische[1] und das andere Mal das italienische Verfassungsgericht[2] die vorlegende Instanz. In beiden Fällen versuchte die Generalanwältin Kokott die Zuständigkeit des EuGH zu begründen und in beiden Fällen wurde diese Frage in dem Urteil nicht beantwortet. Die Antworten sind aus ungarischer Sicht auch von besonderer Bedeutung, da das ungarische Verfassungsgericht sich grundsätzlich mit Normenkontrollverfahren und in überwiegender Zahl mit abstrakten Normenkontrollverfahren beschäftigt, und die überwiegende Meinung die Vorlageberechtigung bisher ablehnte.
In diesem Beitrag wird zuerst die Lehre über die Vorlageberechtigung der Verfassungsgerichte kritisch dargestellt (I.), dann wird die Frage im Rahmen der bisherigen Praxis präsentiert (II.), und eine eigene These entwickelt (III.), um im Lichte dieser These die neuere Praxis des EuGH zu analysieren (IV.).
In der Literatur wird vorwiegend die These vertreten,[3] dass der genuin unionsrechtliche Gerichtsbegriff im Sinne des Art. 267 AEU auch die Verfassungsgerichte umfasst. Diese Meinung stützt sich einerseits auf EuGH-Entscheidungen, die aufgrund einer Vorlage von einem Verfassungsgericht erlassen worden sind (und die die Zulässigkeit der Vorlagefrage zumindest konkludent bestätigt haben sollten), und andererseits auf Entscheidungen nationaler Verfassungsge-
- 193/194 -
richte, in denen diese ihre Vorlageberechtigung zumindest in abstracto anerkannt haben. So wird diesbezüglich die Vorlagepraxis des österreichischen Verfassungsgerichts sehr oft und ebenso sehr lobend referiert, zudem wird sehr oft die Solange-I Entscheidung des BVerfG genannt, nach der Art. 267 AEU auch für das Bundesverfassungsgericht verbindlich sei.
Die Argumentation lautet - etwas vereinfacht -, wie folgt: einzelne Verfassungsgerichte haben schon eine Frage vorgelegt, oder die Vorlageberechtigung anerkannt, weshalb also die Verfassungsgerichte als solche - also alle - Fragen bei dem EuGH vorlegen können. Diese verbreitete These beruht auf einer sehr groben Vereinfachung und ebenso oft auf einem nationalen Rechtsverständnis. Deshalb ist sie im Ergebnis unzutreffend.
Die Argumentation ist ein typisches Beispiel der Rosinenpickerei. Es wird einerseits kaum beachtet, dass einige andere Gerichte (z.B. lange Zeit der italienische Corte Constituzionale) sich nicht als ein Gericht im Sinne des Art. 267 AEU profilierten. Anderseits werden die obersten Gerichte in der Argumentation oft mit den Verfassungsgerichten vermischt, wobei z.B. die Unterstützung der These über die Vorlageberechtigung mit der Tätigkeit des House of Lords sehr wackelig scheint. Drittens, hat das BVerfG in der viel zitierten Entscheidung auch nicht eindeutig entschieden in welcher konkreten Verfahrensart - in welcher seiner Zuständigkeiten - es sich als Unionsgericht auffasst. Es wurde nur generell bestätigt, dass Art. 267 AEU anwendbar sein kann.
Es ist jedoch eine weitere Frage, ob diese Vorschrift in einem konkreten Verfahren wirklich einschlägig ist. Dies hängt wiederum davon ab, ob die Charakteristika des konkreten Verfahrens die im Art. 267 AEU gestellten Bedingungen erfüllen oder nicht. Wie das BVerfG an einer anderen Stelle[4] selbst ausführte, werde der Begriff der rechtsprechenden Gewalt maßgeblich von der konkreten sachlichen Tätigkeit her (und somit materiell) bestimmt. Das skizzierte Problem ist auch im deutschen Schadensrecht bekannt. § 839 Abs. 2 BGB kennt das Spruchrichterprivileg, welches sich auf alle richterlichen Entscheidungen erstreckt, die "ihrem Wesen nach Urteile sind", nicht aber auf die bloß nur von einem Gericht ausgeübte Tätigkeit. Maßgeblich ist hier wiederum nicht die Form, sondern eher die Rechtskraftfähigkeit der Entscheidung, d.h. die Fähigkeit für die Instanz das Prozessrechtsverhältnis endgültig zu beenden.
Was oft nicht beachtet wird ist, dass ein Verfassungsgericht mehrere Arten von Kompetenzen innehat, und nicht alle seine Kompetenzen ein vorlageberechtigtes Gericht konstituieren. Ein Verfassungsgericht ist manchmal (in manchen Rechtsordnungen) als oberstes Gericht tätig, es kann Staatsgericht (Kompetenzgericht in einem Organstreitverfahren, Impeachment) sein, und es kann
- 194/195 -
auch ausschließlicher Inhaber einer Normverwerfungskompetenz sein. Hinsichtlich dieser Vielfältigkeit ist es wichtig nachzufragen, in welcher genauen Zuständigkeit ein Gericht die Frage vorlegen darf. Wenn man schon mit der Praxis argumentiert, ist es ebenso wichtig nachzufragen, im Rahmen welcher Zuständigkeit ein Verfassungsgericht in den zitierten Entscheidungen die Frage vor dem EuGH vorgelegt hat: War es tatsächlich ein "Gericht" im unionsrechtlichen funktionalen Sinne (also im Sinne des Art. 267 AEU), oder übte es nur eine bloße Richter- oder Gerichtstätigkeit im formalen Sinne aus, schlichtete jedoch keine Rechtstreitigkeit. Es ist wichtig diesen Aspekt vor Auge zu haben, denn der europarechtliche Begriff des Gerichts verweist weder auf das innerstaatliche Recht noch auf den Sprachgebrauch der Mitgliedstaaten.
Hier lohnt es sich einen Blick auf die viel zitierte Praxis des österreichischen Verfassungsgerichtshofs zu werfen. Seine Praxis spielt wegen der relativ hohen Zahl der Vorlagefragen eine große Rolle und dient als Musterbeispiel des Kooperationsverhältnisses zwischen der nationalen und der europäischen Ebene. Es wird jedoch nicht so oft referiert, wie sorgfältig er in seinen Vorlagebeschlüssen prüft, ob die Voraussetzungen einer Vorlage erfüllt sind. Bisher war der Verfassungsgerichtshof nur in konkret individuellen Streitigkeiten im Rahmen der sog. Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit und der Wahlgerichtsbarkeit der Meinung, dass die Vorlagevoraussetzungen erfüllt sind. Themen der Vorlagebeschlüsse waren:
Anfechtung einer Arbeiterkammerwahl (Wahlprüfung),[5] Meinungsverschiedenheit zwischen dem Rechnungshof und einem bestimmten öffentlich rechtlichen Rechtsträger (Staatsgericht),[6] Streitigkeiten betreffend die Rechtsmäßigkeit einer Beihilfe (wo der Verfassungsgerichtshof also materiell als Verwaltungsgericht tätig war, im österreichischen Jargon: besondere Verwaltungsgerichtsbarkeit).[7]
- 195/196 -
Die Normverwerfung - das eigentliche Wesensmerkmal der Verfassungsgerichtsbarkeit - betrafen diese Vorlagen nicht. Sie werden es auch in der Zukunft nicht tun, da ein Verstoß gegen das Europarecht für den Wiener Verwaltungsgerichtshof kein Grund für eine Normenverwerfung ist, weder für eine konkrete noch für eine abstrakte. Diese Fakten untergraben damit die These über das bestehende Kooperationsverhältnis. Die Frage, ob ein eine Normenkontrolle ausübendes Gericht auch als ein Gericht im unionalen Sinne gilt, ist also weiterhin offen.
Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH muss ein Spruchkörper gewisse Eigenschaften aufzeigen, um sich als Gericht im Sinne von Art. 267 AEU (also als Unionsgericht) qualifizieren zu dürfen. Wie gesagt, eine bloße innerstaatliche Anerkennung der Gerichtseigenschaft, geschweige denn die Benennung als Gericht, reicht nicht aus. Dementsprechend wurde die Gerichtseigenschaft der Registergerichte im Hinblick auf den mangelnden Rechtsprechungscharakter verneint.[8] Die Gerichtsqualität eines deutschen und eines österreichischen Vergabeüberwachungsausschusses bzw. eines finnischen Beschwerdeausschusses für ländliche Erwerbstätigkeiten wurde trotz der nichtgerichtlichen Namen dieser Gremien, wegen ihrer gerichtsähnlichen Ausgestaltung anerkannt. Ein Gericht im unionsrechtlichen Sinne muss nämlich auf gesetzlicher Grundlage eingerichtet sein, seine Gerichtsbarkeit muss einen ständigen und obligatorischen Charakter haben, und muss einen Rechtsstreit auf der Grundlage eines rechtsstaatlich geordneten Verfahrens in richterlicher Unabhängigkeit rechtskräftig entscheiden können.
Ein normverwerfendes Verfassungsgericht erfüllt zwar viele dieser Kriterien, jedoch nicht alle: was fehlt, ist die tatsächliche Rechtsprechung, die tatsächliche Schlichtung eines konkreten Rechtstreites. Ein Normenkontrollverfahren, -wie Hans Kelsen schon auf der Staatsrechtslehrertagung 1928 ausführte - ist nämlich eine (negative) legislative Tätigkeit, da über die Gültigkeit einer Norm entschieden wird, und nur die gerichtsförmige Ausgestaltung des Verfahrens macht einen Unterschied zur Legislative durch das Parlament. In abstrakten Normenkontrollverfahren ist jedoch das Verfahren am wenigsten gerichtsförmig, da eben der streitige Charakter des Verfahrens fehlt. Das Verfahren läuft nämlich ohne Rücksicht auf einen konkreten Rechtsstreit ab. Genau deswegen ist ein abstraktes Normenkontrollverfahren kein Gerichtsverfahren im Sinne des Art. 6 EMRK, und eben deswegen gilt das Gericht nicht als Tribunal.
- 196/197 -
Diese sind zumindest starke Indizien - oder prima facie Beweise - dafür, dass vor dem Verfassungsgericht kein echter Rechtsstreit abläuft, und dafür, dass man von keiner Rechtsprechung im eigentlichen Sinne sprechen kann. Deshalb wird in der ungarischen Literatur überwiegend vertreten, dass das ungarische Verfassungsgericht eigentlich kein Gericht im Sinne des Art. 267 AEU sei. Die Frage ist also, wie wichtig der streitige Charakter des Verfahrens ist.
Schon im Urteil in der Rechtssache Politi[9] wurde festgestellt, dass der EuGH auch dann angerufen werden kann, wenn es an einem streitigen Verfahren fehle. Im konkreten Fall vor dem Tribunale Turin lief das besondere Verfahren ohne Anhörung der Gegenpartei, allein aufgrund des Vorbringens des Antragstellers ab. In diesem Verfahren gab es also eine Gegenpartei, die aber nicht angehört wurde. Wie Generalanwalt Darmon in der Rechtssache Corbiau[10] ausführte, wird das Fehlen eines streitigen Verfahrens im Rahmen summarischer Verfahren, in denen der Beklagte nicht erscheint, durch die vollständige Unparteilichkeit des Richters und durch seine Unabhängigkeit gegenüber den Parteien des Verfahrens, sowie in Bezug auf den Rechtsstreit, ausgeglichen. Im Urteil in der Rechtssache Pretore di Salò[11] wurde die Vorlageberechtigung einer sowohl staatsanwaltliche als auch ermittlungsrichterliche Funktionen ausübenden Behörde anerkannt, vor der ebenfalls nur die eine Partei erschien, in diesem Sinne also der streitige Charakter fehlte.
Diese Entscheidungen zeigen, dass es eigentlich nicht darauf ankommt, ob in einer bestimmten Phase des Verfahrens beide Parteien mit der gleichen Intensität von ihren Verfahrensrechten Gebrauch machen, oder im Verfahren gleichermaßen aktiv beteiligt sind, jedoch gibt es in beiden Fällen - zumindest im Hintergrund - ein gewisses persönliches Substrat. Die Streitigkeit soll konkrete individuelle Rechte oder Interessen berühren. Das Verfahren läuft in diesem Rahmen ab, auch wenn nicht unter der gleichmäßig aktiven Teilnahme der beiden Parteien. Solange also ein Verfahren ein Mindestmaß an persönlichem Substrat beinhaltet, kann man von einem Rechtsstreit und damit von einem Gericht im Sinne von Art. 267 AEU sprechen. Dasselbe folgt auch aus der Lehre, wenn man nach dem Wesen der Rechtsprechung fragt: es wird meist mit einer aus konkreten individuellen Interessen geführten Streitigkeit konnotiert, die individuelle Rechtspositionen der Beteiligten zumindest potentiell gestalten oder verändern kann.
- 197/198 -
Der Anwendungsbereich des schon angesprochenen Art. 6 EMRK ist auch nur dann eröffnet, wenn ein Streit tatsächlich besteht und ernsthaft ist, d.h. das Ergebnis des Verfahrens unmittelbar für das Recht entscheidend ist (EGMR, st. Rspr., vgl. v. 29.07.98, Slg. 1998-V, S. 1899 Nr. 56 - Le Calvez/Frankreich). Weitläufige Verbindungen und entfernte Auswirkungen reichen nicht aus, um Art. 6 anwendbar zu machen.[12] Art. 6 EMRR gilt für Verfahren vor Verfassungsgerichten nur dann, wenn das Ergebnis für den Ausgang des Rechtsstreits über zivilrechtliche Ansprüche entscheidend sein kann.[13] Deswegen liegt eine unmittelbare Einwirkung bei Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO vor, wenn sich ein Eigentümer gegen eine Festsetzung in einem Bebauungsplan wendet, der unmittelbar sein Grundstück betrifft,[14] dagegen liegt sie nicht vor, wenn sich Gemeinden auf eine Verletzung ihrer Planungshoheit berufen.[15]
So betrachtet kommt es sowohl in der Literatur als auch in der Praxis darauf an, ob das Verfahren als Ganzes individuelle Rechte oder Interessen schützt oder nicht, also ein gewisses persönliches Substrat innehat. Sicher ist dies nicht der Fall in sog. actio popularis Verfahren, wo der Antragsteller praktisch "im Namen von Hans Kelsen" zur Bewahrung der Stufenbauordnung oder aus Langeweile das Verfahren einleitet, wo er also kein wahres eigenes Interesse an dem Ausgang des Verfahrens hat. Ebenso ist das nicht der Fall in einem präventiven Normenkontrollverfahren vor dem Inkrafttreten einer Norm, die Vorschrift also noch niemanden berührt, und wo es noch keinen wahren Antragsgegner gibt.
Das Ergebnis lautet aber anders, wenn das Verfahren die individuelle Rechtsposition ändern kann: das ist der Fall bei Verfassungsbeschwerden oder bei Richtervorlagen. Falls die Verfassungsbeschwerde oder die Richtervorlage erfolgreich ist, ist die in Frage stehende Norm in dem Verfahren nicht mehr anzuwenden, und dementsprechend hat die Entscheidung des Verfassungsgerichts einen entscheidenden Einfluss auf die Rechtsposition des Einzelnen. Man könnte also zum Schluss kommen, dass die Vorlageberechtigung in einem Verfahren ohne das erwünschte persönliche Substrat zu verneinen ist.
- 198/199 -
Die praktischen Fälle laufen auf ein anderes - dogmatisch jedoch fragwürdiges - Ergebnis hinaus, als die hier entwickelte These. In der vom Staatsgerichtshof des Landes Hessen vorgelegten Rechtssache Georg Badeck u.a.[16] handelte es sich um ein Normenkontrollverfahren, welches vierzig Abgeordnete des Hessischen Landtags angestrengt haben, um die Unvereinbarkeit des Gesetzes mit der Verfassung des Landes Hessen feststellen zu lassen. Weder das EuGH noch der GA haben Stellung dazu genommen, ob der Staatsgerichtshof wirklich ein Gericht ist. In der Literatur wurde auch nur die Notwendigkeit der Vorlagefrage, nicht aber die Gerichtsqualität des hessischen Staatsgerichtshofes kritisch betrachtet.[17]
In einem jüngeren, vom Verfassungsgericht der Republik Litauen vorgelegten Fall - Julius Sabatauskas u. a. - ging es wieder um ein Normenkontrollverfahren, welches eine Gruppe von Abgeordneten des Seimas (litauisches Parlament) beantragt hat. Der EuGH hat sich zwar zur Zulässigkeit (zur Vorlageberechtigung) wieder nicht geäußert, jedoch hat die Generalanwältin Juliane Kokott in ihrem Schlussantrag Stellung dazu genommen und die Vorlageberechtigung bejaht.
Sie führt aus, "dass die nationalen Gerichte den Gerichtshof nur anrufen können, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt. (15.)" Soweit ist noch zuzustimmen. Nach der GAin bestehe kein Zweifel an der Gerichtsqualität des Konstitucinis Teismas, da auch Verfassungsgerichte unter den Begriff des Gerichts im Sinne des Art. 267 AEU fallen. Um diese These zu unterstützen, beruft sich Frau Kokott auf zwei Vorlagefragen:
• auf eine des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, die - wie früher erwähnt wurde - in einer konkreten Streitigkeit und nicht in einem Normenkontrollverfahren vorgelegt wurde;
• und eine andere der belgischen Cour d'Arbitrage (nunmehr Cour Constitutionnelle), die in einer Streitigkeit zwischen der Regierung der Französischen Gemeinschaft und der wallonischen Regierung auf der einen und der flämischen Regierung auf der anderen Seite vorgelegt wurde, was auch kein Normenkontrollverfahren, sondern eine Kompetenzstreitigkeit war.
- 199/200 -
Diese Fälle können nicht als Präzedenzen dienen, da es in diesen Fällen nicht um ein Normenkontrollverfahren ging.
GAin Kokott führte jedoch weiter aus, der Konstitucinis Teismas sei im Ausgangsrechtsstreit auch berufen, eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter zu treffen. Dafür komme es nicht darauf an, ob das Normenkontrollverfahren auf Antrag einer Gruppe von Abgeordneten des Seimas streitigen Charakter habe. Es hat nämlich keinen, da nicht einmal das minimalste Maß des notwendigen persönlichen Substrats vorzufinden ist. Nach GAin Kokott sei vielmehr wichtig zum einen, dass das Verfahren kein Verwaltungsverfahren sei, in dem sich der Einzelne und das Gericht in der Funktion einer Behörde gegenüberstehen. Und zum anderen dürfe das Gericht nicht als rein beratendes Gremium tätig werden. Frau Kokott führt aus, dass das Ausgangsverfahren auf die Überprüfung eines bereits in Kraft getretenen Gesetzes gerichtet sei. Es handele sich also nicht um eine Anhörung des Verfassungsgerichts während des Gesetzgebungsverfahrens. In dem Normenkontrollverfahren sei das Verfassungsgericht vielmehr befugt, das innerstaatliche Gesetz mit Wirkung erga omnes für unanwendbar zu erklären, wie das Gericht im Vorabentscheidungsersuchen erläutert.
Was folgt daraus für unsere ursprüngliche Frage? Die Antwort ist: Verfassungsgerichte sind vorlageberechtigt auch im abstrakten Normenkontrollverfahren. Was nicht zulässig ist: Verwaltungsaufgaben und rein beratende Tätigkeit (z.B. abstrakte Verfassungsauslegung ohne Normenkontrollverfahren). Der streitige Charakter ist nicht (mehr) notwendig. Stattdessen reicht eine erga omnes Wirkung der Entscheidung aus. Die erga omnes Wirkung ist aber keinesfalls eine Rechtswirkung der Streitbeilegung, die nur unabhängige Gerichte herbeiführen können. Im Gegensatz zu den klassischen Gerichtsurteilen wird eben nicht entschieden, was im konkreten Fall rechtens ist, sondern abstrakt, allgemein und ohne jegliche Verbindung zur Rechtsstellung des Antragstellers die Rechtslage festgestellt bzw. gestaltet. Keine der Wesensmerkmale der Rechtsprechung im materiellen oder im funktionellen Sinne sind in den Ausführungen von GAin Kokott vorzufinden. Die rechtsdogmatische Begründung ist durchaus zweifelhaft; der frühere gut handhabbare Rahmen wurde so sehr ausgedehnt, dass er kaum mehr fassbar ist.
Was aber nicht mit der traditionellen Rechtsdogmatik zu erklären ist, kann rechtspolitisch oder teleologisch einen Sinn haben. Eben darauf wies GAin Kokott in der Rechtssache C-169/08 (Italienische Regierung gegen Region Sardinien) hin, als sie betonte, dass das Vorabentscheidungsersuchen einen Wendepunkt in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofs darstelle. Da dieser bislang seine Eigenschaft als Gericht im Sinne von
- 200/201 -
Art. 267 AEU verneint habe, so reiht er sich nunmehr in den Kreis der nationalen Verfassungsgerichte ein, die in einem aktiven Kooperationsverhältnis mit dem Gerichtshof stehen. Nur als Fußnote verweist sie auf die Praxis -unter anderen auf das Vorlageersuchen des litauischen Verfassungsgerichts -zur Begründung der Zulässigkeit, eher betont sie damit den politischen Charakter des Ersuchens.
Was ist dieser politische Charakter? Statt des langwierigen Vertragsverletzungsverfahrens, welches sogar eine direkte Auseinandersetzung mit der involvierten Regierung nach sich zieht und deshalb politisch sehr sensibel sein kann, ist die Vorabentscheidung schneller, weniger politisiert, und im Hinblick auf die innerstaatlichen Verwerfungskompetenzen der Verfassungsgerichte hat sie ein wesentlich kräftigeres Durchsetzungspotenzial. Somit folgt die Begründung der Zulässigkeit eher einer Logik des effet utile.
Ein Urteil des EuGH ist immer nur eine bloße Feststellung der Vertragsverletzung, welches inhaltlich sogar durch die Verurteilung zur Zahlung eines Pauschalbetrages oder eines Zwangsgeldes (Art. 260 AEU) schwer zu erzwingen ist, da diese gemäß Art. 280 ivM. 299 AEU nicht vollstreckbar sind. Ein von einem Verfassungsgericht erlassenes Urteil macht aber das in Frage stehende Gesetz nichtig und damit ist das Problem vom Tisch. Um dieses Durchsetzungspotential zu erreichen, ist der EuGH bereit, sich über dogmatische Skrupel hinwegzusetzen, und die Vorlageberechtigung anzuerkennen. Diese dogmatisch fragliche Öffnung der Gerichtsbarkeit den Verfassungsgerichten gegenüber ist aber kein Geschenk: der Verzicht auf die Inanspruchnahme wird im Hinblick auf die Köbler-Rspr. weitgehend sanktioniert. Die Frage ist, ob diese Möglichkeit die Kooperationsbereitschaft[18] eher fördert oder ihr eher schadet. Es ist fraglich, ob es sich lohnt sich auf dieses Risikogeschäft dort einzulassen, wo kein individuelles Rechtsgut auf dem Spiel steht.
Es lohnt sich noch einen Satz über den Lissabonner Vertrag zu sagen: Nach Artikel 19 EUV haben die Mitgliedstaaten die Pflicht, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Die Zulässigkeit der abstrakten Normenkontrolle ist auch in dieser Hinsicht nicht begründet, da sie eben keinem individuellen Interesse dient und in dem Sinne nicht als Rechtsschutz aufzufassen ist.
- 201/202 -
1. Die Literatur hat voreilig der Vorlageberechtigung der Verfassungsgerichte im Allgemeinen zugestimmt, ohne die Einzelheiten der konkreten Verfahren unter die Lupe zu nehmen.
2. Nach der korrekten Auslegung des Begriffs des urteilfällenden Gerichts in Art. 267 AEU sollte man in abstrakten Normenkontrollverfahren, die das Hauptgeschäft des ungarischen Verfassungsgerichts ausmachen, von keinem vorlageberechtigten Gericht sprechen. Die Vorlageberechtigung sollte auf die Verfahren beschränkt sein, die ein gewisses persönliches Substrat haben.
Die neue Rechtsprechung des EuGH tendiert in eine dogmatisch fragwürdige Richtung, die die Vorlageberechtigung aus rechtspolitischen Gründen bejaht. Der nächste Schritt in diesem Spiel könnte die Sanktionierung der Nichtvorlage sein, mit fraglicher Nützlichkeit für die Kooperation zwischen nationaler und unionaler Verfassungsgerichtsbarkeit. ■
ANMERKUNGEN
* Der Beitrag ist während eines Forschungsaufenthaltes am Max-Planck Institut für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht entstanden. Besonderer Dank gilt Prof. Dr. Armin von Bogdandy, Dr. Jürgen Bast, Christian Wohlfahrt und Dr. András Jakab.
[1] Urteil des EuGH vom 9. Oktober 2008, in der Rechtssache C-239/07 Julius Sabatauskas u. a.
[2] Urteil des EuGH vom 17. November 2009 in der Rechtssache C-169/08 Presidente del Consiglio dei Ministri gegen Regione Sardegna.
[3] Vgl. nur Charlotte Gaitanides, In: von der Groeben/Schwarze - Kommentar zum EU/EG-Vertrag - 6. Auflage 2003, Art. 234, Rn. 43.: "Vorlageberechtigt sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes die Einrichtungen, die nach dem jeweiligen nationalen Recht als "Gerichte", d.h. als unabhängige staatliche Instanzen zur Streit- und Sachentscheidung anerkannt sind. Das umfasst auch die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten."
[4] BVerfGE 103, 111, 137.
[5] Urteil des EuGH vom 8. Mai 2003 in der Rechtssache C-171/01, Wählergruppe "Gemeinsam Zajedno/Birlikte Alternative und Grüne Gewerkschafterinnen/UG", der Vorlagebeschluss ist erreichbar unter: http://www.vfgh.gv.at/cms/vfgh-site/attachments/2/0/5/CH0007/CMS1113312165439/w_i-14-17-99.pdf.
[6] Urteil des EuGH vom 20. Mai 2003, in den verbundenen Rechtssachen C-465/00, C-138/01 und C-139/01, Rechnungshof (C-465/00) gegen Österreichischer Rundfunk und andere und Christa Neukomm (C-138/01) und Joseph Lauermann (C-139/01) gegen Österreichischer Rundfunk., der Vorlagebeschluss ist erreichbar unter: http://www.vfgh.gv.at/cms/vfgh-site/attachments/4/4/5/CH0007/CMS1113226398381/kr1-6-8-00.pdf.
[7] Urteil des EuGH vom 8. November 2001, in der Rechtssache C-143/99 Adria-Wien Pipeline GmbH und Wietersdorfer & Peggauer Zementwerke GmbH gegen Finanzlandesdirektion für Kärnten, er Vorlagebeschluss ist erreichbar unter: http://www.vfgh.gv.at/cms/vfgh-site/attachments/4/5/1/CH0007/CMS1115813166669/b2251-97.pdf.
[8] Job Centre - C-111/94 - Slg. 1995, I-3361; Salzmann - C-178/99, Slg. 2001, I-4421; Lutz, C-182/ 00, Slg. 2002, I-547.
[9] Rs. 43/71, Urteil des Gerichtshofes vom 14. Dezember 1971, Politi s.a.s. gegen Finanzministerium der Italienischen Republik.
[10] Rs. 24/92, Urteil des Gerichtshofes vom 30. März 1993, Pierre Corbiau gegen Administration des contributions.
[11] Rs. 14/86, Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 11. Juni 1987, Pretore di Salo gegen X.
[12] EGMR v. 06.04.00, 27644/95 Nr. 4S, Slg. 00-IV- Athanassoglou/Schweiz.
[13] EGMR v. 25.02.00, 29S57/95, NJW 2001, 211 - Gast u. Popp/Deutschland; EGMR v. 27.07.00, SSS79/96, NJW 2001, 313 - Klein/Deutschland; EGMR v. 8.1.04, 47169/99, NJW 2005, 41 - Voggenreiter/Deutschland.
[14] BVerwG, NVwZ 2002, S. 87, 88.
[15] BVerwG, NJW 2003, S. 2039.
[16] Rechtssache C-158/97, Urteil des Gerichtshofes vom 28. März 2000, Georg Badeck u.a., Beteiligte: Hessischer Ministerpräsident und Landesanwalt beim Staatsgerichtshof des Landes Hessen.
[17] Wolfram Cremer: Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 177 EGV und mitgliedstaatliche Verfassungsgerichtsbarkeit - Zum Verhältnis von gemeinschaftsrechtlicher Vorlagepflicht und abstrakter Normenkontrolle, BayVBl 1999, S. 266-270.
[18] BVerfGE 89, l55, l75.
Visszaugrás